Dienstag, 31. Dezember 2013

Kommentar 26 - Für die Helenisierung der Neuen Musik oder Was wir vom Schlager lernen können

Es ist so einfach, sich über Schlager lustig zu machen. Viel zu einfach. Noch viel einfacher, als Herrn Müller von nebenan Neue-Markt-Aktien anzudrehen (für die Jüngeren: der Neue Markt war Anfang des Jahrtausends 'ne super Möglichkeit, Geld loszuwerden, wenn man zu faul war, die Scheine in einem Mülleimer selbst anzuzünden). Auf jeden Fall sind Schlagertexte saudoof, die Musik ist, naja, noch dööfer, die Arrangements klingen immer wie jahrelang fermentierter Fisch aus der Dose, die Sängerinnen sehen immer aus wie Eigenheimbesitzerinnen, die abends 40 Kilometer zur nächsten Disko mit Schaumparty fahren und sich dafür extra neuen Kajal vom Kik geholt haben, und überhaupt sind Leute, die sowas hören, entweder auch saudoof oder noch dööfer. Damit hätte ich also schonmal ganz klar gemacht, dass dieser ganze Schrott total unter meiner Würde ist und dass also meine Würde viel größer ist als die der ganzen Idioten netten Menschen, die einen Haufen Geld für Konzertkarten und CDs von Andrea Berg, Helene Fischer und Andreas Gabalier rauswerfen.
Aber warum, warum nur hören so viele Leute Schlager. Was geben ihnen die ewiggleichen Klischeetexte von Herzschmerz und Sehnsucht, warum kennen sie jede Liedzeile auswendig, warum fängt bei ihnen die Hüfte an zu wackeln, wenn das MIDI-Schlagzeug loslegt? Schlager ist insofern nochmal was anderes als "normaler" Pop (im Übrigen eine Unterscheidung, auf die die Hörer von Popmusik sehr großen Wert legen, die aber weder textlich noch musikalisch ausreichend begründet oder auch begründbar ist), als dass Schlagerhörer unheimlich treue Fans sind. Jahre-, ja jahrzehntelang folgen sie ihrem Star, reisen ihm nach, johlen, klatschen und schunkeln bei jedem Konzert, kaufen jede neue CD, lesen jedes Fitzelchen Homestory in der Echo der Frau, verteidigen ihn mit erbitterter Entschlossenheit gegen gehässige Youtube-Kommentare. Das Pop-Business ist da wesentlich kurzlebiger, schnellwechsliger. Was natürlich auch daran liegt, dass eine wie auch immer geartete Entwicklung des "Künstlers" im Schlager ausgeschlossen ist. Von vorneherein. Sie ist ganz einfach nicht vorgesehen. Ein Lied der Flippers von vor zwanzig Jahren klingt mehr oder weniger genauso wie eines von letztem Jahr. Ein Lied von Andrea Berg wird auch in zwanzig Jahren noch genauso klingen wie heute. Würde es das nicht, wäre es ganz einfach kein Schlager mehr. Die Genregrenzen sind sehr eng gesteckt. Und die Subgenres sind ganz klar aufgeteilt und zugeordnet. Es gibt den Schmachter für die Älteren (Semino Rossi), den "Rockigen" für die etwas Jüngeren (Andreas Gabalier), die "Verruchte" für ich weiß nicht wen (Andrea Berg) und die Alleswunderbarmacherin-und-IchhättesiegernealsmeineSchwiegertochter für einfach Alle (Helene Fischer). Übergänge, Abweichungen, Entwicklungen finden höchstens in sehr genau ausgemessenen, kontrollierten Bereichen statt und sind immer gleich Anlass für eine komplette, begleitende Berichterstattung in der Regenbogenpresse ("Helene Fischer außer Rand und Band - So wild rockte sie den Saal" oder so ähnlich).
Die Mechanismen dieses offensichtlich einträglichen Marktes liegen also ziemlich offen zutage. Das Interessante ist ja, dass das die Leute kein bißchen juckt. Man könnte ihnen eine gerichtsfeste Akte zusammenstellen, sie würden sich ihren Star nicht "wegnehmen" lassen wollen. Es ist also nicht nur vollkommen überflüssig, sondern auch geradezu kontraproduktiv, immerzu am Niveau des Schlagers rumzumäkeln. Es hilft nichts. Die, die es wissen, hören sowieso keinen Schlager - die, die Schlager hören, wollen es nicht wissen, oder wissen es vielleicht, verdrängen es aber.
Aufschluss darüber, wieso das alles dennoch funktioniert, habe ich mir von diesem Artikel erhofft, wurde aber bitter enttäuscht. Die Diskrepanz zwischen Titel und Text ist genausogroß wie bei der Regenbogenpresse. Erklärt wird gar nix, und das Fazit ist anscheinend, dass Helene Fischer allen Schlagersängern den Arsch gerettet hat, weil sie einfach toll ist. Naja.
Tatsache ist doch aber, dass Schlager von der Musik "lebt". Man stelle sich mal vor, die Helene wäre keine Schlagersängerin, sondern würde als Dichterin Lesungen mit ihren Songtexten veranstalten. Ein Stadion bekäme sie mit Zeilen wie: "Ich schließe meine Augen, lösche jedes Tabu, Küsse auf der Haut, so wie ein Liebes-Tattoo, oho, oho." (aus: Atemlos), hinter einem Tisch sitzend, mit einer funzeligen Leselampe und im Bachmannduktus vorgetragen sicher nicht voll. Erst die Musik macht aus der Ansammlung von zum Reimen gezwungenen Worten ein transportables Ganzes, das so viele Menschen erreicht. Die "Melodie" ist so einfach wie nur irgend möglich, bei den obigen Worten besteht sie aus nur zwei Tönen im Terzabstand (dis - h). Beim ersten Halbvers ist das Ganze mit der Tonika H-Dur unterlegt, beim zweiten mit der Tonikaparallele gis-moll. Selbstverständlich läßt die Dominante nicht auf sich warten, beim ersten "oho" kommt sie schon, beim zweiten geht's wieder zurück zur Tonika. Mit Kanonen auf Spatzen geschossen, könnte mir jetzt jemand kommen, aber irgendwo muss man ja anfangen, etwas zu verstehen. Also: Die nackten Worte bekommen ein ziemlich durchsichtiges Kleid aus Tönen. Eine einzelne Liedzeile ist so klar wie geseihte Kloßbrühe strukturiert. Auch das Arrangement macht die Soße nicht klumpig, simple Bassdrum mit "pumpendem" Bass, mehr isses nicht. Isses aber doch. Das Tempo ist 128, also relativ flott, aber nicht zu flott, gerade richtig, dass man bei jedem Schlag die Knie leicht beugen und so den Körper in Schwingung versetzen kann. Zusammen mit den leicht zu merkenden Worten (Augen-Tabu-Küsse-Liebes-Tattoo) und der Zweitonmelodie entsteht ein System, das den Zuhörer in Ganzheit in Schwingung versetzt. Der Körper bewegt sich, die Stimme singt mit, vielleicht klatscht man noch. Und das mit vielleicht tausend oder zehntausend anderen im Gleichklang. Im Grunde also eine rein körperliche Angelegenheit. Und von daher auch vollkommen verständlich, warum der an sich unsägliche Text keine große Rolle spielt. Er dient ja bloß als Aufhänger für die Melodietöne, als Eselsbrücke. Dass er von irgendeiner "Atemlosigkeit" faselt, ist nebensächlich, solange er genügend Hauptworte hat und sich jede zweite Zeile reimt. Überhaupt ist es ein Kennzeichen von Schlagertexten, dass sie hauptsächlich mit Substantiven und Adjektiven arbeiten. Verben spielen gar keine Rolle, die meisten sind "sind", "macht", "ist", oder sie werden gleich ganz weggelassen, so dass eine Zeile oft nur eine Reihung von Adjek- oder Substantiven ist. Ist ja auch klar, der Text selbst soll keine Bewegung transportieren, das würde nur unnötig mit dem Bewegungsimpuls der Musik interferieren.
Der Minimalismus der Strophen ist natürlich auch Strategie, denn erst beim Chorus soll es dann so richtig abgehen. Der Rhythmus wird durch zusätzliche Synthesizer hervorgehoben, harmonisch und melodisch ist der "Satz" jetzt ausgreifender. Die Strophe baut also die Spannung auf, die sich dann beim Chorus entlädt. Wieder körperlich. Haben vorher nur ein bißchen die Knie gewackelt, so gerät nun der ganze Körper ins Wanken, die berühmte Oberkörperhinundherdrehung setzt ein. Jetzt ist das Klatschen auch nicht mehr fakultativ sondern obligatorisch, die aufgestaute Energie muss ja irgendwohin. Nach einiger Zeit ist dieser Energieimpuls verpufft und folgerichtig gibt es einen formalen Abbruch und einen Neuaufbau mit einer zweiten Strophe. Das insgesamt höhere Energielevel als bei der ersten Strophe wird durch einen zusätzlichen Synthie, der harmonisch unterstützend eingreift, aufrecht erhalten. Es folgt das gleiche Spiel von Spannungsaufbau und -entladung. Danach gibt es aber keine dritte Strophe mehr (wahrscheinlich sind die Adjektive alle gegangen), sondern nur einen kurzen sogenannten Break und nochmal den Chorus.
Der ganze Aufbau des Liedes ist bis in die kleinsten Ritzen auf körperliche Reaktion hin berechnet. Nicht direkt auf's Tanzen hin, das wäre dann schon zu viel. Nein, man soll schon am Platz stehenbleiben (nicht umsonst finden viele Konzerte in bestuhlten Hallen statt), da aber soll die Musik möglichst körperlich wirken. Warum? Körperliche Bewegung ist ja eine angenehme Sache. Auf jeden Fall angenehmer als das Rumgekauere auf einem unbequemen Stuhl, wie in der klassischen und also auch der Neuen Musik üblich. Ständig versucht man, möglichst lautlos auf der Sitzfläche rumzurutschen und die Beine auszustrecken oder anzuwinkeln oder übereinanderzuschlagen, und immer gibt es diesen elendigen Hustenreiz, der garantiert an den ganz leisen Stellen im Konzert am allerschlimmsten ist. Von solchen zivilisatorischen Zwängen ist man beim Schlagerkonzert befreit. Niemand muss stillsitzen, keinen stört es, wenn man hustet. Im Gegenteil, man bewegt sich noch ein bißchen und verbrennt die Stückchen vom Kaffeetrinken. Und das auch noch gemeinsam mit so vielen anderen.
Während es also beim Schlager so ist, dass der Körper im Mittelpunkt steht und die, ähem, intellektuelle Erfahrung sich sehr in Grenzen hält, ist es bei der Neuen Musik genau andersrum. Der Körper ist eine total unerwünschte Begleitgabe zum hörenden Geist. Ich kenne kein einziges Stück Neue Musik, wo ich in Versuchung gewesen wäre, mitzuschunkeln. Nichtmal mitsingen kann man, das wäre ja noch ein Mindestmaß an körperlicher Aktivität. Beim klassisch-romantischen Repertoire geht das ja noch in großen Teilen. Beim Gefangenenchor oder der Ode an die Freude stellt sich durchaus so ein seltsam schlagereskes Gefühl ein, mitmachen zu müssen. Selbst bei der Großen Fuge. Bei der man vielleicht nicht grade die Hüfte kreisen lassen will, aber man doch bei den punktierten Rhythmen eine gewisse Körperlichkeit der Musik nicht absprechen kann.
Ich vermisse bei der Neuen Musik diese Einbeziehung des Körpers. Die Mitansprache meines Körpers. Denn der Körper ist ja nicht ein bloß nervendes, ewig krankes Anhängsel an den tollen Geist. Ohne Körper gäbe es gar keinen Geist. Jegliches Bewußtsein, jegliches Subjektgefühl beginnt mit der geistigen Repräsentation des eigenen Körpers (vgl. Thomas Metzinger). Auf ihre Weise ist die Neue Musik genauso einseitig und blind wie der Schlager. Nee, ich will nicht wieder Melodien, die jeder mitsingen kann. Nee, ich will keine Stampfrhythmen in der Kunstmusik etablieren. Es müßte doch aber möglich sein, eine Musik zu machen, die den Geist nicht einschläfert und dennoch auch dem Körper sein Recht läßt. Eine Art angeschlagerte Neue Musik. Dann werden wir auch wieder die Hallen füllen, wir werden Autogrammkarten haben und die Presse wird Homestories mit uns machen: "Sein süßes Geheimnis: So lebt und liebt der Neuemusikkomponist ZX".

Sonntag, 22. Dezember 2013

Kommentar 25 - Halbgare Eierpampe als Mittel der Erkenntnis [Teil 2] / Fetzen einer Poetik 5

Hier der langersehnte zweite Teil der Besprechung von Trond Reinholdtsens "Inferno - Percussion Sonata I, based on the novel by August Strindberg".

