Donnerstag, 18. September 2014

Kommentar 40 - Prowokäischn, wott iz itt? / Von der Monophonie der Provokation

Viele Möglichkeiten bleiben einem heutzutage nicht mehr, wenn man, wie es so schön heißt, einen 'handfesten' Skandal in der Kunstszene provozieren will. Da muss man schon tief in die Tabukiste greifen und ganz schön rumwühlen, will man ein geeignetes Thema finden. Hitler oder Nazikram funktionieren immer. Naja, meistens. Kannibalismus, bzw. seine Befürwortung. Sex mit Minderjährigen. Um nicht zu sagen Pädophilie. Nekrophilie vielleicht noch, aber da bin ich mir schon nicht mehr so sicher. Scheint irgendwie überhaupt aus der Mode gekommen zu sein. Andererseits bin ich da auch nicht unbedingt auf dem Laufenden. Jedenfalls muss man schon was aufbieten, damit sich überhaupt noch einer über irgendwas aufregt.


 Niemand scheint mehr irgendein funktionierendes Gefühl dafür zu haben, wann er denn nun provoziert zu sein hat und wann nicht. Man fühlt sich ja öfter von irgendeinem permanent linksfahrenden Idioten auf der Autobahn provoziert als von 'nem 'Künstler', der eigene Körperteile kocht und zu einem Glas Rotwein isst, oder totgeborene Babys (zumindest behauptet er das) oder ähnliches Zeug. Im geliebten Internet finden sich schnell eine Menge Sachen, die man im Nachhinein lieber doch nicht gefunden hätte. Na gut, ich hab auch danach gesucht, also selber schuld. Aber so richtig provoziert fühle ich mich davon nicht, sondern bloß angewidert. Oder ich behaupte nur, dass ich mich davon nicht provoziert fühle, und bin in Wirklichkeit doch provoziert, traue mich aber nicht, es zuzugeben, weil man mich ja dann für einen Spießer halten könnte. Und ein Spießer zu sein, das ist nun wirklich das Allerletzte. Schlimmer noch als seine eigene Hüfte zu kochen. Hundert Jahre (+/-) provokativer Kunst haben immerhin also dafür gesorgt: Dass man weiss, dass man sich besser nicht provozieren lassen sollte. Weil das einfach sowas von uncool ist. Es ist uncool, dem Künstler das Gefühl geben zu müssen, dass er irgendeinen Nerv getroffen hat. Das hieße ja letztendlich, dass er irgendwie klüger ist als man selbst. Weil er über das zu verletzende Tabu 'nachgedacht' hat und zu dem Schluß gekommen ist, dass man es verletzen sollte. Weil man das in der Kunst nunmal so macht. Tabus verletzen. Grenzen niederreißen. Freier Geist und Wind und so.

So ein Tabubruch ist ja immerhin auch oft nützlich, um eine Diskussion in Gang zu bringen, wobei ich mich schon frage, was für eine Art Diskussion das Verspeisen einer Totgeburt eigentlich in Gang bringen soll. Der chinesische Künstler behauptet ja, er begehe den Tabubruch, um herauszufinden, ob ihn überhaupt noch jemand als Tabubruch empfinde (insofern bin ich vielleicht irgendwie abartig, wenn ich diesen Tabubruch nicht als provozierend empfinde, sondern als bloß widerlich, andererseits will ich dem 'Künstler' ja auch nicht das Gefühl der Befriedigung geben, dass er mit seiner Fragestellung irgendeinen Nerv getroffen hätte, insofern sitze ich hier in der Falle und komme nicht raus, wie ich es auch drehe und wende; so behält der 'Künstler' also in jedem Fall Recht, was schön für ihn, aber irgendwie blöd für mich ist). Na gut, wer das für 'nen etwas billigen, leicht zirkelschlüssigen Ansatz hält, liegt vielleicht auch nicht ganz daneben. Denn öfter als für den noblen Zweck der Diskussionskatalyse dienen Tabubrüche, the bleedin' obvious, als ganz und gar unnoble Aufmerksamkeitserzeuger. Natürlich stellt sich kein Künstler hin und sagt geradeheraus, dass er einfach nach irgendeinem Tabu gesucht hat, das noch nicht oder noch nicht genug verletzt wurde, damit er in die Zeitung kommt (süß, ne, in die 'Zeitung'). Weil das ja auch wieder uncool ist, auf Künstlerseite jetzt, weil man nicht zugeben darf, dass man den ganzen Scheiß nur macht, um den eigenen Namen nachher auf Platz eins der Google-Suche zu finden, am besten noch möglichst unabhängig vom eingetippten Suchwort. So hat halt jeder seine Tabus und Tabüchens, die Kunstwelt nicht anders als die stinknormale Spießerwelt. Natürlich hat der gemeine Künstler ebenso wie der gemeine Spießer inzwischen gelernt, dass es uncool ist, sich provozieren zu lassen. Also schiebt er, wie der gemeine Spießer, schnell irgendeinen anderen, möglichst unverdächtigen Abwehrgrund vor. Sehr beliebt ist das Langeweile-Motiv. Ist ja alles so langweilig, kenn ich alles schon, hab ich schon gesehen, schon gehört, schon selbst gegessen. Öööööde. Ach Gottchen, wenn der mich provozieren will, dann muss er aber früher aufstehen. Damit einher geht häufig die Abwertung der Provokation als bloße 'Albernheit', als 'kindisches' bzw. 'pubertäres' Zeug und so weiter und so fort. Die Provokation wird also erstmal kleingeredet, bis sie (in den Augen des Provozierten jedenfalls) keine mehr ist, weil sie von vorneherein keine sein durfte.

