Donnerstag, 18. September 2014

Kommentar 40 - Prowokäischn, wott iz itt? / Von der Monophonie der Provokation

Viele Möglichkeiten bleiben einem heutzutage nicht mehr, wenn man, wie es so schön heißt, einen 'handfesten' Skandal in der Kunstszene provozieren will. Da muss man schon tief in die Tabukiste greifen und ganz schön rumwühlen, will man ein geeignetes Thema finden. Hitler oder Nazikram funktionieren immer. Naja, meistens. Kannibalismus, bzw. seine Befürwortung. Sex mit Minderjährigen. Um nicht zu sagen Pädophilie. Nekrophilie vielleicht noch, aber da bin ich mir schon nicht mehr so sicher. Scheint irgendwie überhaupt aus der Mode gekommen zu sein. Andererseits bin ich da auch nicht unbedingt auf dem Laufenden. Jedenfalls muss man schon was aufbieten, damit sich überhaupt noch einer über irgendwas aufregt.


 Niemand scheint mehr irgendein funktionierendes Gefühl dafür zu haben, wann er denn nun provoziert zu sein hat und wann nicht. Man fühlt sich ja öfter von irgendeinem permanent linksfahrenden Idioten auf der Autobahn provoziert als von 'nem 'Künstler', der eigene Körperteile kocht und zu einem Glas Rotwein isst, oder totgeborene Babys (zumindest behauptet er das) oder ähnliches Zeug. Im geliebten Internet finden sich schnell eine Menge Sachen, die man im Nachhinein lieber doch nicht gefunden hätte. Na gut, ich hab auch danach gesucht, also selber schuld. Aber so richtig provoziert fühle ich mich davon nicht, sondern bloß angewidert. Oder ich behaupte nur, dass ich mich davon nicht provoziert fühle, und bin in Wirklichkeit doch provoziert, traue mich aber nicht, es zuzugeben, weil man mich ja dann für einen Spießer halten könnte. Und ein Spießer zu sein, das ist nun wirklich das Allerletzte. Schlimmer noch als seine eigene Hüfte zu kochen. Hundert Jahre (+/-) provokativer Kunst haben immerhin also dafür gesorgt: Dass man weiss, dass man sich besser nicht provozieren lassen sollte. Weil das einfach sowas von uncool ist. Es ist uncool, dem Künstler das Gefühl geben zu müssen, dass er irgendeinen Nerv getroffen hat. Das hieße ja letztendlich, dass er irgendwie klüger ist als man selbst. Weil er über das zu verletzende Tabu 'nachgedacht' hat und zu dem Schluß gekommen ist, dass man es verletzen sollte. Weil man das in der Kunst nunmal so macht. Tabus verletzen. Grenzen niederreißen. Freier Geist und Wind und so.

So ein Tabubruch ist ja immerhin auch oft nützlich, um eine Diskussion in Gang zu bringen, wobei ich mich schon frage, was für eine Art Diskussion das Verspeisen einer Totgeburt eigentlich in Gang bringen soll. Der chinesische Künstler behauptet ja, er begehe den Tabubruch, um herauszufinden, ob ihn überhaupt noch jemand als Tabubruch empfinde (insofern bin ich vielleicht irgendwie abartig, wenn ich diesen Tabubruch nicht als provozierend empfinde, sondern als bloß widerlich, andererseits will ich dem 'Künstler' ja auch nicht das Gefühl der Befriedigung geben, dass er mit seiner Fragestellung irgendeinen Nerv getroffen hätte, insofern sitze ich hier in der Falle und komme nicht raus, wie ich es auch drehe und wende; so behält der 'Künstler' also in jedem Fall Recht, was schön für ihn, aber irgendwie blöd für mich ist). Na gut, wer das für 'nen etwas billigen, leicht zirkelschlüssigen Ansatz hält, liegt vielleicht auch nicht ganz daneben. Denn öfter als für den noblen Zweck der Diskussionskatalyse dienen Tabubrüche, the bleedin' obvious, als ganz und gar unnoble Aufmerksamkeitserzeuger. Natürlich stellt sich kein Künstler hin und sagt geradeheraus, dass er einfach nach irgendeinem Tabu gesucht hat, das noch nicht oder noch nicht genug verletzt wurde, damit er in die Zeitung kommt (süß, ne, in die 'Zeitung'). Weil das ja auch wieder uncool ist, auf Künstlerseite jetzt, weil man nicht zugeben darf, dass man den ganzen Scheiß nur macht, um den eigenen Namen nachher auf Platz eins der Google-Suche zu finden, am besten noch möglichst unabhängig vom eingetippten Suchwort. So hat halt jeder seine Tabus und Tabüchens, die Kunstwelt nicht anders als die stinknormale Spießerwelt. Natürlich hat der gemeine Künstler ebenso wie der gemeine Spießer inzwischen gelernt, dass es uncool ist, sich provozieren zu lassen. Also schiebt er, wie der gemeine Spießer, schnell irgendeinen anderen, möglichst unverdächtigen Abwehrgrund vor. Sehr beliebt ist das Langeweile-Motiv. Ist ja alles so langweilig, kenn ich alles schon, hab ich schon gesehen, schon gehört, schon selbst gegessen. Öööööde. Ach Gottchen, wenn der mich provozieren will, dann muss er aber früher aufstehen. Damit einher geht häufig die Abwertung der Provokation als bloße 'Albernheit', als 'kindisches' bzw. 'pubertäres' Zeug und so weiter und so fort. Die Provokation wird also erstmal kleingeredet, bis sie (in den Augen des Provozierten jedenfalls) keine mehr ist, weil sie von vorneherein keine sein durfte.