Die letzte Materialstudie (7), immerhin an die 20 Minuten lang, geht so: Der Gorilla liest ein Chemiebuch, entdeckt ein neues Material, dann kreischt sein Baby-Gorilla, daraufhin geht der Affenpapa in die Küche und macht dem Baby und sich selbst eine große Pfanne Rührei. Zwischendurch gibt er dem Baby etwas Schnaps zu trinken und nimmt auch selber ein paar Schluck aus der Pulle. Musikalisch begleitet wird die Szene vom Meistersinger-Vorspiel. Neues Material, Baby, Eier: Symbole des neuen Lebens. In Verbindung mit dem Meistersinger-Vorspiel: Neugeburt für die Oper. Das war ja einfach. Und eigentlich könnte man es damit bewenden lassen. Wenn, ja wenn da nur nicht die Sache mit dem halbgaren (oder halbrohen, je nachdem, ob man ein Opti- oder Pessimist ist) Eieromelett wäre.
Diese Eierpampe, die Gorilla-Reinholdtsen sich und seinem Baby auf den Teller schaufelt, entlarvt das ganze Stück als zutiefst pubertäre Show, nicht unähnlich der Selbstinszenierung einiger Rockbands. Natürlich ist das Geschirr in der Spüle nicht abgewaschen, natürlich nimmt der Gorilla nicht abgewaschenes Besteck und Teller, natürlich säuft er Schnaps aus der Flasche, natürlich tunkt er die Ärmel seines Kostüms in die Eiermasse. Das alles soll natürlich eine Form von Unspießigkeit suggerieren ("Wow, ich bin so locker, dass mir das alles egal ist."). Gleichzeitig hält die Kamera aber dermaßen spießig auf alle diese angeblichen Unspießigkeiten drauf, dass sie als das rüberkommen, was sie eigentlich sind: spießige Klischees von Unspießigkeit. So stellt sich wahrscheinlich meine Oma einen Künstler vor. Gibt sogar seinem Kind Schnaps zu trinken. Verrückt, diese Künstler. Besonders evident wird diese Perpetuierung von uralten Klischees, als der Gorilla beim Eieraufschlagen sogar kurz innehält, damit die Kamera das vom Kostüm herabtropfende Eiweiß filmen kann (30'03''). Toll. Sieht aus wie Sperma. Das vom Ärmel tropft. Er hätte ja auch einfach drauf achten können, den Ärmel nicht in die Pampe zu tauchen. Stattdessen legt er es geradezu drauf an. Und zeigt es nachher auch noch stolz her. Das hinterläßt einen ziemlich schalen Nachgeschmack. Weil es die Widersprüchlichkeit des Reinholdtsen'schen Ansatzes offenlegt: Alles soll sehr uninszeniert wirken, wie im Augenblick erdacht, unfertig, roh, sloppy. Diese gewollte Schludrigkeit wird aber dann mit groben, unreflektiert schludrigen Mitteln ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt und dadurch ihres einzigen Reizes beraubt: ihrer Unabsichtlichkeit. Es gibt nichts Peinlicheres als gewollte Unabsichtlichkeit. Wie bei schlechten Clowns, die ganz ordentlich über ihre zu großen Schuhe stolpern.
Noch deutlicher, bis zu dem Punkt hin, an dem ich richtig genervt war, kommt diese Pseudo-Unabsichtlichkeit eben bei der schon angesprochenen Eierpampe heraus. Es gibt überhaupt keinen einleuchtenden Grund, warum der Gorilla die Eier im halbrohen Zustand servieren sollte. Gut, das Meistersinger-Vorspiel dauert etwa zehn Minuten und bis zu dessen Ende sollte das Omelett serviert und gegessen werden. Reinholdtsen hätte ja aber auch weniger Eier nehmen können. Die wären bis dahin gar geworden. Sind sowieso viel zu viele Eier für zwei Personen. Warum dann also so einen Haufen Eier aufschlagen? Zumal er inkonsequenterweise auch nur so tut, als würde er den Brabsch essen. Wenn er das Zeug ja wenigstens in sich reinstopfen würde. Noch nichtmal das. Als-Ob, wo man auch nur hinsieht. Entweder traut Reinholdtsen seinem eigenen Konzept nicht, oder er wollte sich schlicht nicht die gedankliche Arbeit machen, es sorgfältig umzusetzen. Wobei sorgfältig in diesem Zusammenhang nicht als handwerklich sauber zu verstehen ist, sondern als konsequent. Reinholdtsen will ja nicht handwerklich sauber arbeiten, das habe ich schon verstanden, und das mag ich eigentlich an seinem Ansatz. Aber bei ihm verkommt die handwerkliche Unsauberkeit zu einer bloßen Behauptung ohne Folgen, zu reinem Selbstzweck. Damit führt sie dann jedoch auch keinen Schritt weiter als dasjenige, was sie zu überwinden vorgibt: die bloße Behauptung von Handwerklichkeit. Hätte Reinholdtsen doch bloß das Omelett fertig gekocht.

P.S.: Über den weiteren Verlauf des Videos (Baby wird mit Stock gehauen und erzeugt Töne, Gorilla liest die Instrumentationslehre von Berlioz und dann "Inferno" von Strindberg, immer schön ordentlich gefilmt, so dass man auch ja die Titel lesen kann, und weint dann) decke ich den gnädigen Mantel des Schweigens.

Samstag, 21. Dezember 2013

Kommentar 24 - Richtigstellung

Versehentlich wurden in diesem Artikel http://www.spiegel.de/gesundheit/ernaehrung/schneekuenstler-simon-beck-mathematische-formeln-im-schnee-a-939973.html die Worte Kunst und Künstler verwendet. Es muss stattdessen heißen: Ornament und Dekorateur.

NB: Die Einordnung in der Rubrik Gesundheit / Ernährung ist korrekt.

Kommentar 23 - ABC . . . Die Katze liegt im Schnee / John Baldessari vs. Erik Carlson


Von John Baldessari gibt es die wunderbare Photoserie "trying to photograph a ball, so that it is in the center of the picture". Der Titel sagt schon alles. John Baldessari wirft einen roten Ball in die Luft und versucht ihn so zu photographieren, dass er genau in der Mitte des Bildes ist. Das klappt mal mehr, mal weniger gut, und abgesehen von den wechselnden Wolkenformationen im Hintergrund taucht hier und da auch mal ein Baum am Bildrand auf. Eine einfache Grundanordnung also, seriell abgewickelt, ohne Variation. Und doch ist das Ergebnis ziemlich poetisch. Die Handlungsanweisung befreit Baldessari zwar von den üblichen Kompositionsprinzipien ("Halt mal den Kopf leicht zur Seite geneigt und schau von unten zu mir hoch, und dann lächeln!"), stellt aber gleichzeitig neue, nicht weniger rigide Prinzipien auf. Denn es ist von vorneherein klar, dass die Aufgabe an sich unerfüllbar und das Scheitern an ihr zwangsläufig ist (der Ball wird niemals hundertprozentig genau im Bildzentrum sein). Im Grunde also ein hochromantisches Unterfangen: Die Darstellung der Kluft zwischen Ideali- und Realität mit den Mitteln der Ironie.
Schauen wir mal, wie so ein Konzept heute aussieht. Erik Carlson hat beschlossen, dass es eine gute Idee wäre, die Winterreise von Schubert in alphabetischer Reihenfolge aufzuschreiben. Das sieht dann so aus. Jedes Wort wird mitsamt seinen Verton-Tönen in alphabetischer Reihenfolge hingeschrieben. Das war's auch schon. Der ontologische Status dieses "Werks" ist einigermassen unklar. Zur Aufführung wird es nicht kommen, bzw. ist es gar nicht gedacht. Als rein optische Partitur sieht man sich die ersten paar Seiten an und weiß dann Bescheid ("sortiere sämtliche Worte der Winterreise alphabetisch"), wüßte aber eigentlich auch ohne die Partitur Bescheid, weil die Partitur ja bloß abbildet, was gemacht wurde ("sortiere sämtliche Worte der Winterreise alphabetisch"). Als bloße Handlungsanweisung ("sortiere sämtliche Worte der Winterreise alphabetisch") erinnert es irgendwie stark an einen Verwaltungsakt. Als Vorführobjekt für einen Algorithmus ("sortiere sämtliche Worte der Winterreise alphabetisch") ist es ein wenig unspektakulär. Was also soll das Ganze? Wo ist der Mehrwert? Na klar, die Konzeptualisten kommen mir wieder gleich mit ihrem "das soll ja gar keine Kunst sein, und überhaupt muss man sich ein Stück Konzeptkunst gar nicht komplett ansehen / anhören / durchlesen" usw. Na gut, meinetwegen. Wenn es keine Kunst sein soll, ist es eine Wüste merkwürdig angeordneter schwarzer Pixel und von überhaupt keinem weiteren Interesse. Wenn ich es mir nicht komplett ansehen soll, dann brauche ich auch die Partitur gar nicht. Dann aber müßte wenigstens das Konzept ("sortiere sämtliche Worte der Winterreise alphabetisch") irgendwie über sich selbst hinausweisen und nicht einfach mit seiner Beschreibung in Eins fallen. Siehe John Baldessari. Die Handlungsanweisung ist vollkommen klar und prosaisch. Das Werk erschöpft sich aber nicht in dieser Handlungsanweisung, sondern die Handlungsanweisung öffnet erst den Raum der Möglichkeiten, innerhalb dessen dann Kunst geschieht. Man muss nicht alle Photos gesehen haben, man versteht gleich, was das Ganze soll. Trotzdem schadet es nicht, wenn man das eine oder andere Photo zusätzlich betrachtet, weil immer und auf jedem Bild die Differenz zwischen Anweisung und Ausführung neu bestimmt wird. Bei Carlson wird gar nichts bestimmt und schon gar nicht neu. Die einzige Verwendungsmöglichkeit, die ich mir vorstellen könnte, ist die, dass ein Musikwissenschaftler, der noch kein Thema für seine Abschlussarbeit hat, die Anzahl der verwendeten gleichen Worte zählt und nachsieht, ob gleiche Worte jedesmal auch eine gleiche oder ähnliche musikalische Struktur hervorbringen (wobei Carlson ihm die Hauptarbeit der Sortierung ja schon abgenommen hätte (andererseits würde ich einem Musikwissenschaftler, der sich mit einer dermassen öden und sinnlosen Aufgabe beschäftigt, erst gar keinen Abschluss geben)). Im Grunde ist die "Alphabetized Winterreise" also ein einziges Missverständnis, wie so viele andere Konzepte des Neuen oder neuen oder Neo-Konzeptualismus. Wenn die Idee das Werk ist, dann kann sich das Werk keine schlechte Idee leisten. Aus reinem Selbsterhaltungstrieb.

Dienstag, 17. Dezember 2013

Kommentar 20 (5.1.4) - I'm dreaming of a white time and motion study / Was ich neulich mal dachte 5

Neulich mal dachte ich, dass es an der Zeit wäre, dass Neue Musik die Weihnachtscharts erobert. Nachdem es vor einiger Zeit mal den Versuch gab, 4'33'' von John Cage in den Downloadcharts ganz nach oben zu hieven, einem an sich ja harmlosen Stück, weil gar keine Musik erklingt, sollte man das Gleiche mal mit 'nem Stück von z.B. Ferneyhough machen. Allein an Heiligabend mehr als 1 Million mal heruntergeladen: time and motion study III von Brian Ferneyhough. "Bei uns is an Heiligabend die taim end moschn staddi von Fönihau in Schleife gelauf'n. So weihnachtlich hatt'n wir's schon lang nich mehr." Eng aneinandergekuschelt sitzen Vater, Mutter, Kind auf dem Sofa, 'ne flauschige Decke über sich gebreitet, die Studienpartitur vor sich. Und summen versonnen Teile der Melodie mit. Später setzt sich der Vater an's Casio-Keyboard und begleitet partiturspielend Mutter und Kind beim prima-vista-Singen der ersten paar Takte. Draußen regnet es herrlich weihnachtlich und die Welt ist an diesem einen Abend wirklich ein besserer Ort. Merry Compleximas to us all!

Kommentar 19 - Halbgare Eierpampe als Mittel der Erkenntnis [Teil 1] / Fetzen einer Poetik 4

Weil es so ein wahnsinnig langes Stück ist, zu dem es ausserdem einiges zu sagen gibt (ein Zusammenhang, der sich übrigens für viele andere lange Stücke nicht herstellen läßt), stelle ich die Besprechung von Trond Reinholdtsens "Inferno" in zwei Teilen rein.