Bei der Behauptung von Langeweile sollte eigentlich immer der bullshit-Alarm losgehen. Wenn irgendwas ganz offensichtlich auf Provokation ausgelegt ist und jemand mit der Langeweile-Arie darauf reagiert, kann man mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass er sich provoziert gefühlt hat (mir muss erstmal einer das Gegenteil beweisen, und nein, es reicht nicht, einfach zu behaupten, man habe sich nicht provoziert gefühlt).

Sehr schön beobachten konnte man neulich diesen Mechanismus an der Diskussion (hier und hier noch weitere Bruchstücke davon) die sich um einen Ausschnitt aus 'Audioguide' von Johannes Kreidler im sogenannten Bad Blog of Musick entspann. Es geht um diese Zerstörung von 65 oder 100 oder wer weiß wie vielen Geigen. Keine Ahnung, ob der Kreidler das als Provokation gemeint hat, irgendwie hängt das Ganze mit seiner Donaueschingen-Protestaktion gegen die Fusion der beiden SWR-Orchester zusammen und erinnert auch an das allseits beliebte Zerschmettern von Gitarren bei Rockbands. Darum geht's im Augenblick auch gar nicht, sondern um die Reaktionen darauf.

Und die folgen exakt dem von mir beschriebenen Muster. Davon abgesehen, dass Godwin's Law mal wieder aufs Glänzendste bestätigt wurde (hier), kam relativ schnell die Rede darauf, dass dem Kreidler'schen Werk die "existentielle Tiefe" fehle, dass die Diskussion um den Gegenstand viel interessanter sei als der Gegenstand selbst, dass man mit den Geigen auch was Sinnvolleres hätte anfangen können (nach Afrika schicken [!!!!], kein Scherz) und dergleichen Abwehrstrategien mehr ('kindisch', 'ungebildet', 'macht man einfach nicht', 'unoriginell', 'Wohlstandsverwahrlosung' usw.). Es lief im Grunde darauf hinaus, die Provokation (die Zerstörung von Musikinstrumenten) nicht als solche zuzugeben. Keiner will rückständig erscheinen, allen ist doch nur das Seelenheil und die Zukunft der Kunstmusik ein Anliegen, man ist sich nur nicht einig über den zu beschreitenden Weg dahin. Die einen sagen, weg mit dem alten Schrott, die anderen sagen, lass uns den alten Schrott nochmal verzinken, dann hält er vielleicht noch 'n bißchen. Niemand von den Diskutanten hat irgendein substantiell ästhetisches Argument gegen (oder meinetwegen auch für) die Aktion gebracht (naja, vielleicht mit Ausnahme von Alexander Strauch, was mir aber im Dickicht seiner grammatikalischen Ungetüme, die er wohl für Sätze hält, entgangen sein mag). Es lief immer darauf hinaus, für sich selbst die provokative Spitze in irgendeiner Form stumpf zu klopfen, einfach weil es sich besser anfühlt, wenn man seine Gefühle der Abneigung im Nachhinein rationalisiert, das heißt also mit einer Art pseudo-logisch aufgebautem Skelett versieht. Andererseits war die Provokation doch irgendwie gelungen, indem sie auf (ungewollt?) manipulative Weise die Diskussion in Gang setzte, von der doch jeder der "nicht"-Provozierten behauptet hat, sie könne von diesem "langweiligen Kram" gar nicht ausgelöst werden (wie übrigens auch bei dieser Diskussion über einen anderen Ausschnitt aus 'Audioguide'). Dumm gelaufen, ne? Plötzlich wurde über Orchesterschließungen geredet, über Musikausbildung usw. (oder, im anderen Fall, über Kultur-'Subventionen', Machtmechanismen in der Neuen Musik usw.) Bemerkenswert für ein Stück Kunst, von dem doch behauptet wurde, es sei 'langweilig', 'albern' oder besitze gar keine 'existentielle Tiefe' (was zur Hölle auch immer das sein mag).