Bei der Behauptung von Langeweile sollte eigentlich immer der bullshit-Alarm losgehen. Wenn irgendwas ganz offensichtlich auf Provokation ausgelegt ist und jemand mit der Langeweile-Arie darauf reagiert, kann man mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass er sich provoziert gefühlt hat (mir muss erstmal einer das Gegenteil beweisen, und nein, es reicht nicht, einfach zu behaupten, man habe sich nicht provoziert gefühlt).

Sehr schön beobachten konnte man neulich diesen Mechanismus an der Diskussion (hier und hier noch weitere Bruchstücke davon) die sich um einen Ausschnitt aus 'Audioguide' von Johannes Kreidler im sogenannten Bad Blog of Musick entspann. Es geht um diese Zerstörung von 65 oder 100 oder wer weiß wie vielen Geigen. Keine Ahnung, ob der Kreidler das als Provokation gemeint hat, irgendwie hängt das Ganze mit seiner Donaueschingen-Protestaktion gegen die Fusion der beiden SWR-Orchester zusammen und erinnert auch an das allseits beliebte Zerschmettern von Gitarren bei Rockbands. Darum geht's im Augenblick auch gar nicht, sondern um die Reaktionen darauf.

Und die folgen exakt dem von mir beschriebenen Muster. Davon abgesehen, dass Godwin's Law mal wieder aufs Glänzendste bestätigt wurde (hier), kam relativ schnell die Rede darauf, dass dem Kreidler'schen Werk die "existentielle Tiefe" fehle, dass die Diskussion um den Gegenstand viel interessanter sei als der Gegenstand selbst, dass man mit den Geigen auch was Sinnvolleres hätte anfangen können (nach Afrika schicken [!!!!], kein Scherz) und dergleichen Abwehrstrategien mehr ('kindisch', 'ungebildet', 'macht man einfach nicht', 'unoriginell', 'Wohlstandsverwahrlosung' usw.). Es lief im Grunde darauf hinaus, die Provokation (die Zerstörung von Musikinstrumenten) nicht als solche zuzugeben. Keiner will rückständig erscheinen, allen ist doch nur das Seelenheil und die Zukunft der Kunstmusik ein Anliegen, man ist sich nur nicht einig über den zu beschreitenden Weg dahin. Die einen sagen, weg mit dem alten Schrott, die anderen sagen, lass uns den alten Schrott nochmal verzinken, dann hält er vielleicht noch 'n bißchen. Niemand von den Diskutanten hat irgendein substantiell ästhetisches Argument gegen (oder meinetwegen auch für) die Aktion gebracht (naja, vielleicht mit Ausnahme von Alexander Strauch, was mir aber im Dickicht seiner grammatikalischen Ungetüme, die er wohl für Sätze hält, entgangen sein mag). Es lief immer darauf hinaus, für sich selbst die provokative Spitze in irgendeiner Form stumpf zu klopfen, einfach weil es sich besser anfühlt, wenn man seine Gefühle der Abneigung im Nachhinein rationalisiert, das heißt also mit einer Art pseudo-logisch aufgebautem Skelett versieht. Andererseits war die Provokation doch irgendwie gelungen, indem sie auf (ungewollt?) manipulative Weise die Diskussion in Gang setzte, von der doch jeder der "nicht"-Provozierten behauptet hat, sie könne von diesem "langweiligen Kram" gar nicht ausgelöst werden (wie übrigens auch bei dieser Diskussion über einen anderen Ausschnitt aus 'Audioguide'). Dumm gelaufen, ne? Plötzlich wurde über Orchesterschließungen geredet, über Musikausbildung usw. (oder, im anderen Fall, über Kultur-'Subventionen', Machtmechanismen in der Neuen Musik usw.) Bemerkenswert für ein Stück Kunst, von dem doch behauptet wurde, es sei 'langweilig', 'albern' oder besitze gar keine 'existentielle Tiefe' (was zur Hölle auch immer das sein mag).