Wenn ein Stück von Trond Reinholdtsen auf dem Programm steht, dann weiß man, dass es was zu lachen gibt. Endlich mal wieder. Gibt ja sonst nichts zu lachen in der Neuen Musik. Ich weiß gar nicht, wer irgendwann mal beschlossen hat, dass es in der Neuen Musik nicht lustig zugehen dürfe. Wahrscheinlich Schönberg, den ich ja nun, obwohl ich ihn gar nicht persönlich kenne, für nicht besonders humorbegabt halte. Ich finde ja, man hört bei Komponisten ziemlich schnell raus, wer Humor hatte und wer nicht. Schönberg: nein, Berg: ja, Webern: komischerweise ja, Strawinsky: hm, ja, Stockhausen: noch komischererweise auch ja, Boulez: nein, Kagel, der ja gemeinhin als der Humorist unter den Komponisten gilt: geht so, Ligeti: ja (auf jeden Fall mehr als Kagel), sämtliche Spektralisten und IRCAM-Frickler: nein, Ferneyhough: irgendwie schon, Mahnkopf: nein, Rihm: geht so, Dutilleux: ja. Ist natürlich diskutabel, meine Liste. Kommt natürlich auch auf die Humorverfassung des Hörers an.
Naja, wie auch immer, Trond Reinholdtsen auf jeden Fall ist ein lustiger Typ. Und er macht lustige Stücke. In Darmstadt 2010 gab's die "Unsichtbare Musik", da wurde viel gelacht und in Donaueschingen 2012 gab's nur noch "Musik", da wurde noch mehr gelacht. Und es war jedesmal sehr erfrischend, nachdem man sich stunden- und tagelang all diesen staubtrockenen Neue-Musik-Kram angetan angehört hat. Natürlich gab's auch jedesmal irgendwelche Nörgler, die unbedingt reinrufen zu müssen glaubten, dass das doch auch nur Dada sei (ach wirklich, dreihundert Komponisten im Saal, und keiner außer dir schlauem Kerlchen hat's gemerkt). Und natürlich macht es die Lustigkeit auch leicht, die Stücke unter der Rubrik "harmlose Unterhaltung" abzuhaken, selbst wenn sie manchmal provokativ wirken (sollen).
Hinter Reinholdtsens Stücken steckt aber immerhin ein ganzer, naja, vielleicht nicht Theorie-, aber doch Gedankenapparat. Und auch eine Art Lebensperformance, mit seinem Projekt einer "Norwegian Opra", die, wenn ich das Sammelsurium von Informationsfetzen auf seiner Homepage richtig deute, nicht nur eine "Neubelebung" der Gattung, sondern ein tatsächliches Opernhaus werden soll oder schon ist, irgendwie. Er hat also eine Agenda, der Trond Reinholdtsen, einen Suchauftrag, wenn man so will, und den verfolgt er ziemlich konsequent.
Zum Beispiel mit "Inferno - Percussion Sonata I, based on the novel by August Strindberg", einem der aktuellesten Stücke, die in irgendeiner Form mit diesem Projekt zusammenhängen. Über vierzig Minuten lang ist das Stück für einen Perkussionisten, der allerdings, wie ich finde, doch besser ein Schauspieler hätte sein sollen als ein Schlagzeuger. Oder vielleicht auch nicht. Denn das ist die grundsätzliche Frage, die sich mir bei diesem Stück stellt: Ist die Absicht, die Absichtslosigkeit zu inszenieren, selbst absichtsvoll zum Scheitern gebracht worden? Oder einfach nur danebengegangen? Auf den Schlagzeuger übertragen: Ist sein bemüht-hilfloses Schauspielern (ernste Miene, leicht genervte Körpersprache) gewollt oder ging es halt nicht besser, oder ging es nicht besser und das ist gewollt? Aber ich greife vor.
Das Stück fängt mit dem Schlagzeuger (hier: Hakon Stene) an, der auf eine offensichtlich MIDI-fizierte kleine Trommel schlägt. Dieser Schlag löst ein Schlagzeug-Zuspiel aus. Der Schlagzeuger steht eine Weile rum, dann merkt er, dass es für ihn nichts zu tun gibt, er trollt sich auf das Sofa, das hinter ihm steht. Das Zuspiel hört auf, der Schlagzeuger steht auf, geht zur Trommel, haut drauf. Zuspiel beginnt wieder. Rhythmisch variiert. Schlagzeuger setzt sich wieder, Zuspiel hört auf, Schlagzeuger geht wieder hin etc. So weit, so konzeptuell. Die Dynamik zwischen Zuspiel und Schlagzeuger, der das Zuspiel auslösen muss (warum eigentlich muss er das?), wird zugespitzt, indem das Zuspiel manchmal so kurz ist, dass es genau dann aufhört, wenn der Schlagzeuger beim Sofa anlangt, so dass er direkt wieder zur Trommel muss. Nach zwei Minuten haben wir das Konzept verstanden und Reinholdtsen bringt folgerichtig ein drittes Element rein: Der Schlagzeuger geht zu einer identischen Trommel auf der linken Bühnenseite und löst mit seinen Schlägen ein Sprachsample in Norwegisch aus. Laut Untertiteln (und anhand der Partitur) kreischt die Stimme: "I have decided to forsake Art in order to reach the Summits of Knowledge". Na gut, ich halte ja von solchen aphoristischen Pseudoaussagen nicht viel, aber vielleicht ist das Ganze ja auch ironisch gemeint. Allerdings passt die Absichtserklärung der Kunstlosigkeit (in jeder Bedeutung dieses Wortes) zu gut zu Reinholdtsens sonstigen Bekundungen, um die Aussage als Kritik an solchen Aussagen verstehen zu können. Jedenfalls bedeutet so ein Satz erstmal nicht viel. Bisher hat noch jeder, der behauptet hat, er mache jetzt aber definitiv keine Kunst mehr, weiterhin Kunst gemacht. So einfach kommt man aus der Nummer nicht raus.
Als Element innerhalb des Stückes jedenfalls dient diese neue Textur der formalen Dynamik. Nach diesem ersten Einwurf geht es nochmal zwei Minuten lang um das Spiel zwischen MIDI-Schlagzeug und Schlagzeuger. Die Zuspiele sind nun deutlich länger als zuvor, nicht im eigentlichen Sinne "zu" lang, sondern rein formal, so dass sie eine Erwartungshaltung erzeugen. Und so kommt dann auch bei Minute viereinhalb nochmal das Sprachsample. Dann erneut kurz MIDI-Schlagzeug. Dann geht der Schlagzeuger nach rechts zu einer dritten MIDI-Trommel und löst dort ein Videozuspiel aus. Viertes Element. Und Hauptelement, wie sich im Laufe des Stückes herausstellt.
Protagonist der Videozuspiele ist (vermute ich mal stark) Trond Reinholdtsen im Gorillakostüm. Er sitzt oder steht vor selbstgemalten Kulissen, die zwei lavaspeiende Vulkane zeigen. "50 000 years ago" lautet der Titel des ersten Zuspiels, danach kommt "20 000 years later (than last video)" und schließlich "10 000 years later (than last video) - The Beginning of Western Music". Kubrick-Assoziationen werden wach, ich höre vor meinem inneren Ohr das Ligeti-Requiem surren, während die Urmenschen um den schwarzen Monolithen herumhocken. Wie in "2001" entdeckt auch der Reinholdtsen-Urmensch ein Werkzeug (den Knüppel), allerdings nicht als Tötungs- sondern als Musikinstrument. Nett. Ich bin versucht zu sagen: süß. Diese Umkehrung der pathetisch umwehten Zertrümmerung des ersten Menschenschädels mit einem Knüppel bei Kubrick zur Erzeugung des ersten Tones auf dem eigenen Schädel mit einem Knüppel bei Reinholdtsen. Der Klang des Knüppel-Schädel-Instrumentes ist ein zeichentrickhaftes "Boiiiing", was wohl als Unterstreichung des Slapstickhaften der Entdeckungsszene gelten soll, aber irgendwie bloß albern wirkt.
Jetzt muss der Schlagzeuger wieder ran und Schlagzeugsamples auslösen, dann kommt der nächste Video-Block "Materialstudien". Zehn Minuten sind bisher um.
In den "Materialstudien" werden erstmal drei Grundelemente vorgestellt: Sauerstoff, Wasser und Erde. Der Gorilla / Urmensch haut mit dem Stock auf das jeweilige Element und zeigt dann eines dieser Molekülmodelle aus Plastik, die man aus der Schule kennt. Die Reihe der dargestellten Elemente wird allmählich immer absurder, es folgen "plant", "drum" und "extended technique". Das sind so typisch neu-konzeptualistische Gags, die immer irgendwie unterhaltsam, aber nie besonders aufschlußreich sind. Zumal das Ganze auf den ziemlich plumpen Gag mit der zerstörten Trommel bei den "extended techniques" hinausläuft. Höhö.
Zwischendurch war auch mal wieder der Schlagzeuger an der Reihe. Er hat gemacht, was er immer macht, nämlich Schlagzeugsamples auslösen und dann wieder Sprachsamples. Diesmal hat er ziemlich lange auf dem "forsake Art"-Satz herumgedroschen, so als wolle er noch den letzten Rest Bedeutung aus ihm herausprügeln. Dann aber geht er an einen der weißgedeckten Tische im Vordergrund der Bühne, wirft Kohlepulver drauf, verschmiert es, sprüht irgendwas in die Luft und hebt ein Bild vom Planeten Mars hoch. "Alchemy Study 1" sagt der Untertitel im Video. In der Aufnahme nur schlecht zu erkennen, aber in der Partitur nachlesbar, sind diese Aktionen rhythmisch und "dynamisch" sehr exakt ausnotiert. Das ist natürlich noch kein Wert an sich, im Gegenteil, ich habe zuerst mal vermutet, dass es nur eine Art Quatschnotation ist, nur auf's Optische ausgerichtet. Also auch wieder nur ein konzeptueller Witz. Nur habe ich merkwürdigerweise beim Ansehen der Aktion so eine seltsam altmodische Poesie gespürt, eine Art nostalgisch-melancholische Wehmut. Ausgerechnet bei dem Herumgewerfe mit Dreck auf dem schönen weißen Tisch. Irgendwie bezeichnend für den ganzen Kunstwust heutzutage. Woanders wird mit wahnsinnigem Aufwand versucht, den letzten Blutstropfen Expressivität aus längst totgetrockneten Tönen rauszuquetschen, und hier stellt sich einer an einen Tisch und schauspielert mal so richtig hölzern, wie er den Tisch einsaut, und bei mir geht sofort der Poesiealarm los. Zufall ist das aber nicht (oder verkorkster Geschmack von meiner Seite). Zum ersten Mal ist der Schlagzeuger nicht bloß der humanoide Auslöser für technische Apparaturen, sondern selbst echter Akteur. Er gewinnt also durch den Umgang mit den handfesten "Materialien" eine gewisse Freiheit. Das klingt erstmal paradox, weil er ja an eine Partitur mit rhythmisch komplexen Notationen gebunden ist. Allerdings erlöst ihn diese Bindung an eine Handlungsanweisung von der Bindung an eine mechanische / elektronische Auslösevorrichtung. Er ist jetzt Interpret. Er kann den Dreck sanft werfen oder wütend schmeißen, er kann ihn hektisch verschmieren oder bloß unaufmerksam usw. Mit anderen Worten: Die Möglichkeit zur Interpretation kehrt erst sein Inneres hervor. Selbst sein ausbaufähiges Schauspielern ist in diesem Falle kein Manko, sondern geradezu eine Voraussetzung. Die Unkontrollierbarkeit der verkomponierten Materialien spiegelt sich in der Unkontrollierbarkeit seiner eigenen Gesten / Gesichtsausdrücke usw. wider. Rückblickend betrachtet leuchtet dann natürlich ein, dass ein solcher Moment der plötzlichen "Menschwerdung" (ja, drunter mach ich es heute nicht) erstmal einen Hintergrund der "Entmenschlichung" braucht, vor dem er sich dann umso stärker abheben kann. Bei den beiden späteren "Alchemy Studies" bei Minute 21'30'', bei 26' und bei 27'30'' ist dieser Effekt schon etwas schwächer, erstens, weil man ihn schon erwartet und zweitens, weil es dann gleich wieder unnötigerweise absurd wird (ich sage nur Plastikkröte mit aufgeklebtem Ventilator). Es ist immer das Gleiche mit den Konzepten im Konzeptualismus: Sie werden totdekliniert. Richtig schwierig wird es eben in solchen Fällen, wo nach einer Art Überbietungslogik immer größere Unwahrscheinlichkeiten aufeinandergehäuft werden, bis eigentlich jeder Quatsch möglich ist. Die Folge ist nicht nur, dass der Witz raus ist, weil man ja schon alles oder gar nichts mehr erwartet, sondern letztendlich auch, dass das Konzept als solches entwertet wird. Jetzt könnte mir ja jemand mit Meta-Logik kommen und behaupten, Reinholdtsen führt eben, indem er sein eigenes Konzept ad absurdum führt, das Konzept des Konzeptes an sich ad absurdum. Genau das macht er aber nicht. Er führt nicht sein eigenes Konzept mehr oder weniger planvoll ab absurdum, er versucht es ja mit immer neuen Mitteln weiterzuführen. Er versucht also, allen Absichtsbekundungen zum Trotz, Kunst zu machen. Variation, Fortspinnung, Transposition, Spannung - Entspannung, das sind alles Kategorien, auf die er sich weiterhin verläßt, wie die Nachverfolgung des formalen Aufbaus gezeigt hat. Einfach nur irgendwelche Unsinnsaktionen einzubauen bedeutet noch lange nicht, dass man sich aus dem Korsett der Kunstmittel (sowohl was die kompositorische als auch die analytische Seite betrifft) hat befreien können.
Etwa bei Minute 24 beginnt mit der letzten "Materialstudie" das große Finale von "Inferno". Dieses Video, das mit kurzen Unterbrechungen die zweite Hälfte des Stückes ausmacht, bespreche ich demnächst ausführlich. Als Cliffhanger sei nur folgendes erwähnt: Es geht hauptsächlich um ein nicht zuende gegartes Eieromelette. Wow.

Sonntag, 8. Dezember 2013

Kommentar 17 (5.1.3) - Ich dachte, ich hätte gedacht / Was ich neulich mal dachte 4

Neulich mal dachte ich einen Gedanken und dachte dann gleich, dass diesen Gedanken bestimmt schon mal jemand gedacht hat. Ist ja normalerweise kein Problem, weil jeder immerzu solche Gedanken denkt, die schon mal von jemandem gedacht wurden. Kann ja nicht jeder in einem fort brandneue Gedanken denken. War in diesem Fall aber schon ein Problem, weil ich gerne wollte, dass noch niemand diesen Gedanken gedacht hat. Also dachte ich weiter und dachte darüber nach, wie ich herausfinden konnte, ob diesen Gedanken tatsächlich schon mal jemand gedacht hat. Google, dachte ich gleich und googelte meinen Gedanken. Aber entweder hatte ich meinen Gedanken nicht gut formuliert oder der Suchalgorithmus von Google war von meinem Gedanken überfordert, auf jeden Fall fand ich keinen vergleichbaren Gedanken in Google. Dabei war ich mir inzwischen beinahe schon sicher, dass diesen Gedanken schon mal jemand gedacht haben mußte, weil es ein ganz einfacher, naheliegender Gedanke war. Oder vielleicht erschien er nur mir so einfach und naheliegend und war in Wirklichkeit vollkommen absurd und dumm. Ich versuchte, den Gedankengang, der zu diesem Gedanken geführt hatte, zu rekonstruieren. Ich hatte ein Buch gelesen und hatte beim Lesen, oder vielmehr, beim Buchstabenbetrachten, etwas gedacht. An irgendeiner Stelle im Buch hatte meine Aufmerksamkeit sich von den Buchstaben und den Wörtern gelöst und hatte sich selbstständig gemacht, während meine Augen wie Idioten weiter den schwarzen Strichelchen auf dem Papier gefolgt waren. Ich nahm das Buch zur Hand und las die letzten Seiten nochmal. Aber nicht nur kam mir das Gelesene vor, als hätte ich es nie zuvor gelesen, nein, auch meine Aufmerksamkeit klebte jetzt so an den hingeschriebenen Wörtern, dass ich die Worte im Geiste mitbuchstabieren mußte und überflüssigerweise mich selbst auch noch beim Mitbuchstabieren beobachtete, so dass in meinem Geist ein Buchstabensalat sondergleichen herrschte. Nicht alles, dass ich noch mit dem Finger die Buchstaben entlangfahren mußte wie ein Vorschüler. Ich schlug das Buch zu und machte mir einen Kaffee. Auch beim Kaffeemachen beobachtete ich mich auf das Genaueste, so dass mir jetzt jede einzelne Bewegung vorkam wie eine total künstliche, unnatürliche Aktion, was es mir sehr schwer machte, eine Tasse aus dem Schrank zu holen und sie in die Maschine zu stellen. Ich versuchte, meine Aufmerksamkeit vom Kaffeemachen abzulenken und ging geistig wieder zurück zu meinem Problem des schon mal gedachten Gedankens. Mußte aber feststellen, dass der Gedanke an sich plötzlich weg war. Einfach weg. Ein Loch im Kopf. Ich bewegte mich geistig an die Ränder des Loches und versuchte anhand der Fransen den Gedanken zu rekonstruieren. Nichts. Ich erinnerte mich nicht mal mehr daran, zu welchem Thema ich diesen Gedanken gedacht hatte. Allmählich wurde ich wütend. Und mit der Wut stieg meine Überzeugung, dass diesen Gedanken noch überhaupt niemand jemals gedacht hatte. Dass dieser Gedanke ein genialer Gedanke war. Und ich hatte ihn vergessen, weil ich ihm nicht getraut hatte. Gedanken sind ja doch wie Hamster: Wenn man sie nicht ganz behutsam behandelt, werden sie ganz scheu und verkriechen sich in irgendeiner Ecke, aus der man sie nicht mehr herausbekommt. Und wenn man sie zu sehr unter Stress setzt, werden sie krank und sterben. Ich beschloss also, statt den Gedanken zu versuchen einzukreisen und aus seinem Gedächtnisloch herauszutreiben, diesen Text hier zu verfassen und begann also, ihn zu schreiben. Beim Schreiben denke ich, dass bestimmt schon mal jemand einen solchen Text über einen verlorenen Gedanken geschrieben hat. Und denke darüber nach, wie ich herausfinden kann, ob schon mal jemand einen Text über einen verlorenen Gedanken geschrieben hat. Google, denke ich und google ...