Damit ist noch gar nix darüber gesagt, ob ein Kunstwerk, das eine Provokation erfolgreich in Szene setzt, eigentlich auch ein gelungenes Kunstwerk ist. Eine Provokation ist ja an sich 'ne ziemlich monothematische, oder, um's in Musiksprache zu sagen: monophone Sache. Ein Aufreger wird durchgekaut (im wahrsten Wortsinn...) und das war's. Ohne jetzt die elendige WasistKunst-Dose wieder aufmachen zu wollen (ALLES!!!?), stellt sich mir doch die Frage, was eigentlich mit einem Kunstwerk passiert, wenn man es derartig auf einen Punkt festnagelt. (Im Übrigen, und das wird mich demnächst an dieser Stelle beschäftigen, hege ich inzwischen den Verdacht, dass, grob geschätzt, achtzig bis neunzig Prozent der zeitgenössischen [Kunst-] Musik im weiteren Sinne monophon sind.)

Man kommt also nicht mehr ran an die Leute, an Künstler genausowenig wie an Nicht-Künstler. Jedenfalls nicht so, wie die Künstler sich das wohl vorstellen: Aufgebrachte Zuhörer, die sich im Konzertsaal prügeln, die mit Fackeln und Mistgabeln bewaffnet durch den Ort ziehen, um den Tabubrecher zu lynchen. Im besten Falle kriegt man eine Diskussion, bei der aber niemand zugibt, dass das provokative Stück irgendwas mit der provozierten Disukssion zu tun hat. Ein unbefriedigender Zustand.

Es gibt immer wieder Versuche, irgendwie aus dieser provokationsimmunen Hölle rauszukommen, und alle scheitern an der Provokationsimmunität. Lehrhaft (ja genau, delectare und docere) in diesem Zusammenhang sind die Bücher von Matias Faldbakken. Darin geht's eigentlich permament um die Unmöglichkeit, irgendwen mit irgendwas zu provozieren. Um die Mainstreamisierung des Undergrounds. Um die Normalisierung von Abartigkeiten. Und so packt Faldbakken Provokation auf Provokation (unter anderem in Macht und Rebel: ein Typ, der zum Hitler-Bewunderer wird, aus dem einzigen Grund, weil er es doof findet, kein Antisemit sein zu dürfen; die ultimative Provokation im Konsens-Kapitalismus aber ist der von Faldbakken erfundene Trend, bewußt und gewissermaßen 'stolz' gefakte Markenschuhe zu tragen), in der Hoffnung, irgendwie doch noch irgendjemanden zu provozieren. Aber das passiert einfach nicht. Seine Bücher werden gelesen, die Leute finden sie unterhaltsam, mir ist nichts davon bekannt, dass sie irgendeine nennenswerte Diskussion über irgendwas ausgelöst hätten. Seine Bücher doppeln also (unfreiwilligerweise) den darin beschriebenen Umstand selbst im 'echten' Leben. Die Konsensgesellschaft ist halt nunmal totalitär. Bevor jetzt wieder das Lamento darüber losgeht ("buhuu, ich werde hier zu Tode toleriert"), muss man vielleicht auch mal drauf hinweisen, dass wir 'n paar hundert Jahre und 'n Haufen Menschenleben dafür verbraucht haben, eine solche Gesellschaft möglich zu machen. Irgendwie erinnern mich diese Klagen entfernt an die Klagen über nicht stattfindende Kriege zum Zwecke des character building.

Ach ja, die Geigenzertrümmerungsnummer fand ich übrigens langweilig ...

Montag, 1. September 2014

Kommentar 39 - Resampled / Über Wut (Von der Kunstseuche und dem ganzen anderen Rest nebst dem endgültigen Beweis für die Überlegenheit gedruckten Papieres über den Computerbildschirm)


Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete, und hätte der Wut nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.

Es gibt ja 'ne Menge Dinge, die einen wütend machen können. Das fängt bei Tiefbahnhöfen an und hört bei über den Zaun hängenden Apfelbaumästen auf, oder vielleicht auch bei nicht zugedrehten Zahnpastatuben, je nach Persönlichkeitsstruktur. Jedenfalls ist Wut eine seltsam einseitige Emotion. Sie macht blind, heißt es ja schon im Volksmund - übrigens darin der Liebe ähnlich -, und sie treibt einen zu irrationalen, unüberlegten oder auch einfach nur unheimlich dämlichen Taten - auch darin der Liebe nicht unverwandt. Selten (genau gesagt: nie) hört man davon, dass eine großartige Tat - jetzt aber ganz anders als bei der Liebe - aus Wut geboren worden ist. Aus Wut entsteht immer nur Schwachsinn. Im Zweifelsfall erregt die aus Wut entstandene Tat des Einen die Wut und damit die aus Wut entstandene Tat des Anderen, die bestimmt mindestens so idiotisch ist wie die ihr vorausgegangene Tat. Die Eskalation ist der Wut ja quasi gleichsam subkutan eingeschrieben.
Jetzt aber, was soll das Geschwafel über Wut? Ich finde ja trotz allem, dass es zu wenig Wut gibt. Gute, alte Wut. Biblisch kann man ja nicht sagen, biblisch ist ja schon der Zorn, der kleine perverse fuckbuddy der Wut. Aber so 'ne richtig gut abgehangene Wut, das ist schon was Feines. Was Exquisites.

Ich rede hier von richtiger Wut.

Nicht dieser öden, wohlfeilen IchkettemichanBäumeweildieHaselmaussonstkeinNestmehrhatWut oder der DieWeltistsoungerechtundinAfrikahungerndieKinderWut oder so 'nem Quark. Also nicht etwas, das sich eigentlich auf einen vermeintlich guten oder vermeintlich gutgemeinten Zweck richtet, also per definitionem keine Wut ist. Nein, ich rede von ganz egoistischer Wut, so 'ner Wut, die einen sich vorstellen läßt, wie man den Nachbarn mit 'ner Axt in Stücke hackt, weil's mal wieder drei Blätter Laub von seinem Baum auf den eigenen Rasen geweht hat. Wut in ihrer reinsten Form. Ungefiltert, unzivilisiert, ungezügelt.

Moment mal, das klingt ja nun doch 'n bißchen sehr nach Marinetti (Achtung: Synekdoche[!]) und dem ganzen antihumanistischen Scheiß, der uns schon das ganze 20. Jahrhundert versaut hat. Wir sollten froh sein, dass wir das alles inzwischen im Griff haben, dass wir jetzt Egoshooter spielen können, wo wir zum Abreagieren statt richtiger Menschen irgendwelche Pixelklumpen über'n Haufen schießen können. Ja richtig, darüber können wir froh sein. Natürlich. Selbstverständlich. Auf jeden Fall. Klaro. Wolfenstein 3D - juchhee!

Gibt ja nix Schlimmeres als dieses unerträglich dümmliche Geschwafel von wegen "Euch geht's doch viel zu gut, ihr solltet mal 'nen Krieg miterleben, da wißt ihr erst, wie dreckig es einem gehen kann, dann erst könnt ihr überhaupt mitreden / wirkliche Kunst machen / echte Gefühle haben / Verantwortung übernehmen." Hört man ja in letzter Zeit immer öfter, diesen gequirlten Mist. Zuletzt in einem Artikel von Moritz Eggert, den er "dankenswerterweise" sowohl in Deutsch als auch Englisch auf dem sogenannten "BadBlog of Musick" veröffentlicht hat. Er streitet natürlich ab, dass diese Schlussfolgerung aus seinen "Überlegungen" gezogen werden sollte, aber zu was zum Teufel sollen solche "Überlegungen" gut sein, wenn nicht zu diesem Schluss? Die "Argumentation" geht ja so: Früher (als alles noch viel, viel, viel, viel, viiiiel besser war) mussten die Menschen um ihr Überleben kämpfen (genau: kämpfen). Da hatte man noch richtige Gefühle, weil man ja täglich mit der nackten Angst ums Überleben die Füße aus dem Heuboden geschwungen hat. Dann ging es immer weiter bergauf bzw. ja eigentlich bergab und jetzt, nach unerträglich langen 70 Jahren Frieden in Europa, weiß die verweichlichte Generation der Wohlstandskinder überhaupt nicht mehr, was eigentlich so'n "richtiges" Gefühl überhaupt ist. Sprich: Sie kennt nur noch unrichtige, also wenigstens zweitklassige, wenn nicht sogar nur noch Surrogat-Gefühle. Hoppladihopp - schon simmer bei der Feststellung, dass die verweichlichte Generation von Wohlstandsschlappschwänzen im Grunde gar nix kann, weiß und fühlt und deshalb eigentlich auch gleich aufhören könnte, irgendwas zu machen. Nach derselben Logik ist es auch völlig legitim und sogar ein Gebot der Menschlichkeit, Kinder zu schlagen und sie wie den letzten Dreck zu behandeln, weil sie ja sonst gar nicht lernen, was Disziplin heißt. Und ohne Disziplin wäre das Leben ein Irrtum.
Man könnte ja auch den Gedankengang umdrehen und einfach mal behaupten, dass die Menschen früher vor lauter Angst ums Überleben gar nicht wußten, was überhaupt ein Gefühl ist. Z.B. von wegen Liebesheirat, Kinderliebe usw. Oder, und das wäre das allerbeste, man könnte einfach mal aufhören, die Gegenwart gegen die Vergangenheit auszuspielen und Unvergleichbares ständig miteinander zu vergleichen. Früher hatten wir Krieg, jetzt nicht mehr (vielleicht ja bald wieder, wer weiß, dann kommen sie wieder aus ihren Löchern gekrochen, die Verfechter der "echten" Gefühle und des Überlebenskampfes und dann dürfen sie mal zeigen, was in ihnen steckt; redet sich ja leicht von der angeblich "reinigenden" Wirkung von so'nem Krieg, wenn er nicht gerade 'nen Häuserblock weiter stattfindet).