Donnerstag, 5. Dezember 2013

Kommentar 16 - Der Schrei 4 [Tuba, mit Dämpfer]

Brgh.

Kommentar 15 - Für das Duale System Deutschland oder: Warum Begriffshygiene so wichtig ist

Begriffe sind wie das Duale System Deutschland. Eigentlich sollte alles schön säuberlich getrennt sein, am Ende schmeißt aber doch jeder seinen Kram rein, wo er will. Dann ist man die ganze Zeit beschäftigt, den Leuten zu erklären, dass in die Gelbe Tonne aber nur Plastik und Verpackungen reindürfen, und als Argument kommt zurück, dass das Gelb der Tonne doch eigentlich ziemlich grünstichig sei und man deshalb auch Biomüll reinwerfen dürfen müsse (ja, ich habe gemerkt, dass ich in diesem Vergleich unglücklicherweise als der Chefaufseher des DSD rüberkommen, aber sei's drum). Noch nie was von Strukturalismus gehört? Davon, dass die Begriffe nur in ihrer Relation zu anderen Begriffen einen Sinn haben oder auch bekommen und nicht für sich selbst inhaltsfähig sind. Um es anders zu sagen: Es spielt gar keine Rolle, ob die Gelbe Tonne gelb oder grüngelb oder auch lila und noch nicht mal, ob es eine Tonne oder ein Sack ist. Die Abgrenzung zur Grünen oder Schwarzen Tonne macht erst den Charakter der Gelben Tonne aus. Erst durch das Netz der Tonnenbeziehungen untereinander wird klar, wofür jede Tonne steht. Natürlich gibt es auch dann noch immer Grenzfälle, ich weiß zum Beispiel nie, wo ich die Tetrapacks reintun soll und werfe sie manchmal in die Gelbe Tonne und manchmal in die Papiertonne. Und es gibt auch unerfüllbare Forderungen nach Genauigkeit, dass beispielsweise der entsorgte Müll in der Gelben Tonne ausgewaschen werden soll. Ein wenig Spielraum gibt es ja immer.
Jetzt stelle man sich vor, man trennt immer fein ordentlich seinen Müll, und dann beobachtet man eines Tages seinen Nachbarn dabei, wie er einen Haufen Altpapier in seine Gelbe Tonne wirft. Man spricht ihn darauf an (ja schon klar, ich bin in diesem Fall der spießige Beobachter). Der Nachbar antwortet, er habe sich mal intensiv Gedanken darüber gemacht und sei darauf gekommen, dass Papier ja auch ein Recyclingstoff sei. Deshalb habe er beschlossen, das Papier ebenfalls in die Gelbe Tonne zu werfen und sich das Geld für die Leerung der Papiertonne zu sparen. Na gut, denkt man, irgendwie hat er ja nicht unrecht, lass ihn doch machen. In den nächsten Tagen sieht man, wie der Nachbar immer wieder mit anderen Nachbarn spricht und diese daraufhin auch damit anfangen, ihren Papiermüll in die Gelbe Tonne zu werfen. So langsam beginnt man sich selbst für dumm zu halten, weil man nicht auf den Zug aufspringt und viel Geld spart. Ein paar Tage später macht man einen Spaziergang und als man an den Tonnen des Nachbarn vorbeikommt, stinken diese ganz erbärmlich nach Verrottetem. Komisch, denkt man, ist doch nur Papier und Grüner Punkt drinne, was stinkt denn da so? Eines Abends, es ist ein lauer Sommerabend, sitzt man auf seiner Terrasse, trinkt ein Gläschen Wein. Da bemerkt man im schummrigen Licht der Straßenlaterne eine dunkle Gestalt, die sich an den Mülltonnen zu schaffen macht. Man geht in den Garten, um einen Blick auf den geheimnisvollen Fremden zu erhaschen. Siehe da, es ist der Nachbar. Er holt aus der Gelben Tonne die Säcke mit Recyclingmüll raus und schüttet Biomüll rein. Dann deckt er den Biomüll mit dem Recyclingmüll zu, schließt den Tonnendeckel, schaut sich einige Male verstohlen um und geht wieder in's Haus. Schlau, der Nachbar, denkt man, Biomüll ist ja auch irgendwie Recyclingmüll und inzwischen spart er sich schon die Abholgebühren für zwei Tonnen. Anscheinend haben auch die anderen die Masche des Nachbarn kapiert, auch ihre Tonnen beginnen in der sommerlichen Hitze zu stinken wie faulende Fischinnereien am Strand. Denn die Gelben Tonnen werden nicht wie der Biomüll wöchentlich, sondern nur alle vier Wochen abgeholt. Über das gesamte Wohnviertel legt sich eine widerliche Geruchswolke, man geht schon gar nicht mehr aus dem Haus und hofft nur, dass endlich der Tag der Müllabholung kommen möge. Er kommt auch, aber vom Fenster aus sieht man, wie die Müllmänner die Deckel der Gelben Tonnen anheben und sich voller Ekel die Hände vor den Mund halten. Sie knallen die Deckel wieder zu, holen aus der Hosentasche rote Aufkleber und pappen sie auf die Gelben Tonnen. Und fahren - die Tonnen ungeleert stehenlassend - weiter. Der Aufruhr im Viertel ist natürlich groß. Die Nachbarn sammeln sich auf der Straße, diskutieren aufgeregt, fuchteln mit den Armen. Dann fassen sie offensichtlich einen Plan, sie zerstreuen sich wie auf Kommando. Wenig später fährt einer der Nachbarn mit einem Pritschentransporter vor. Die Gelben Tonnen werden auf die Pritsche geladen und gemeinsam fährt man im Troß weg. Spät abends sieht man die Nachbarn mit leerem Transporter, vollkommen verschmutzten Klamotten und hundemüde wiederkommen. Gelbe Tonnen haben sie jetzt nicht mehr, aber ist Grüner Punkt nicht doch auch irgendwie Restmüll? Wird doch eh alles auf eine Deponie gekarrt...
Und die Moral von der Geschicht? Naja, wer das nicht verstanden hat, dem ist auch nicht mehr zu helfen.

Dienstag, 3. Dezember 2013

Kommentar 13 - Der Schrei 2 [nach 'The Raven' von E.A. Poe]

.Hgra

Kommentar 5.4 - Das alte Rein-Raus-Spiel

Man könnte ja meinen, ich suchte mir absichtlich Stücke aus, die ich nicht mag, um sie dann auseinanderzunehmen. Das stimmt nicht. Deswegen heute mal die Besprechung von:

Michael Beil - Exit to Enter

(es gibt eine alternative Version vom Ensemble Mosaik, in der Nadar-Fassung sieht man allerdings besser, was so auf und neben der Bühne passiert)

Ob Michael Beil sich selbst dem Neuen Konzeptualismus zuordnen würde, weiß ich nicht. Spielt auch keine Rolle. Ich will ihn da auch nicht reindrücken, wenn er partout nicht rein will, auch wenn ich nicht weiß, was dagegen sprechen würde und warum er sich, wenn denn, dann so ziert, auf jeden Fall finde ich, dass seine Arbeiten, vor allem mit Ensemble und Video, einen ziemlich ausgeprägt konzeptuellen Denkansatz haben.

Der Titel beschreibt schon ziemlich erschöpfend das (optische) Konzept des Stückes: Rausgehen um reinzukommen. Die Instrumentalisten kommen also zuerst mal rein und setzen sich vor eine weiße Leinwand auf einen Drehstuhl. Dann machen sie irgendwas oder auch nicht. Das wird gefilmt. Dann gehen sie raus und kommen gleichzeitig wieder rein, jetzt allerdings als Videoprojektion nebenan, also im virtuellen Raum. Das geht runde zwei Minuten so in Stille, nur zweimal spielt das Ensemble die Grundfigur des gesamten Stückes (wie sich später herausstellt) in diese Stille hinein, eine merkwürdig in sich selbst verzwirbelte Linie. Allmählich werden die Aktionen der Instrumentalisten konkreter, sie bringen Requisiten mit, zuerst mal Stöcke. Mit diesen Stöcken tun sie so, als spielten sie ein Instrument. Man erkennt das Gemeinte sofort: Schlagzeug, Geige, Cello, Blasinstrument. Es ensteht der Verdacht, dass in einem nächsten Schritt diese "Fake"-Bewegungen irgendwie mit Musik unterfüttert werden. Und prompt bestätigt sich diese Vermutung, bei 2'20'' beginnt es auf den Schlag des Perkussionisten mächtig zu brummen und zu glissandieren. Naja, hätte man sich eigentlich denken können, dass die virtuellen Spieler auch ein virtuelles Instrumentarium verpaßt bekommen. Und virtuell in Musik übersetzt ist halt elektronisch. Auch die Linie, die vorher noch so brav vom Ensemble intoniert wurde, taucht wieder auf, lautstärketechnisch extrem angehoben, so dass man das Gefühl hat, man sitzt in einer Flöten- oder Klarinettenröhre drin und hört das Klappern der Klappen. Alle diese Mengen von Elementen werden in den folgenden Minuten weiter miteinander verflochten, bereichert um andere Elemente (zwischendurch wird auch mal mit Daheim telefoniert: "Haaalo?"). Die Entwicklungstendenz ist klar: Es wird konkreter, das heißt also unvirtueller: Die abstrakten mitgebrachten Gegenstände werden allmählich durch richtige Instrumente ersetzt, klanglich setzt sich das live-Spiel des Ensembles immer mehr gegen die elektronische Wand durch. Damit einher geht die "kontrapunktische" Verflechtung der Linie mit zeitlich gestauchten bzw. gestreckten Versionen ihrer selbst. Während das Ensemble natürlicherweise die "menschlichen" Metren übernimmt (32tel und aufwärts), wird die Hauptlinie elektronisch entweder sehr schnell oder sehr langsam abgespielt (hatten wir ja schon mal). Bei 7'50'' bleibt dann nur noch die Viertelversion der Linie mit elektronischem Sirren übrig (offensichtlich - die Partitur ist da nicht ganz klar - die Linie in 32facher Geschwindigkeit abgespielt). Passend dazu dreht sich eine Akteurin ganz, ganz schnell auf ihrem Stuhl (also im Video). Damit wissen wir spätestens bei 8'40'': die Linie ist abgefrühstückt. Wunderbar. Was jetzt? Schließlich zeigt das Youtube-Video noch 6 Minuten Spieldauer an. Wie wäre es nach dem doch recht motorischen ersten Teil mit einem etwas, nun ja, gefühlvolleren, ja, ich spreche es aus: melodiöserem Teil? Gleich, gleich, erstmal ein transitorischer Teil, der den Viertelpuls nochmal aufnimmt, das musikalische Material ist offensichtlich der Linie verwandt, wird jetzt aber rhythmisch charakteristischer aufbereitet: (in 16teln) taa-taa-taa-taa=ta-ta-ta-ta-ta=taaaa (ab 9'01''). Dann wird's aber schön. Richtig schön. Also nicht so Neue-Musik-schön, wo sich einem die Fußnägel hochrollen, aber man, weil man ja das Hören neu gelernt hat, die ganze Zeit über lächelt, bis man Lippenkrämpfe bekommt. Nein, es wird so richtig altmodisch, vielleicht leicht morbide, postindustrial schön. Dabei aber keineswegs kitschig. Zu einer mittig aufgewölbten Linienversion (man stelle sich den von der Schlange verspeisten Elefanten aus dem Kleinen Prinzen vor) vom Band sehen wir die leeren Video-Stühle wie zu Beginn. Ein Hauch von postapokalyptisch entvölkerter Erde weht mich an. Auch nicht kitschig, wie man anhand meiner Beschreibung vielleicht denken könnte.  Dann kommen gebückt zwei Instrumentalisten und spielen wieder fakemäßig auf ihren Fake-Instrumenten. Diesmal also andersrum: Erst der Klang, dann das Bild. Plötzlich, bei 11'36'', platzt das Glissando-Brummen vom Anfang wieder herein. Danach werden eine ganze Menge Hüte auf- und wieder abgesetzt, während die Linie wieder auftaucht, zuerst im tiefen Klavier. Jetzt aber ist sie ziemlich zerfasert, die Klangfarben wechseln bisweilen tonweise, häufig jedoch phrasenweise, was sie bisher nicht getan haben, was wiederum jetzt dem instrumentalen Klang einen elektronischen Anstrich gibt, so als spielte ein Sampler die Töne. Im Video sieht man dazu, wie die Klarinettistin sich selbst die Klarinette weiterreicht. Jedesmal, wenn sie dann wieder spielt, erklingt dazu ein anderes Blasinstrument. Zum Schluß kommt wieder der Mann mit dem Hut und mit einem Stuhlquietschen, in "echt" gespielt von der Klarinette, hört das Stück auf.
Ich muss sagen, ich mag "Exit to Enter". Eigentlich. Die Struktur ist ganz klar, die Verhältnisse zwischen Video, Szene und Musik sind ganz klar und die musikalische Faktur ist ebenfalls ganz klar. Durch das Zurückziehen auf eine relativ simple / banale Tonlinie schafft sich Michael Beil den Raum für den ganzen Rest drumrum, das Video, die Szene, das Audiozuspiel. Es ist aber auch nicht so, dass die Musik zur Begleitung verkommt, sie führt ein eigenständiges, im echten Sinne kontrapunktisches Leben. Die Zusammenführung all dieser verschiedenen Medien in einem Stück fordert aber auch Opfer. Die Dramaturgie ist bestenfalls konventionell: das Stück wird dichter, dann wirds ruhiger, dann wirds faserig mit Material vom ersten Teil. Und der interpretatorische Spielraum ist natürlich extrem gering. Die Instrumentalisten müssen im Millisekundenbereich genaue Aktionen ausführen. Da bleibt kein Platz für subjektive Färbungen, alles muss ineinandergreifen, sonst fällt die ganze Chose in sich zusammen. Es hat was von einer gut geölten Nähmaschine. Auf manche Sachen könnte ich auch verzichten, so auf die notorischen Drehungen auf dem Stuhl, die sich recht schnell abnutzen, oder auf die sich selbst weitergereichte Klarinette oder die Hutwechselspiele am Schluss (jaja, der Klang ist auch nur ein Hut, den die Instrumente sich aufziehen), die nette Effekte sind, aber irgendwie auch keine weitere Erkenntnis generieren. Überhaupt ist die Sache mit der Erkenntnis so eine Sache. Umberto Eco hat ja mal geschrieben, dass die Kunst kein Werkzeug der Erkenntnis sein wollen darf. Weil sie das einfach nicht sei. So gesehen hat "Exit to Enter" die Eco'sche Prämisse voll erfüllt. Denn eine Erkenntnis aus dem multimedialen, wenn auch gut gemachten, Feuerwerk zu destillieren, das ist mir trotz zehnmaligem Hören nicht gelungen. Die Frage ist ja immer, was ich von außen an Erkenntnisgewinn (man hört es schon, ich halte von Ecos Verdikt nichts) an ein Kunstwerk herantrage und was ich direkt aus dem Kunstwerk ableite oder darin verankern kann. Dass diese Frage in mir bei "Exit to Enter" besonders hartnäckig sich hielt, halte ich in Mahnkopf'scher Tradition für einen Fehler des Kunstwerks. Es bietet bei aller Oberflächenpolitur keine oder nur unzureichende oder nur vermeintliche Anknüpfungspunkte für irgendwelche Erkenntnisse. Für ein instrumentales Theater wird zu wenig "Geschichte" erzählt, für ein Ensemblestück wird zuviel Video gezeigt und für eine Videoinstallation wird zuviel Musik gemacht. Das mag sich nach der Suche für eine Schublade anhören, verweist aber eigentlich auf den hochgradig abstrakten, oder vielmehr technizistischen Charakter des Beil'schen Konzepts. Irgendetwas scheint mit den Komponisten zu geschehen, wenn sie sich in PureData-Patches, Video-Beamern und Inszenierungen verlieren. Ach, genau: Sie verlieren sich in PureData-Patches, Video-Beamern und Inszenierungen. Jeder auf die ihm eigene Weise.