Nun gut, jetzt habe ich also festgestellt, was ich mit meinem leidenschaftlichen Plädoyer für die Wut eben gerade nicht meine. Gleichzeitig bleibt meine Feststellung von oben bestehen, dass es nach meinem Dafürhalten zu wenig Wut gibt. Es gibt z.B. auch überhaupt keine wütende Kunst, jedenfalls nicht, dass ich davon wüßte. Vielleicht schließen sich diese beiden Begriffe gegenseitig aus, weil ja aus Wut nix Dolles entstehen kann. Hm, ich weiß nicht.
Und was macht man, wenn man argumentativ nicht mehr weiterweiß. Man wird konkret, macht mal 'n Fallbeispiel und schaut, ob man irgendwo dabei rauskommt. Vielleicht (und das wäre wohl das Beste) vergisst der Leser ja auch unterwegs das ganze Geseiere von vorher und merkt gar nicht, dass alles nur 'ne gedankliche Sackgasse war.

Also:
Zwei Anlässe haben mich in der letzten Zeit wütend gemacht: Das neue Heft der MusikTexte und der ganze Darmstädterferienkurskomplex.

Ich fange mal mit letzterem an, weil es sich in verschiedene Ärgernisse gliedert, die irgendwie miteinander zu tun haben und jeder für sich vielleicht noch nicht wutauslösend sein müssten, es in der Summe der Dinge aber doch sind:
Kurz vor Beginn der Ferienspiele veröffentlicht der notorische Moritz Eggert auf dem sogenannten "BadBlog of Musick" eine "Satire" auf Darmstadt und den dortigen Zirkus, in der er im "Stile" eines Gangsta-Rap-Musikvideos die dort versammelte Szene "persifliert". Ich weiß gar nicht, wo ich da anfangen soll. Vielleicht ja so: Inhaltlich unter aller Sau, stilistisch unter aller Sau, handwerklich unter aller Sau. Anscheinend hat er noch nie was davon gehört, dass eine Satire von der Genauigkeit der Beobachtung lebt, vom Timing, von der Präzision. Kurz: Ich habe schon lange (vielleicht seit den Funniest HomeVideos of the World) nichts so unerträglich Unlustiges mehr gesehen.
Derart warmgewütet habe ich in der Folge versucht, mangels eigener Anwesenheit dortselbst, den Darmstädter Betrieb in der einen oder anderen Form mitzuverfolgen. Da gab es ja allerhand Bemühungen im sogenannten "Internet", Streams von den Lectures bzw. Podiumsdiskussionen, Blogartikel usw. usf. Naja, was soll ich sagen, ich habe bald schon das Interesse verloren, einem abgehackten Livestream auf VoiceRepublic folgen zu wollen, in dem ich weder wusste, wer gerade redet, noch, worum es überhaupt geht. Liebes "Internet", das muss besser werden. Schlussendlich habe ich mir das Zusammenfass-Video von der NMZ angeschaut und wurde im Verlauf desselben so wütend, dass ich selbst die achteinhalb oder was Minuten nicht fertig geschafft habe.
Erstens: Vielleicht war ich schon von Moritz Eggerts Video mies draufgebracht und bin schon mit einer Grundwut in die ganze Sache reingegangen, aber diese Wichtigkeit, mit der die Leute dort ihren gedanklichen Dünnpfiff in die Kamera gesagt haben, fand ich erst lächerlich und dann ärgerlich. Ein unerträgliches Gefasel von irgendwelchem Pseudokunstscheiß, ich dachte wirklich, das kann ja gar nicht sein. Fliegt da einer mit Drohnen über 'nen Darmstädter Platz und labert was von "Überwachungsstaat". Fliegen (warum wurde überhaupt so viel geflogen?) 'n paar Heißluftballons durch die Gegend, während ihre Gasfeuerung in irgendeinem (wahrscheinlich algorithmisch hergestellten) Rhythmus betrieben wird. Probt irgend'n Ensemble irgendwelches Tongeöde, das man beim besten Willen nicht orginell nennen darf, und schwafelt was von künstlerischer Arbeit. 'Ne Freilichtaufführung von dem großartigen "Generation Kill" von Stefan Prins (na klar, erst Donaueschingen, dann Darmstadt, ich erspare mir die schmierigen Details). Und immer mit so'nem todernsten Ausdruck auf dem Gesicht, so als ginge es jetzt und sofort um ALLES. Herrgottnochmal, ich ertrage es nicht mehr. Ich will diese ganze Scheiße nicht mehr sehen / hören / lesen. Ich will nicht, dass irgendjemand nochmal das Wort "Kunst" in den Mund nimmt. Durchfall ist und bleibt Durchfall und wird nicht dadurch schmackhafter, dass man ihn jetzt Kunst nennt (abgesehen von der in Dosen abgefüllten Kacke Manzonis). Der Gebrauch des Wortes "Kunst" sollte unter schwere Strafe gestellt werden. Es sollte überhaupt keine "Kunst" mehr geben. Das wäre das Beste für alle Beteiligten. Und für die Unbeteiligten sowieso.

Vor lauter Aufregung darüber WAS alles Kunst sein kann, oder WAS Kunst alles sein kann, wird inzwischen völlig vergessen, die viel wichtigere und eigentlich alles entscheidende und einzig relevante Frage zu stellen: WIE Kunst sein kann. Die Frage nach dem Kunstfertigen wird von der Frage nach dem Kunstartigen überdeckt, zugedeckt, erstickt. Diese erstere Frage wird gerahmt von einer Aussage und einer zweiten Frage: Erstens: Es gibt Kunst und alles kann Kunst sein. Verdammtnochmal, das wissen wir jetzt (siehe allerallerspätestens Manzoni). Zweitens: Warum ist es überhaupt wichtig, dass etwas Kunst und nicht Nicht-Kunst ist? Ja genau, warum zur Hölle ist es Euch Kunstheinis denn so verflucht wichtig, dass euer Krempel Kunst ist? Geht's nicht auch 'ne Nummer kleiner? Wenn ihr den Menschen was beibringen wollt, dann werdet gottverflucht nochmal Lehrer (ich schaue ganz streng Helmut Lachenmann an). Wenn ihr philosophieren wollt, dann werdet in Gottes Namen Philosophen und schreibt unnütze Bücher wie der Hindrichs. Wenn ihr gegen den "Überwachungsstaat", gegen Krieg, gegen Kinderarbeit, gegen die Globalisierung, gegen die Startbahn West, gegen Atomkraft, gegen irgend'ne Religion, gegen den Kapitalismus, gegen Nazis, gegen Kommunismus, gegen Drohnen, gegen Aufrüstung, gegen Wasauchimmer seid, dann werdet scheißenochmal Politiker und kümmert euch endlich mal um den ganzen Dreck auf der Welt und hört auf, mir im Konzertsaal die Ohren mit eurem Gejammer vollzuschleimen. ES INTERESSIERT MICH NICHT DIE KLEINSTE BOHNE! Ich will nicht im Konzertsaal "aufgerüttelt" werden. Ich will nicht zuhören, wie dem Komponisten beim Komponieren anscheinend einer abgegangen ist, weil er seine Gedanken selbst so geil fand. Ich will nicht "neu hören lernen". Kann ich schon. Und wenn es nicht das richtige "Neu-Hören" ist, dann will ich es trotzdem nicht lernen. Lasst mich mit dieser ganzen Scheiße in Ruhe.