Kommentar 12 (5.1.2) - Was ich neulich mal dachte 3

Neulich mal dachte ich, dass eigentlich heute keinem mehr ein Kompositionsdiplom in die Hand gedrückt werden dürfte, der nicht in der Lage ist, ein stinknormales Poplied zu texten, zu arrangieren, eigenständig aufzunehmen und auf SoundCloud hochzuladen.

Kommentar 11 - Der Schrei 1

Argh.

Montag, 2. Dezember 2013

Kommentar 10 - It is on!

Grabenkämpfe um die Diesseitigkeit und den Neuen Konzeptualismus

Der Verteilungskampf hat begonnen. Das letzte Gefecht. Nö, nicht um's Öl, um die letzten Süßwasserreserven oder um die letzten Bauplätze für Penny-Märkte auf der Grünen Wiese. Es geht um nichts Geringeres als um die Zukunft der Neuen Musik. Oder um ihre Nicht-Zukunft. Je, nachdem, auf wessen Seite man ist.
Was ist da los im behaglich warmgeheizten Salon der Neuen-Musik-Szene? Alles beginnt da, wo es immer beginnt, wenn was beginnt in der Neuen Musik: in Darmstadt. Da hat 2012 Michael Rebhahn einen Vortrag gehalten mit dem tollen, von Beuys geklauten zitierten Titel: "Hiermit trete ich aus der Neuen Musik aus". Darin gibt er einen Statusbericht der Neuen Musik, den ich hier nicht nochmal wiederkäuen will, weil er altbekannt ist: fehlende Bindung zur Gesellschaft, fehlende Relevanz, fehlende Innovation. Und gibt abschließend seiner Hoffnung Ausdruck, die junge Komponistengeneration im Zeichen der "Diesseitigkeit" und des "Neuen Konzeptualismus" möge ihren Weg abseits der Neuen Musik beibehalten. "Aufgeregte" Diskussionen folgten, u.a. hier. Ich fand und finde den Text eigentlich nicht so wahnsinnig revolutionär, denn die Zustandsbeschreibung wird auch nicht dadurch spannender, dass man sie zum hundertstenmal runterleiert. Es stimmt alles, was darin steht, und auch das Mut-Zusprechen für diejenigen, die einen anderen Weg gehen (wollen) ist ja irgendwie rührend. Inwiefern die "Diesseitigen" und die "Neuen Konzeptualisten" tatsächlich jenseits der Neuen Musik stehen, das ist eine Frage, die nicht so einfach zu beantworten ist. Schließlich bedienen sie sich zu großen Teilen deren Institutionen, werden auf den einschlägigen Festivals aufgeführt, melden sich in den einschlägigen Postillen zu Wort und veröffentlichen CDs bei den einschlägigen Labels. Äußerlichkeiten? Vielleicht. Vielleicht aber auch ein Zeichen dafür, wie problemlos sie an der Versorgungsleitung des Mutterschiffs gehalten werden können. Das wiederum würde auf eine nur unzureichende Umsetzung ihres Anspruches, jetzt endlich mal nicht mehr Neue Musik zu machen, hinweisen. Ich hatte ja schon angedeutet, dass ich das, was teilweise im Neuen Konzeptualismus unter Konzeptualismus verstanden wird, bloß für eine Art Materialfortschritt der zweiten Ebene halte. Wie auch immer, Rebhahns Text könnte man wohlwollend als journalistische Anschubfinanzierung verbuchen und das ist ja absolut okay.
Daraufhin, oder vielleicht nicht daraufhin, jedenfalls danach, wurden Rebhahn, Kreidler und Seidl nach Harvard eingeladen, um über ihre jeweiligen Konzepte zu sprechen (Austritt, Neuer Konzeptualismus, Diesseitigkeit). Diesmal holte Rebhahn in seinem Text "No Problem" etwas weiter aus und nannte nicht nur Namen von Komponisten (und das nicht gerade in besonders schmeichelhaften Zusammenhängen), sondern schlug vor, gleich zwei Ghettos aufzumachen, eines für die "Zeitgenössische Klassik" und eines für die "Neue Musik". Im ersteren sollen all diejenigen sich einfinden, die Neue Musik wie bisher machen (wollen), ihre Musik aber nicht mehr so nennen dürfen, im letzteren die, die keine Neue Musik mehr machen (wollen), ihre Musik aber jetzt so nennen müssen. Merkwürdigerweise fanden nicht alle diese Idee so super durchdacht wie ich. Naja, mal abgesehen davon, dass hier natürlich von Rebhahn ein McGuffin ausgelegt wurde, auf den sich prompt alle gestürzt haben, sind solche allgemein gehaltenen Texte eigentlich nie besonders erhellend. Ich bin ja der Auffassung, dass der ästhetische Diskurs sich nur und ausschließlich an konkreten Kunstwerken festmachen kann, sofern er davon handeln will. Wenn er für sich selbst so vor sich hinnuschelt, dann ist er möglicherweise selbst ein literarisches Produkt, aber kein Erkenntniswerkzeug für die Kunst der Gegenwart.
Auf jeden Fall ging die Diskussion jetzt erst so richtig los. Ausgerechnet den Vorschlag zur Trennung von "Zeitgenössischer Klassik" und "Neuer Musik", der ja nun wirklich gar nicht anders als ironisch verstanden werden kann, ausgerechnet diesen offensichtlich zur Provokation ausgelegten Bissen hat nun in der aktuellen NMfZ (Nr. 6, 2013) Stefan Drees ge- und sich daran verschluckt. In diesem Artikel ("Musikjournalismus als Propagandamaschine") wird nun das ganz große Geschütz aufgefahren. Die pejorativen Begriffe in dieser Schrift sind Legion: "Scheinargumente", "Deckmäntelchen", "Revierverhalten", "Propaganda", "Werbebranche", "Produktdesign", "Audiobranding", "Weltbildkontrolle", "Personenkult", "Glorifizierung", "Jargon", "eklatanter Mangel", "Worthülsen", "Schlagworte", "seltsam", "Werbebotschaft", "Pressesprecher-Mentalität", "neue Mythen", "Totalitarismus" (um nur die wichtigsten in chronologischer Reihenfolge zu nennen). Ich finde, man braucht den Text gar nicht mehr zu lesen, die Stilhöhe und Stoßrichtung sind durch die Aufzählung der Begriffe schon klar. Nur ein Nazi-Vergleich fehlt noch, ich bin aber zuversichtlich, dass der in nachfolgenden Texten noch kommt. Mit dem Vorwurf des "Totalitarismus" sind wir ja schon in Wurfnähe. Offensichtlich ist Stefan Drees irgendetwas ganz sauer aufgestoßen, es wird nur nicht ganz klar, was eigentlich. Im Ernst kann er ja nicht glauben, was er da faselt schreibt. Die Verteidigung der Demokratie als Aufgabe des Musikjournalismus, ich weiß gar nicht, ob ich es nochmal extra hinschreiben soll, aber gut: Das ist doch wohl ganz großer Quatsch. Selbstverständlich hat jeder das Recht, seine eigene Position als einzig gültige darzustellen (wobei Rebhahn das ja gar nicht tut, sehr wohl aber Drees), vor allem im ästhetischen Diskurs, wo es ja nicht um Menschenleben geht (noch nicht, möchte man nach der Lektüre von Drees' Text meinen), sondern um gedankliche Konstrukte, um den gedanklichen Vorgarten von Kunstwerken. Vor allem die beteiligten Komponisten, die sich auch schon in Stellungnahmen zu Drees' Text geäußert haben, besitzen jedes Recht, ihre eigene Haltung zu verabsolutieren. Dass ihre Haltungen möglicherweise hinterfragbar und kritisierbar sind, ist etwas völlig anderes, als von vorneherein von ihnen zu verlangen, sie oder die Mechanismen ihrer Verbreitung sozusagen erstmal "demokratisch" abzugleichen. Selbiges gilt auch für die Texte von Michael Rebhahn. Natürlich darf er behaupten, der "Neue Konzeptualismus" oder die "Diesseitigkeit" seien die in seinen Augen erfolgversprechendsten Wege aus der Sackgasse Neue Musik. Natürlich darf er auch bestimmte Komponisten als Beispiele für den zugeparkten Wendehammer heranziehen. Selbstverständlich darf Gisela Nauck die Komponisten promoten, die sie für richtig hält. Und selbstverständlich kann man das alles auch für falsch halten. Aber so ist das mit Debatten im luftleeren (=werklosen) Raum: Sie verselbständigen sich und jeder kann alles mögliche mit allem möglichem behaupten und widerlegen.
In einem hat Drees wohl recht, aber nicht so, wie er meint: Es geht um die Verteilung der Ressourcen in der Neuen Musik. Ja natürlich, um was denn sonst? Das kann man als "Revierverhalten" abtun, aber Drees' Text ist ja auch nichts anderes, als der Versuch, seine eigenen Marken zu setzen. Sieht man sich auf seiner Homepage die Veröffentlichungsliste an, dann wird schon klar, woher der Wind weht. Glanert, Chin, Kalitzke, Neuwirth; das sind alles wohlbekannte und respektierte Namen aus der alten Neuen Musik. Wie gesagt, es ist Drees' gutes Recht, an einer Neuen Musik festzuhalten, an der nicht mal mehr der Name neu ist. Dann soll er es aber auch hinschreiben und sich nicht als Vorkämpfer der Demokratie im Musikjournalismus (sehe nur ich diese vollkommen absurde Wortkombination?) aufspielen.
Nur der Anfangssatz von Drees' Artikel, der gefällt mir wirklich gut: "Liebe Leserinnen und Leser: Schätzen Sie Musik von Komponistinnen und Komponisten wie Jörg Birkenkötter, Sven-Ingo Koch, Isabel Mundry, Rebecca Saunders, Johannes Schöllhorn oder Daniel Smutny?" (NMfZ, S. 27, Nr. 6, 2013)
The fight is on. Ich bin gespannt auf die nächsten Züge.