(ich hole tief Luft)

Jedenfalls hat mich dieses Video ziemlich geärgert. Nicht zuletzt auch und damit:
Zweitens: Die Ausschnitte aus Johannes Kreidlers neuem Musiktheater oder was auch immer das sein soll. Ich habe mich ja schon verschiedentlich mit Kreidlers Stücken auseinandergesetzt und dem ganzen Neue-Konzeptualismus-Kram und wie die Henne zum Ei kam und so. Ich möchte für mich in Anspruch nehmen, dass ich das bisher zwar subjektiv in der Aussage aber doch objektiv in dem Bemühen, zu dieser Aussage zu gelangen, getan habe. Damit ist nun Schluss. Ich will auch gar nix davon hören, dass ich doch auf Grund einiger sekundenlanger Ausschnitte nicht ein siebenstündiges Werk beurteilen könne (im Übrigen habe ich mir noch 'n Haufen Schnipsel davon auf YouTube angesehen, also mindestens eine gute Stunde von dem Zeug). Kann ich. Mach ich. Wenn die Ausschnitte so in diesem Werk zu sehen bzw. hören sind, dann will ich den Rest einfach nicht mehr kennenlernen. Was soll das? Was soll das doofe Rumgehopse auf der Bühne zu Metal-Musik? Soll das lustig sein? Inwiefern dient das, ja was eigentlich? Soll so die Beschäftigung mit populärer Musik aussehen? Soll das eine Persiflage sein? Mannmannmann...ich zitiere mich selbst:
Inhaltlich unter aller Sau, stilistisch unter aller Sau, handwerklich unter aller Sau. (siehe oben, Eggert)
Das Schöne an so'ner Wut ist ja, dass sie beinahe eins zu eins wiederkehrt, wenn man sich die Umstände ihres ersten Auftauchens so genau wie möglich ins Gedächtnis ruft. Ein unerschöpflicher Quell steter Aufwühlung.

Und weil's so schön ist, und weil man sich in seiner Wut so schön behausen kann (whoo-hoo heideggoo) jetzt noch der Aufreger aus den MusikTexten:
Abgesehen davon, dass ich schon von der vorletzten Nummer enttäuscht war, weil von der großangekündigten WirmachendenneuenKonzeptualismusmalsorichtigplatt-Offensive genau gar nix kam (außer einem mehr weinerlich-beleidigten als kämpferischen Antwortbrief von Johannes Kreidler auf die unverschämten Anschuldigungen, er wisse gar nicht, dass Wagner-Tuben gar keine Tuben seien, in dem er nochmal in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen hat, dass er selbstverständlich wisse, dass Wagner-Tuben keine Tuben seien, dass aber der andere [ich vergesse die Namen so schnell wieder] offensichtlich gar nicht wisse, dass die ersten Prototypen der Wagner-Tuben, die selbstverständlich, wie er und jeder andere wisse, gar keine Tuben seien, doch tatsächlich Tuben waren oder so ähnlich), war die neue Ausgabe der allseits beliebten und komischerweise immer langweiligen MusikTexte ein wirklicher Schlag ins Gesicht. Ich erspare mir hier die Aufzählung von ermüdenden "Analysen", diesmal wurden einige Stücke von Enno Poppe irgendwie auseinandergenommen, ohne dass klar werden würde, was man denn nun mit diesem Wust von unverständlichen Tabellen (warum zum Geier wird auf einer Drittelseite die Zuordnung von "Übergeordneten Settingnummern" zu "Keyboard 1" und "Keyboard 2" abgedruckt, immer mit der Frage versehen: "Modulation On?" [weiss ich doch nicht, ob die Modulation on ist]), Notensalat und Textbausteinen aus der Verlagsbroschüre ("spätestens seit 'Thema mit 840 Variationen' komponiert Enno Poppe mit kleinsten Zellen...") eigentlich anfangen soll. Irgendwie soll damit wohl bewiesen werden, dass Enno Poppe ein gaanz gaaanz toller Komponist ist. Muss er ja sein, sonst wären die ganzen Seiten, die die MusikTexte ihm gewidmet haben, ja eigentlich bloß schlechteres Klopapier, weil nicht ganz so weich wie das dreilagige von Hakle. Ich sage weder, dass er es nicht, noch dass er es ist, halte diese Art von Apologetik aber für total schwachsinnig.

Wie dem auch sei, eigentlich wollte ich auf das "Prunkstück" dieser Ausgabe hinaus, und das ist diesmal eindeutig und weit vor allem anderen die Seite 20 (Ausgabe 142). Ein halbseitiges Photo unseres geliebten Helmut Lachenmann, mit Che-Guevara-artig verfremdetem eigenen Konterfei auf dem Tshirt und Schlandfahne in der Hand, die Augen irre aufgerissen, die Haare irre in die Stirn gekämmt oder gelegt, was weiß ich denn. Titel: "WM-Tagebuch eines geschüttelten Komponisten". Unter dem Photo ein Haufen Schüttelreime, thematisch auf die Fussball-WM bezogen. Na gut, könnte man sagen, meinetwegen, jede Zeitung hat ihre Witz-Seite, warum nicht auch mal die MusikTexte. So ein humoristisches Schmankerl, zumal vom großen Neuhörenlernen-Guru der Nation. Ist doch nett. Da treffen sich auf schmunzelnde Weise Hoch- und Tiefkultur. Warum denn also nicht? Ganz einfach: Weil es doof ist. Nein, es ist nicht nur doof, es ist peinlich. Nein, noch mehr, es ist direkt beschämend. Ich fange mal mit der Frage an, wie der Abdruck dieser Texte eigentlich in die Wege geleitet wurde: Hat irgendein Redakteur bei sich gedacht: Mensch, wäre doch nett, wenn wir irgendwas zur WM im Heft drinne hätten, sind ja auch Weltmeister geworden, das wär doch schön. Irgendwas Lustiges, nicht zu ernst, weil ist ja nur Fussball und so. Wart mal, ich ruf mal den Helmut an, der macht doch immer so lustige Sachen. Der hat bestimmt was. Ja, Helmut, du, sach mal, haste vielleicht irgendwas Lustiges zur Fussball-WM? Ja, genau, für die neuen MusikTexte. Naja, so 'ne Seite oder so. Nee, ehrlich, haste? Ach was, Schüttelreime? Ist ja großartig. Kannste mir mal einen... ja, hol ma aus'm Komponierhäusel, ich warte [dumm-di-dumm, di-di-di-di-di-dumm], ja, ich bin noch dran. Lies ma vor. Hahahahaha, super, Helmut, nee ehrlich super, du weißt, ich würd's sagen, wenn's anders wär. Hahahaha, großartig Müller kniet - Knüller mied, du kommst auf Sachen, Helmut, weiste was, fax mir die Sachen ma rüber, das machen wir. Ach so, nur ne halbe Druckseite...hm...na denn machen wir noch ein Photo dazu, lass dir noch was einfallen, vielleicht was Politisches oder so. Ja, ruhig mit Deutschlandfahne und irgend'ner ironischen Brechung dazu, was aus'n 68ern oder so, ja, genau, Che und so, mach ma, wir bringen das, super, tschö Helmut.
Oder, was eigentlich auch nicht besser wäre: Lachenmann selbst ist an einen der Redakteure herangetreten mit dem Hinweis, er habe da einige Parerga und Paralipomena (höhö) zur Fussball-WM, ob man die nicht mal, und so weiter.

Der Punkt ist ja der: Die Dinger sind von Lachenmann. Meinetwegen, jeder hat ja so ein kleines Poesiealbum unter'm Kopfkissen, wo er seine Geistesblitzchen reinkritzelt. Aber deswegen sind sie ja noch lange nicht gut. Oder lustig. Oder von Interesse. Im Grunde ist diese Seite auch nix anderes als eine Homestory aus der inStyle, nur halt für Kulturidioten. Wenn diese Kulturidioten einfach mal zugäben, dass sie ja auch nur Menschen sind mit dem Bedürfnis nach Tratsch und einer gesunden Portion Neugier, die Nase in das Leben anderer Leute zu stecken, wäre das alles halb so schlimm. Aber das tun sie ja nicht. Sie tun so, als hätten diese bestenfalls albernen Schüttelreime durch den Namen Lachenmann den Odor des Hochkulturellen und des irgendwie Subversiven und als sei es daher in Ordnung, sie direkt vor ein Interview zu drucken, das mit den Worten beginnt: "Sie sprechen häufig von Impetus. Können Sie diese Initialzündung beschreiben?" Man hätte einfach beides lassen sollen, die Schüttelreime und das Interview. Im Grunde das ganze Heft. Jedenfalls war die ganze Sache zu einem gut: Während ich beim Eggert und Darmstadt usw. hilflos vor meinem Computermonitor gesessen habe, konnte ich die MusikTexte mit Verve in die Ecke pfeffern. Herrlich. Und konnte damit den endgültigen Beweis für die Tatsache liefern, dass so ein Computermonitor eigentlich ein Rückschritt und ein Kulturvernichter ist, weil man ihn nicht ohne größere Einbußen einfach so in die Ecke pfeffern kann, wenn einem mal danach sein sollte.
Nun sind wir also durch die Fallbeispiele durch. Und, worauf wollte ich jetzt eigentlich hinaus?
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Also: Wut.