Freitag, 29. November 2013

Kommentar 9 - Schon wieder Geld, aber diesmal keine Kunst

Gestern lese ich diesen Artikel in Spiegel Online. Interessant, denke ich, es gibt tatsächlich einen Verein, der "Bürger für Beethoven" heißt. Und dieser Verein will, dass Beethoven als immaterielles UNESCO-Weltkulturerbe geschützt wird. Aha. Und im Koalitionsvertrag der neuen schwarz-roten Regierung steht offensichtlich drin, dass die Beethoven-Festspiele zum 250. Geburtstag eine "nationale Aufgabe" sein sollen. Im KOALITIONSVERTRAG !!!! Nie was drüber in der Tagesschau gehört. Wurde anscheinend in langwierigen Geheimverhandlungen auf höchster Ebene beschlossen. Wahrscheinlich will man die SPD-Basis nicht noch vor dem Votum aufschrecken. Und hat das Ganze deshalb so niedrig gehängt. Na gut, das ist ja kein politischer Blog hier, ich bin sicher, von diesem Passus im Koalitionsvertrag werden wir später noch gaaanz viel hören ...
Aber dieser Verein in Bonn, der läßt mir keine Ruhe. "Bürger für Beethoven", das klingt, als würden in der ganzen Republik Beethoven-Konterfeis geschändet, Beethoven-Büsten zertrümmert, Henkel von Beethoven-Tassen abgeschlagen und Beethoven-Jutetaschen verbrannt. Steht es wirklich so schlimm um einen unserer nationalen Heroen? Muss Beethoven geschützt werden? Und wenn ja, vor wem?
Mein Puls ist schon bei hundertachzig, mit brennender Sorge über die zunehmende Missachtung unseres Weltgenies lese ich weiter. Beethoven soll als "Bestandteil lebendiger Alltagskultur der Menschen in Deutschland und in der Welt" erhalten bleiben. Okay. Finde ich gut. Die "Ode an die Freude" kann ich gar nicht oft genug hören. Vielleicht bekommt der Verein durch verstärktes Lobbying ja noch einen Satz in den Koalitionsvertrag, in dem die Aufführung des vierten Satzes der Neunten Symphonie in jedem Konzert mit klassischer oder auch zeitgenössischer Musik gefordert wird. Wobei der Status der zeitgenössischen "Musik" als Musik eventuell durch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss geklärt werden müßte. Aber auch für den Fall, dass der Abschlussbericht des PU's trotz prominenter Zeugen ("Herr Rihm, äußern Sie sich zu den vorgebrachten Anschuldigungen!") abschlägig ausfällt, kann es ja nicht schaden, die "Ode" trotzdem in den Konzerten mit zeitgenössischem Quatsch zu spielen. Dann gibt es wenigstens ein Stück ordentliche Musik zu hören. Nö, also da kann ich wirklich nichts dagegen sagen, "lebendige Alltagskultur" finde ich toll, genauso "Menschen"; und auch "Deutschland" und "die Welt" sind schöne Wörter.
Ich überlege schon, dem Verein beizutreten, ich bin schließlich "Bürger" und "für Beethoven". Dann lese ich aber noch weiter und folgendes:
Nach Eisels [dem Vorsitzenden des Vereins] Ansicht könnte das "nationale Beethoven-Signal im Koalitionsvertrag" auch dem Bauprojekt eines Beethoven-Festspielhauses in Bonn einen Schub geben. Der Bund will für den Betrieb eines solchen Festspielhauses 39 Millionen Euro zur Verfügung stellen. (Spiegel Online vom 28.11.2013)
Moment mal, denke ich, das kann ja gar nicht sein. Diese Spiegel-Schreiberlinge sind doch wirklich perfide. Stellen einen Zusammenhang zwischen dem Bemühen eines ehrenwerten Vereins in Bonn um das ehrende Angedenken eines Nationalheiligtums und der schnöden Finanzierung eines unnötigen großartigen Festspielhauses her. So geht es ja nun nicht, liebe Spiegel-Redakteure. Ich will mir ein eigenes Bild machen. Eilig gehe ich auf die Internet-Präsenz meines Vereins. Tolle Seite übrigens. Oben als Banner ein schönes Autograph vom Meister himself (natürlich die "Mondscheinsonate", das schönste aller schönen Stücke) und davor ein Violinkorpus. Mit wunderschöner Handwriting-Schrift darüber der Name des Vereins. Ich bin schonmal begeistert. Meine Begeisterung wächst mit dem schönen Artikel zum Weltkulturerbe-Anliegen. Wasserdichte Argumentation. Beethovens Kopf ist ein vielbenutztes Motiv. Die 9. und das Anfangsmotiv der 5. Symphonie sind allgegenwärtig. Viele Straßen wurden und werden nach dem Genie benannt. Und Richard von Weizsäcker ist auch dafür. Unter dem Artikel hunderte Beweisphotos von Beethoven als "Bestandteil der Alltagskultur". Also wenn dieser Antrag nicht durchgeht, dann hat sich die Welterbe-Kommission nur selbst lächerlich gemacht.
Neben dem Artikel ein kleiner, verschämter Hinweis auf die Spendenaktion für das neue Festspielhaus (übrigens mit einem tollen Bild, das Beethoven Zieharmonika spielend vor irgendeinem Sockel sitzend zeigt). Natürlich klicke ich drauf. Gleich oben auf der Spendenseite der Hinweis, dass Spenden an den Verein steuerlich abzugsfähig sind. Gut zu wissen! Unten ist der Beethoven-Taler abgebildet, aus dessen Lizenzeinnahmen ein Teil der Kosten für das Festspielhaus bestritten werden soll. Gelungenes Design, muss ich sagen. Und man kann draufklicken. Wunder der modernen Technik. Ach so, es ist ein Schokotaler. Ich dachte, es sei eine Silbermünze. Aber klar, Schokolade und Beethoven, das gab's noch nicht in der "Alltagskultur", und so bleibt der Verein seinem Anliegen konsequent treu. Schmeckt bestimmt super, zumal es ganz unterschiedliche Geschmacksrichtungen gibt. Keine Frage für mich, da mache ich mit. Unschlüssig bin ich nur noch, ob ich nun das kleine "Goldtaler"-Lizenzpaket für 10.000 € im Jahr nehme, oder doch gleich das "Platintaler"-Paket für 25.000 €.
Wieder zurück auf der Vereins-Seite lese ich, dass nicht nur der Bund bereits 39 Mio. Euro zugesichert hat, sondern dass die "DAX-Unternehmen" (nicht etwa irgendwelche popeligen ausserbörslich notierten Klitschen) DHL, Postbank, und Telekom 75 - 100 Mio. Euro beisteuern wollen. Und dass die "Bürger für Beethoven" auch alle Mitglied bei den "Fest.Spiel.Haus.Freunden" sind (also den Festspiel Hausfreunden). Halt, halt, halt, denke ich, nochmal der Reihe nach. Es ging doch darum, dass wir wieder mehr Beethoven-Kopf-Bilder in deutschen Fussgängerzonen und mehr Teilaufführungen der 5. Symphonie brauchen. Was sollen wir denn da mit einem Festspielhaus? Ich bin ja wirklich Beethoven-begeistert, aber ein 100 Mio. teures Haus, um darin das Anfangsmotiv der 5. und den Schlussatz der 9. aufzuführen und im Foyer Beethoven-Büsten aufzustellen, das kommt mir dann doch etwas aus der Relation geraten vor. Auch wenn die DAX-Konzerne (also nicht irgendwelche kleinen Klitschen) Postbank, DHL und Telekom einen Riesenhaufen Geld zuschießen, der Bund muss ja trotzdem die 39 Mio. liefern. Vielleicht könnte er ja bloß 34 Mio. nach Bonn transferieren und dem unheimlich klammen SWR 5 Mio für den Erhalt des Baden-Badener und Freiburger Orchesters rüberschieben. Ach nein, da fällt mir ein, dass die ja gar keinen Beethoven spielen. Oder nur ganz selten. Die machen diesen Neue-Musik-Quatsch. Neee, dann lass mal. 39 Mio. nach Bonn für die Schokotaler und gut is. Also ich bin dafür! Und rufe hiermit zur Gründung des Vereins "Bürger für 'Bürger für Beethoven'" auf.

Freitag, 22. November 2013

Kommentar 5.3 - Also Krieg, ne, Krieg, ich sach mal so, so 'n Krieg, das is' wirklich 'ne schlimme, schlimme Sache / Fetzen einer Poetik 3

Weiter geht es mit meiner Reihe der Verrisse Analysen von Werken des Neuen Konzeptualismus. Heute:

Stefan Prins - Generation Kill

Ich war da. Höchstpersönlich. Bei der Uraufführung von Generation Kill von Stefan Prins bei den Donaueschinger Musiktagen letztes Jahr. Und ich muss sagen, das "Erlebnis" kommt in dem Youtube-Video nicht einmal annähernd rüber. Es war laut. Unheimlich laut. Und lang. Unheimlich lang. Fünfundzwanzig Minuten können sich wirklich ziehen, wenn man beinahe ununterbrochen mit Klang im eher unangenehmen Frequenzspektrum beschallt, nein, was sage ich, angeschrieen wird.

Um was geht's also in dem Stück? Stefan Prins läßt uns glücklicherweise nicht im Unklaren darüber. Ich paraphrasiere mal aus dem Programmhefttext: Der Arabische Frühling hatte viel von seiner Wucht den sozialen Netzwerken (für diejenigen, die mit diesem recht neuartigen Begriff nichts anfangen können: zum Beispiel Facebook und Twitter) zu verdanken. Stefan Prins hat das aufmerksam verfolgt. Dann hat er sich im Internet (wo denn bitte sonst?) umgesehen und einen Trailer für eine Fernsehserie gefunden, die Verfilumg eines Buches, in dem es um die Erlebnisse eines "embedded reporters" während des zweiten Irak-Krieges geht. Darin (also in dem Buch) hat er ein Zitat eines Soldaten aufgegabelt, in dem dieser berichtet, stets mit einem "good song in the background" in die Schlacht zu ziehen. Außerdem, so Evan Wright, der Autor des Buches zur Fernsehserie, sei dieser Krieg der erste der "Generation Playstation" gewesen, und diese Generation habe einen sehr guten Job im Krieg gemacht. Stefan Prins ist zurecht entsetzt. Und beschließt, ein Stück über sein Entsetzen zu machen.
Da sitzen also vier Spieler mit Gamecontrollern mit dem Rücken zum Publikum vor der Bühne. Auf der Bühne sitzen vier Instrumentalisten (Geige, Cello, Schlagzeug, E-Gitarre) hinter halbdurchsichtigen Leinwänden. Auf die Leinwände werden Videoaufnahmen der Instrumentalisten projiziert, so dass sie sich mit den dahinter sitzenden echten Instrumentalisten überlagern. Die Aufnahmen werden von den vier Gamepad-Spielern gesteuert.
Klanglich bewegt sich das Ganze in eher glitchigen Sphären, wobei die Spannweite von sehr glitchig bis total glitchig reicht. Die Instrumente werden mit allem, was das Arsenal der erweiterten Spieltechniken hergibt, malträtiert bedient, eine Differenz zur elektronisch veränderten Zuspielung ist größtenteils nicht mehr auszumachen (ist ja auch klar, es geht immerhin irgendwie um Krieg in dem Stück und da kann man nicht erwarten, einen schönen, warmen Celloton zu hören). Die elektronischen Verfremdungseffekte werden durchwegs (zumindest im ersten Teil bis Minute 11) durch seeeeeehr laaaangsaaaames Aaaabspieeeeeel oderdurchsehrschnellesabspiel vorwärts oder sträwkcür erreicht. Das geht also mal mehr, mal weniger mehr dicht ungefähr elf Minuten lang in dieser spannungslos aufgeregten Art, dann stehen die Gamepad-Spieler auf und wechseln die Plätze. Das sieht (auf dem Video und in echt) irgendwie unbeholfen aus und wirkt völlig unmotiviert. Einziger Effekt ist, dass man während der folgenden sechs Minuten ständig versucht herauszufinden, warum die jetzt die Plätze gewechselt haben. Es ist nämlich keineswegs so, dass nun irgendwelche Über-Kreuz-Aktionen stattfinden. Das heißt: Vielleicht finden sie statt, vielleicht steuert also jetzt der Spieler auf Platz drei den Instrumentalisten (bzw. dessen Video- und / oder Audiozuspiel) auf Platz vier oder so. Aber man hat keine Möglichkeit herauszufinden, ob und wenn ja wie das geschieht. Man sieht nur eine Änderung in den Videoprojektionen, die nun nicht mehr frontal den Instrumentalisten zeigen, sondern live-Aufnahmen von links oben, die offensichtlich ebenso live gesampelt werden und forthin als Videozuspiel dienen. Außerdem sind nun Klang und Video voneinander entkoppelt, während sie in den ersten elf Minuten streng aneinandergebunden waren. Ob das alles etwas mit dem Sitzplatzwechsel zu tun hat, entzieht sich der Herausfindbarkeit.
Klanglich tut sich nichts, es ist und bleibt für die nächsten sechs Minuten glitchig, selbst wenn die echten Instrumente gespielt werden (siehe erweiterte Spieltechniken).
Dann, bei Minute 17 und ein paar, hören plötzlich alle auf zu spielen und wir sehen knapp zwei Minuten lang Videos von echten Drohnenangriffen. Also diese grünlichen Bilder, die wir aus den Nachrichten kennen, wenn mal wieder wahlweise ein Terrorist in seinem Unterschlupf oder eine Hochzeitsgesellschaft mit chirurgischer Präzision eliminiert wird. Mich überkommt ein leichtes Unwohlsein: Kann es wirklich sein, dass Stefan Prins den im Programmheft zusammengezimmerten Zusammenhang zwischen Computerspiel und echtem Krieg eins zu eins umgesetzt hat? Ich zweifle noch, nehme ihn innerlich vor mir selbst in Schutz. Aber dann geht das Stück weiter und wir sehen die Gamepad-Spieler selbst auf den Videoleinwänden, wie sie die Klänge steuern. Aha!! Damit wir nicht vergessen, was sie eigentlich steuern, sind immer mal wieder die grünlichen Bilder von den Drohnenangriffen dazwischengeschnitten. Und damit wirklich überhaupt gar kein Zweifel mehr aufkommt, lösen sich die Videozuspielungen der Instrumentalisten nach und nach in grüne (!) Pixel auf. Nur klanglich werden wir nicht weiter mit irgendwelchen Bezügen behelligt, das geht so in einem fort wie es vorher aufgehört hat, vielleicht ein bisschen dichter jetzt. Ganz am Schluss tauschen, weil das ja bei den Gamepad-Spielern schon so ein super Effekt war, nochmal die Instrumentalisten die Plätze und mit elektronischem Geknattere hört das Stück dann auf.

Ich muss zugeben, dass ich mich spätestens ab der Stelle mit den Drohnenvideos ein klitzekleines bisschen fremdgeschämt habe. Zu offensichtlich und eindeutig (= eindimensional) ist der Zusammenhang, den Prins herstellen will: Unsere Generation ist von der virtuellen Realität versaut und kann deshalb gar nicht mehr unterscheiden, wer oder was mit den Gamepads überhaupt gesteuert wird. Diese Aussage ist nicht nur von keinerlei Selbstreflexion angekränkelt, sie ist letztendlich auch wieder nur ein Gag, wenn auch ein unlustiger: Gamepad -> Klang- /Videosteuerung wird umgedeutet zu Gamepad -> Drohnensteuerung. Für einen bloßen Gag aber finde ich die Einspielung von Videos, in denen echte Menschen getötet werden, reichlich unangemessen, um nicht zu sagen: zynisch. Die Funktionalisierung von echten Todesopfern zum Wohle eines Konzeptes. Und nur das Konzept ist wichtig. Nicht irgendeine doofe Realität, die andauernd mit irgendwelchen Schattierungen daherkommt. Dass zum Beispiel irgendwelche alten Säcke älteren Herren, die mit einer Playstation bestimmt nichts am Hut haben, in irgendeinem Büro die Entscheidungen für bestimmte Einsätze oder Kriege treffen und schon lange darauf hinarbeiten, dass demnächst nicht mehr Menschen, sondern künstliche "Intelligenzen" die einzelnen Tötungsentscheidungen treffen, das würde die Prins'sche Gleichung nur unnötig verkomplizieren und wird daher ausgeblendet.
Wenn ich konkrete Aussagen über die Welt machen will, dann kann ich mich nicht einfach mit einer zurechtgestutzten Version der Welt abgeben. Damit mache ich ja genau das, was ich eigentlich "kritisieren" will: nämlich nicht die Welt (= die Menschen in ihr) als solche zur Kenntnis zu nehmen, sondern eine bloß virtuelle, vorgestellte, auf Linie gebrachte Version von ihr (von ihnen).

Stefan Prins wollte nach eigener Aussage ein Stück machen, das "on a society which is more and more monitored, on the increasing importance of internet, networks and social media, which are fuelled by video's taken with webcams and smartphones, on video-games and on wars fought like video-games, on the line between reality and virtuality which gets thinner by the day" reflektiert. Das ist eine ganze Menge Inhalt, selbst für ein 25minütiges Ensemblestück. Oder vielleicht auch nicht. Denn im Grunde stehen in diesem Text recht unverbunden einige ziemlich neumodische Schlagworte beieinander und treten sich gegenseitig auf die Füße. Wirklich etwas bedeuten (in dem Sinne, dass diesem Haufen von Signifikanten auch eine entsprechende Anzahl von Signifikaten entgegenstünde) tut das alles nichts. Genauso ist dann auch das dazugehörige Stück: ein Haufen Bedeutungsträger, die auf nichts verweisen, außer auf die ziemlich lahme Aussage, dass technisch heute so einiges möglich aber vielleicht nicht wünschenswert ist. Wenn ich mir den gigantischen Max/MSP-Patch vorstelle, der auf den Laptops der Gamepad-Spieler wahrscheinlich läuft, dann kann ich dieser Aussage nur zustimmen. Immerhin.


Donnerstag, 21. November 2013

Kommentar 8 - Märchenhaft

Der Heinrich von Ofterdingen von Novalis ist bestimmt kein hochaktueller Roman. Zu altmodisch, überholt, abgehoben, letztlich naiv wirkt dieser Versuch der (Re-?)Poetisierung der Welt. Die Landschaft ist wahlweise "reizend" oder "anmuthig", die Männer sind von "edler Gestalt", haben "klare, männliche" Gesichter, reden immer "freundlich" und "bescheiden", die Mädchen sind ausnahmslos "schön", "lieblich" und unheimlich leicht zu Tränen zu rühren. Überhaupt ist alles in dieser poetisierten Welt "mannichfaltig", "vorzüglich", "köstlich", "herrlich". Ich gebe zu, dass ich beim Lesen mehr als einmal von dieser unentwegten Flut von Adjektiven genervt war und am liebsten das Buch auf Nimmerwiedersehen zur Seite gelegt hätte.
Aber merkwürdigerweise hat mich diese beinahe schon unerträglich ideale Welt, durch die Heinrich auf seinem Weg zum Dichtertum wandert, dann doch nicht mehr losgelassen. Was ist eigentlich schlimm daran, dass die Menschen dort immer freundlich und in den ausgesuchtesten Worten miteinander sprechen? Was stört mich denn, wenn die Liebe sofort beim ersten Blick entbrennt und immer gleich eine ewige ist?
Natürlich haftet dem allem mehr als nur der Ruch des Eskapistischen an, und allzuleicht ist es, die heile (?), sorgsam von Novalis eingerichtete Welt zum Beispiel gegen die Auslotung der psychischen Abgründe beim ungleich aktueller wirkenden E.T.A. Hoffmann auszuspielen. Dabei ist die Konsequenz, mit der Novalis vorgeht, ziemlich beispiellos. Er schreibt genau den Roman, dessen Entstehungsbedingungen er mit seiner Schilderung einer idealen (= total poetisierten) Welt überhaupt erst schaffen will. Einen Roman, der sich gleichsam selbst schreibt, indem er geschrieben wird. Einen Roman, der mehrfach in sich selbst vorkommt. Ich würde mich sogar dazu versteigen, den Heinrich von Ofterdingen ein fraktales Gebilde zu nennen, das aus lauter selbstähnlichen, ineinandergeschachtelten Teilen besteht. Jedes im Roman erzählte Märchen und jede Lebensgeschichte, die Heinrich von seinen Bekanntschaften erzählt wird, enthält immer schon die (zum größten Teil ja unausgeführte) Gesamtanlage des Romans: den Weg zur Poesie, zur Totalpoesie. Im Grunde hochmodern, diese selbstähnlichen Strukturen, die ja sogar über den Buchkorpus sozusagen hinausreichen, indem der Roman selbst nur wieder auf seine nächsthöhere Schicht, nämlich das Leben verweist. Ein ideales Leben, selbstverständlich, ein unerreichbar ideales Leben. So wie der Roman als Fragment auch auf die Unerreichbarkeit seines eigenen Ideals verweist, so legt er in seiner bis zur Unerträglichkeit konsequenten Idealisierung die Differenz, nein, die Kluft zwischen Poesie und Leben offen. Darin ist er eigentlich fortschrittlicher als so mancher Roman aus dem nachfolgenden Realismus, der uns rein sprachlich vielleicht näher steht.
Ich habe mich jedenfalls mehrmals bei dem Gedanken ertappt, dass es doch wirklich schön wäre, wenn unsere Welt nur ein wenig mehr wie die des Heinrich von Ofterdingen sich anfühlte.

Mittwoch, 20. November 2013

Kommentar 7 (5.1.1) - the answer, my friend / Was ich neulich mal dachte 2

Neulich mal dachte ich, dass Kunst nicht immer nur Fragen stellen sollte. Kunst sollte Antworten geben: Welches IKEA-Sofa soll ich mir kaufen, welches Smartphone soll ich mir zulegen, brauche ich wirklich eine mobile Internet-Flatrate oder reicht eventuell eine Begrenzung auf 300MB, soll ich Winter- oder lieber Ganzjahresreifen draufmachen, mir einen Apple- oder Windows-Rechner kaufen oder endlich mal komplett auf Linux umsteigen, soll ich Salatdressing mit Honig oder mit Zucker machen, meine Bücher alphabetisch oder chronologisch sortieren, soll ich riestern oder lieber gleich eine Kapitallebensversicherung abschließen,eine Mütze aufziehen oder doch nur eine Kapuze, den Dreck auf dem Boden aufkehren oder aufsaugen, mich endlich mal bei Facebook anmelden, fertig geschnittenes Brot kaufen oder zuhause selbst schneiden, fettarme Milch oder Vollmilch (entrahmte Milch ist indiskutabel) einkaufen, Lätta oder Rama, Nutella oder "Schokocreme", Kuschelweich oder Dussy, den SPIEGEL oder FOCUS lesen oder keinen von beiden, soll ich die dreißig Meter zum Briefkasten schnell mit dem Auto fahren (es regnet immerhin ein wenig) oder mit dem Fahrrad oder vielleicht doch laufen, soll ich den Heizkörper auf "2" oder doch auf "3" aufdrehen, soll ich ARD und ZDF in HD schauen oder in SD, soll ich mir endlich mal einen Bleistift mit auswechselbaren Minen kaufen oder stattdessen einen elektrischen Bleistiftanspitzer, und braucht meine Geschirrspülmaschine überhaupt extra Reinigungssalz oder ist das schon in den Tabs drinne.
Ich habe genügend Fragen. Und warte auf eine Kunst, die sie mir beantwortet. Wer denn sonst?

Dienstag, 19. November 2013

Kommentar 6 (4a) - Noch mehr Geld für noch weniger Kunst

Als hätte ich es geahnt, lese ich in der ZEIT vom 14. November einen Kommentar von Hanno Rauterberg zum aktuellen Rekordpreis für ein Werk von Jeff Koons. Im Gegensatz zu Bacon lebt Koons ja noch, und das offensichtlich nicht schlecht. Jetzt hat also sein Balloon Dog (Orange) den hübschen Preis von 43,46 Millionen Euro erzielt. Für Hanno Rauterberg ein Anlaß, einmal über das Verhältnis von Kunst und Geld nachzudenken.
Naja, ich schreibe "nachdenken", meine aber eher "schwadronieren". Denn besonders erhellend sind Rauterbergs Einlassungen nicht. Da gibt es zum einen den berühmten "Künstlerkönig" Jeff Koons, den "immer bestens gelaunten Amerikaner", der "großformatige Nichtigkeiten" herstellt. Seine Arbeiten sind "nicht sonderlich originell, nicht radikal, nicht tiefsinnig oder gar provozierend". Weiter gibt es den heutigen Kunstmarkt als "globales Geschäft, oft oberflächlich, ortlos, ohne einen Hallraum, in dem ihr [der Kunst] Funke gewaltig zünden könnte". Dagegen war früher, in den good ol' times, alles besser, als Kunst noch Provokation war, als Künstler noch nicht ihre Werke zu Auktionen schleppten, sondern "den Traum von einer anderen, besseren Welt" träumten. Und zu guter Letzt gibt es die geistig hohlen Superreichen, die sich Kunstwerke als "Insignien der Macht" anschaffen, in denen sie ihren "eigenen Reichtum [...] feiern".
Rauterberg steht nach eigener Aussage ob dieser gezahlten Riesensumme für ein offensichtlich wertloses "Kunst"objekt vor einem Rätsel: "Was nur macht diesen Pudel so wertvoll?" Seine Antwort am Ende seines Ausfluges in das Reich des bösen Kunstmarktes: "Erst das Geld rettet das Ballon-Tierchen aus seiner Banalität und verleiht ihm einen scheinbar überzeitlichen Rang."
Man spürt förmlich, wenn man den Artikel liest, wie Rauterberg sich am liebsten permanent übergeben würde, wie er sich ekelt vor diesem Kunstzirkus, vor dem ganzen Geld, vor den Menschen, die darin eine Rolle spielen. Nur ist so ein starkes Gefühl wie Ekel kein guter Begleiter beim Denken. Und so kommt es, dass Rauterberg eigentlich komplett danebenliegt. Er verfällt den Mechanismen, die er vorgibt, so sehr zu verabscheuen. Nur weil irgendwer behauptet, dieser Zirkus sei ein Kunstmarkt, in dem Kunstobjekte gehandelt würden, heißt das noch lange nicht, daß dem so ist. Und doch versucht Rauterberg die ganze Zeit über, den Pudel irgendwie als Kunstwerk zu verstehen. Dabei ist die Sache doch ganz einfach: Es ist keine Kunst. Rätsel gelöst. Man muss nicht über den Niedergang der Kunst jammern, man muss nicht wieder und wieder erzählen, wie toll und provokant die Kunst früher mal war und es heute nicht mehr ist. Es gibt auch heute noch tolle, provokante Kunst, für die keine Horrorpreise gezahlt werden. Nur gibt es sie eben nicht mehr im Kunstmarkt. Alles, was dort gehandelt wird, verliert seinen Status als Kunstwerk. Ganz einfach deshalb, weil der Batzen Geld, der mit dem jeweiligen Objekt verküpft wird, den Kunstcharakter unterminiert. Ich kann mir ein solches Stück nicht mehr ansehen, ohne das Geld mitzudenken. Das Geld wird zu einem essentiellen Bestandteil der Rezeption. Alles Kunsthafte wird nur noch unter dem einen Blickwinkel betrachtet: Ist es sein Geld wert. Leider, leider gilt dies auch für die Werke der alten Meister, denen man ja ohne weiteres zugestehen muss, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Entstehung Kunstwerke waren. Geraten sie aber in den aktuellen Kunstmarkt, verlieren sie diesen Status. Und werden zu Aktienpapieren. Der Taschenspielertrick, einfach das Geld selbst zur Kunst zu erklären, wie Rauterberg das versucht ("In den funkelnden Oberflächen der Koons-Skulpturen erscheint das Geld selbst als große Kunst. Der materielle wandelt sich in einen ideellen Wert."), mag naheliegen, ist aber eigentlich eine Kapitulation vor den Mechanismen des Marktes: Als könne der Markt bestimmen, was Kunst ist und was nicht. Und wir müßten hinterherhecheln und die entsprechenden Begründungen liefern. Nein. Der Markt ist eine Kunstvernichtungsmaschine. Dass er Kunstmarkt heißt, ist eigentlich eine Niederträchtigkeit.
Rauterberg ist ja der Meinung, dass ein Kunstwerk keine "vernünftige Investition" sei. Ein Betrag wie der für den Koons'schen Pudel gezahlte lasse sich "kaum deutlich vermehren". Aber verkauft der Besitzer des Pudels ihn in einigen Jahren für 48 Millionen Euro (absolut gesehen kein großer Sprung), dann hat er eine Rendite von über 10% eingefahren. Und das mit einer relativ großen Sicherheit. Keine andere Anlageform bietet diese Möglichkeiten bei vergleichsweise geringem Risiko.
Leute, kauft Kunst!

Montag, 18. November 2013

Kommentar 5.2 - Konzeptskonzept / Fetzen einer Poetik 2

Der Neue Konzeptualismus ist das neue große Ding in der Neuen Musik. Oder vielmehr nicht in der Neuen Musik. Die Vertreter des Neuen Konzeptualismus beharren ja darauf, die Neue Musik zu überwinden oder bereits überwunden zu haben. Sie kritisieren (vollkommen zurecht) die institutionelle Erstarrung und die damit einhergehende erschöpfte innovative Kraft der Neuen Musik. Der Materialfortschritt, einst der Garant für die Gewißheit, ganz vorne zu sein, verlangsame sich zusehends, wenn er nicht gar schon an sein Ende gekommen sei. Deshalb sei es höchste Zeit, sich vom Material ab- und den Gehalten zuzuwenden. Programmatisch angeregt und begleitet wird diese Gehaltsästhetische Wende von dem Philosophen Harry Lehmann.
Also wieder mal ein Neues Irgendwas, nach der Neuen Einfachheit und der New Complexity jetzt halt der Neue Konzeptualismus. Neu deshalb, weil es ihn schon mal gab, den Konzeptualismus, und zwar vor etwa vierzig Jahren.
Ein Stück Konzeptkunst zu machen, ist im Grunde nicht weiter schwierig. Jeder, der Kunst macht, hat während der Arbeit zig Ideen, die gerade nicht zur aktuellen Arbeit passen. Wenn ich Konzeptkunst machen will, dann schreibe ich diese Ideen nicht mehr auf irgendeinen Notizzettel, um ihn für schlechte Zeiten aufzuheben, sondern ich veröffentliche diese nackte Idee als Konzept für ein zu realisierendes oder auch nicht zu realisierendes Kunstwerk. Vielleicht mache ich mir auch die Mühe, die Ausführung des Stückes selbst zu besorgen, etwa auf elektronischem Wege. Muss aber nicht sein. Die bloße Beschreibung einer wie auch immer gearteten (künstlerischen) Idee reicht vollkommen aus. Wenn es irgendwie geht, mache ich aus meiner einen Idee einen ganzen Konzeptzyklus, dazu brauche ich natürlich noch weitere Ideen, aber keine ganz neuen, sondern bloß Abwandlungsideen für die erste Idee, also sozusagen Ideen zweiten Grades, oder anders gesagt: Bastardideen. Das Ganze stelle ich dann auf meine Webseite (Halloooo, Neuer Konzeptualismus!!). Fertig.
Diese Vorgehensweise hat mehrere Vorteile:
  1. Man ist nicht mehr auf irgendwelche Institutionen angewiesen, die für eine Aufführung und Verbreitung des eigenen Werkes sorgen.
  2. Man bekommt in relativ kurzer Zeit einen ziemlich beeindruckenden Werkkatalog zusammen.
  3. Man ist ästhetisch ganz weit vorne.
Um nicht dem Verdacht ausgesetzt zu sein, hohle Stammtischphrasen zu perpetuieren, will ich gleich mal klarstellen: Nein, Ihre dreijährige Nichte kann das nicht besser. Und nein, Konzeptkünstler sind keine arbeitsscheuen Halbexistenzen in der ohenhin schon von Arbeitsscheuigkeit und Halbexistenz durchsetzten Künstlerzunft. Sooo einfach ist es dann doch nicht.
Zugegeben, meine Schilderung des Herstellungsprozesses von Konzeptkunst ist, milde ausgedrückt, tendenziös. Das liegt aber nicht daran, dass ich Konzeptkunst nicht für Kunst hielte oder nicht zugestehen würde, dass Konzeptkunst schon irgendwie cool ist. Im Gegenteil, ich sympathisiere mit einigen der Grundgedanken der Neuen Konzeptualisten, vor allem demjenigen, dass die Ära des Materialfortschritts jetzt doch endlich mal vorbei ist und künstlerischer Fortschritt (ja genau, ich lasse hier absichtlich das böse Wort stehen, anstatt dass ich von einem bloßen Weitergehen sprechen) auf einem anderen Gebiet stattfindet (-n muss).
Was mir aber an konkreten Werken von den Neuen Konzeptualisten angeboten wird, das ist schon erschreckend dünne. Und ich rede hier gar nicht von den ratz fatz hingeschmierten Text-Konzepten oder Konzept-Texten, die ja häufig ganz nett sind und auch nicht weiter wehtun. Nein, ich rede von den "gewichtigen" Werken, also denen, die dann tatsächlich in mehr oder weniger prominentem Rahmen aufgeführt werden. Ich will mich in der nächsten Zeit mit einigen dieser Konzeptstücke beschäftigen und mache den Anfang mit einem Stück von Johannes Kreidler, dem energischsten und medial präsentesten Apologeten des Neuen Konzeptualismus.

Johannes Kreidler - Die "sich sammelnde Erfahrung" (Benn): der Ton

Die Großform ist einigermaßen übersichtlich, nämlich dreiteilig: Musik mit/ohne Videozuspiel; Videozuspiel ohne Musik; Musik mit/ohne Videozuspiel.
Eine Ebene darunter wird es schon verworrener. Ein erster grober Überblick ergibt für den ersten Teil, der ca. 7 Minuten, also ziemlich genau die Hälfte der Gesamtspieldauer des Stückes, einnimmt, folgenden Ablauf: Da wäre zum ersten das instrumental-elektronische Gewurschtel. Mir fällt beim besten Willen keine bessere Beschreibung dafür ein. Es sind einfach klanglich wenig differenzierte Blöcke von, nun ja, Gewurschtel. Die "echten" Instrumente spielen oder spielen nicht (laut Partitur recht häufig nicht), dazu kommen elektronisch veränderte Zuspielungen ihrer selbst. Mehrmals wird optisch darauf hingewiesen, dass das Klavier ein elektronisch "erweitertes" darstellt, indem die Pianistin zu elektronischen Klavierglissandi mit den Händen über den rechten Tastaturrand hinaus streicht. Das ist vielleicht ironisch gemeint, wahrscheinlich aber eher nicht, es ist halt eines der verwendeten Mittel, die sich in ihrer optischen und klanglichen Beliebigkeit zu einer Art grauer Wand fügen. Nun gut, eine graue Wand ist ja an sich weder gut noch schlecht, es ist halt eine graue Wand. Vielleicht ist sie ja auch deshalb grau, damit die späteren Farbtupfer umso satter wirken. Ich bin also tapfer und schalte ob dieser Klangödnis geistig noch nicht ab. Irgendwann, so bei Minute 1'44'', wird der grau verhangene Tonhimmel dann zerrissen vom repetierten a'. Aha, ein Farbtupfer. Klavier, Schlagzeug, Gitarre reichen einander den Ton (Achtung! Bezug zum TITEL!!!!) weiter. Dann brummt es irgendwie. Und dann geht das instrumental-elektronische Gewurschtel (im Folgenden als IEG abgekürzt) weiter. Immer mal wieder "konzertiert" das Klavier mit einem Videozuspiel oder einem Sampleschnipsel, aber alles in allem dauert der IEG-Teil bis 3'44''. Dann wird DER TON auf b repetiert, worauf es mit IEG weitergeht. Ab 4'23 dann kleine Solo-Einlagen von Klavier und Gitarre, danach wieder IEG, kurze TONrepitition bei 5'07'', Wechselspiel von Klavier und Videozuspiel bei 5'18'', dann Klavier solo (mit Elektronik) bis 7'20''. So weit so belanglos (also nicht nur das Stück, sondern auch meine etwas grobschlächtige Nacherzählung).
Jetzt wird's interessant. Der folgende Teil besteht lediglich aus einem Videozuspiel mit dem Titel Split Screen Studies. Man hört im Hintergrund des Videos der Aufführung, dass das Publikum sich gut unterhalten fühlt. Allgemeines Gelächter ob der überraschenden Einfälle, beispielsweise die Spielanweisung "to be held for a long time" aus der Composition 1960 #7 von LaMonte Young mit zwei Uhren nachzustellen, die einen Zeitabstand von einigen Stunden zeigen, jedoch aufgrund des split-screen-Verfahrens gleichzeitig zu sehen sind. Nett. Witzig. Vielleicht nicht gerade Loriot-witzig, aber solide, sagen wir mal Urban-Priol-witzig. Man sieht auf jeden Fall gern zu. Und läßt sich von den Einfällen überraschen. Und ist man erstmal im Sich-Überraschen-Lassen-Modus, dann vergeht die Zeit wie im Flug und man merkt gar nicht, dass 6 Minuten ins Land gezogen sind. Plötzlich aber ist alles vorbei und es wird wieder geIEGt. Zum Glück nicht mehr so lange, weil nach zwei weiteren Minuten das Stück fertig ist.
Die Split Screen Studies, das Herzstück des Ganzen, gab es übrigens schon vorher als eigenständige Reihe. Sie haben jetzt also mit der "sich sammelnden Erfahrung" (Benn): der Ton einen Rahmen erhalten. Warum, frage ich mich. Ernsthaft. Ich verstehe das IEG nicht. Das mag so konzeptuell sein wie es will ("Musik mit Musik" usw.), es ist keine gute Musik. In jeder Definition des Wortes Musik. Also nicht nur in einer womöglich altmodischen, wo man bemängeln würde, dass das Ganze schlecht instrumentiert, die Harmonik vollkommen beliebig und das Material sowieso banal ist. Dagegen sind die Konzeptualisten ja gefeit, weil sie diese Kategorien ablehnen. Auch in einer erweiterten (= erneuerten) Definition, die die alten Kriterien von der Handwerklichkeit der Musik ganz aussen vor läßt und nur noch auf der nächsthöheren Ebene, also jener der Struktur, operiert. Denn letztendlich ist genau das das Wesen des Konzeptes: In- bzw. Gehalte miteinander in Beziehung zu setzen. Also nicht mehr auf der Mikroebene zu komponieren, sondern auf der Makroebene. Wenn Cory Arcangel mit Youtube-Ausschnitten von Katzen, die auf Klaviaturen tapsen, die Klavierstücke op. 11 von Schönberg neu "instrumentiert", dann "komponiert" er auf der nächsthöheren Ebene über den Tonbeziehungen. Die Töne sind schon da, ebenso die Youtube-Videos. Was neu ist, ist lediglich die Verbindung zwischen beiden Inhalten. Daher auch das häufig witzige Moment bei diesen Konzepten: Es gründet einfach auf dem Überraschungseffekt bei unerwarteten Verbindungen. Genau wie bei den Split Screen Studies. Überraschungsmoment ist hier die Verbindung von Titel und Video, also (z.B.) "to be held for a long time - from morning to midnight (with time paradox)" und dem Bild der beiden verschiedenen Uhrzeiten verbunden mit dem recht kurzen Ton. Diese Grundidee mit den beiden verschiedenen Uhrzeiten im Split-Screen-Verfahren generiert dann eine Anzahl Bastardideen, die letztendlich auf den gleichen Gag hinauslaufen: Der Widerspruch zwischen Titel und Video. Lustig. Beim ersten Mal vielleicht verblüffend ("Warum bin ich nicht auf diese Idee gekommen?"), beim zweiten Mal schon leicht nervend ("Okay, ich hab's verstanden.") und beim dritten Mal fragt man sich, was eigentlich neben diesem offensichtlichen Gag sonst noch so dabei 'rumkommt. Die Beziehung zwischen Titel und Inhalt ist im Grunde eindimensional, ganz auf die Pointe gerichtet. Das Konzept - in diesem Fall könnte man es mit "Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" paraphrasieren - wird gnadenlos durchgezogen. Einfach, weil es das KONZEPT ist. Das Konzept erlöst den Komponisten von lästigen Entscheidungen, wie sie die Alten noch zuhauf treffen mußten. Im Grunde ist es ein auf die Spitze getriebener Serialismus. War dort noch die Mathematik (= die Serie) für die Erlösung zuständig, ist es heute eben das Konzept. Die totale Unterordnung unter ein Ordnungsprinzip. Der Komponist trifft keine kleinteiligen Entscheidungen mehr, er legt das Konzept fest und delegiert sämtliche weiteren Entscheidungen nach unten. Krasseste Beispiele sind die sogenannten Sonifikationen von ganzen Büchern, also die wie auch immer technisch vollzogene Umwandlung von Buchstaben in Töne. Beispiele hier und hier. Keiner würde sich die gesamten mehr als drei Stunden des "Grass-Zyklus" anhören (zumindest hoffe ich das ...), was zählt, ist das Konzept. Schon nach zehn Sekunden ist ja völlig klar, worauf das Ganze hinausläuft, nämlich wiederum nur auf einen Gag: Der Begriff "Vertonung" wird einfach in einem anderen Sinn gebraucht, als man dies bisher getan hat. Fertig. Ja klar, vielleicht wird man ja dadurch angeregt, über den Sinn und Unsinn von Vertonungen insgesamt einmal feste Nachzudenken. Oder man lernt neue Techniken kennen, so wie ja auch in der Formel 1 (angeblich) neue Techniken für eine irgendwann einmal einzuleitende Serienfertigung in der Automobilindustrie getestet werden. Der Konzeptualisums als Formel 1 der Neue-Musik-Welt?
Richtig schwierig aber wird es erst da, wo der Konzeptualismus mit ernster Miene daherkommt. So wie in den IEG-Teilen in Kreidlers Stück. Da kommt der Konzeptualist auch nicht mehr so einfach mit der Negierung sämtlicher Kunstkategorien durch. Da, wo der Konzeptualist auch nur den Anschein erweckt, herkömmlich zu komponieren, und sei es angereichert mit Audio- und Videozuspiel (und mal ehrlich, das gehört ja nun fast schon zum guten Ton), begibt er sich in die Klauen von handwerklichen Kriterien. Wenn DAS KONZEPT durch irgendwelche Unschärfen (z.B. "richtiges" Komponieren) nicht in jeder einzelnen Sekunde im Hinterkopf mitgedacht werden kann, wenn es nicht in jeder Vierundsechzigstelnote sich äußert, dann hört man, ja was wohl: Richtig! Neue Musik! Und dann fällt das Konzeptkartenhaus schlagartig in sich zusammen. Kein einziges Verhältnis in den IEG-Teilen ist in irgendeiner perzipierbaren Weise durchdacht: Das der Instrumente untereinander (was macht eigentlich die Flöte die ganze Zeit?), das der Instrumente zu ihren elektronischen Erweiterungen / Zuspielungen (toll, toll, toll, das elektronische Klavier kann viel höher spielen als das echte), das der Kleinformteile untereinander (dicht, dünn, "konzertant": wann und warum), das der Musik zur Videozuspielung (Split Screen, Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, okay, und dazu alternierend oder begleitend 'n paar Klaviertöne??), das der Musik zur Audiozuspielung (beliebig?), das der Audiozuspielung zur Videozuspielung (auch beliebig?). Um es mit Kreidlers eigenen Worten (5'02'') zu sagen: "Neue Musik at its worst."
In furchterregender Banalität tritt die Neue-Musik-Haftigkeit der IEG-Teile in den kurzen Solo-Parts nach 4'29'' (laut Partitur) zutage: Diese Neue-Musik-"Melodien" sind nirgendwo als Zitate markiert, weder explizit in der Partitur noch implizit durch irgendwelche musikalischen Anführungszeichen, so dass man davon ausgehen muss, dass sie den "richtigen" kompositorischen Willen Kreidlers darstellen. Wahrscheinlich sind sie aber doch aus irgendeinem Zufallsalgorithmus gewonnen, weil Kreidler das gerne macht. Also doch wieder ein Konzept. Aber ein Konzept ohne "Anleitung". Und ein Konzept ohne Anleitung ist: Erdbeerkuchen mit Spinatlasagne (natürlich gibt es immer irgendwo irgendjemanden, dem das schmeckt...). Kreidler selbst betont immer wieder die Wichtigkeit einer "Anleitung" für Konzeptkunst, die dem Stück in irgendeiner Form beigegeben sein muss (und zwar nicht a posteriori im Programmheft). Hier fehlt sie.
Was ebenso fehlt sind irgendwelche selbstreflektorischen Gedanken zum technischen Aufwand, der rund um das Stück getrieben wird. Es ist keine technische Kleinigkeit, Audio- und Videozuspiel auf die Bühne zu bringen, umso mehr erstaunt die Selbstverständlichkeit, mit der über diese décadence hinweggegangen wird. Technische Machbarkeit ist das Eine, technische Angemessenheit das Andere. Bei mir jedenfalls läßt sich der Eindruck nicht abschütteln, der technische Overkill (es gibt noch weitaus absurdere Missverhältnisse, aber dazu demnächst mehr) führt immer öfter zu Stücken, die mehr einer Machbarkeitsstudie ähneln als dem tatsächlichen Bau einer Umgehungsstraße (um mal im technischen Bilderfeld zu bleiben).
Mich erinnert dieses Vorgehen an die im Rückblick beinahe schon unwirklich scheinende Naivität des Fortschrittsglaubens des 19. Jahrhunderts. Man wußte es einfach noch nicht besser. Obwohl man es hätte können.

Nachtrag: Den Titel des Stückes und den Bezug des Ganzen zu Benn habe ich nicht weiter "untersucht". Ich nehme mal an, dass es irgendwie was mit dem Konzept zu tun hat.