Damit ist noch gar nix darüber gesagt, ob ein Kunstwerk, das eine Provokation erfolgreich in Szene setzt, eigentlich auch ein gelungenes Kunstwerk ist. Eine Provokation ist ja an sich 'ne ziemlich monothematische, oder, um's in Musiksprache zu sagen: monophone Sache. Ein Aufreger wird durchgekaut (im wahrsten Wortsinn...) und das war's. Ohne jetzt die elendige WasistKunst-Dose wieder aufmachen zu wollen (ALLES!!!?), stellt sich mir doch die Frage, was eigentlich mit einem Kunstwerk passiert, wenn man es derartig auf einen Punkt festnagelt. (Im Übrigen, und das wird mich demnächst an dieser Stelle beschäftigen, hege ich inzwischen den Verdacht, dass, grob geschätzt, achtzig bis neunzig Prozent der zeitgenössischen [Kunst-] Musik im weiteren Sinne monophon sind.)

Man kommt also nicht mehr ran an die Leute, an Künstler genausowenig wie an Nicht-Künstler. Jedenfalls nicht so, wie die Künstler sich das wohl vorstellen: Aufgebrachte Zuhörer, die sich im Konzertsaal prügeln, die mit Fackeln und Mistgabeln bewaffnet durch den Ort ziehen, um den Tabubrecher zu lynchen. Im besten Falle kriegt man eine Diskussion, bei der aber niemand zugibt, dass das provokative Stück irgendwas mit der provozierten Disukssion zu tun hat. Ein unbefriedigender Zustand.

Es gibt immer wieder Versuche, irgendwie aus dieser provokationsimmunen Hölle rauszukommen, und alle scheitern an der Provokationsimmunität. Lehrhaft (ja genau, delectare und docere) in diesem Zusammenhang sind die Bücher von Matias Faldbakken. Darin geht's eigentlich permament um die Unmöglichkeit, irgendwen mit irgendwas zu provozieren. Um die Mainstreamisierung des Undergrounds. Um die Normalisierung von Abartigkeiten. Und so packt Faldbakken Provokation auf Provokation (unter anderem in Macht und Rebel: ein Typ, der zum Hitler-Bewunderer wird, aus dem einzigen Grund, weil er es doof findet, kein Antisemit sein zu dürfen; die ultimative Provokation im Konsens-Kapitalismus aber ist der von Faldbakken erfundene Trend, bewußt und gewissermaßen 'stolz' gefakte Markenschuhe zu tragen), in der Hoffnung, irgendwie doch noch irgendjemanden zu provozieren. Aber das passiert einfach nicht. Seine Bücher werden gelesen, die Leute finden sie unterhaltsam, mir ist nichts davon bekannt, dass sie irgendeine nennenswerte Diskussion über irgendwas ausgelöst hätten. Seine Bücher doppeln also (unfreiwilligerweise) den darin beschriebenen Umstand selbst im 'echten' Leben. Die Konsensgesellschaft ist halt nunmal totalitär. Bevor jetzt wieder das Lamento darüber losgeht ("buhuu, ich werde hier zu Tode toleriert"), muss man vielleicht auch mal drauf hinweisen, dass wir 'n paar hundert Jahre und 'n Haufen Menschenleben dafür verbraucht haben, eine solche Gesellschaft möglich zu machen. Irgendwie erinnern mich diese Klagen entfernt an die Klagen über nicht stattfindende Kriege zum Zwecke des character building.

Ach ja, die Geigenzertrümmerungsnummer fand ich übrigens langweilig ...

Montag, 1. September 2014

Kommentar 39 - Resampled / Über Wut (Von der Kunstseuche und dem ganzen anderen Rest nebst dem endgültigen Beweis für die Überlegenheit gedruckten Papieres über den Computerbildschirm)


Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete, und hätte der Wut nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.

Es gibt ja 'ne Menge Dinge, die einen wütend machen können. Das fängt bei Tiefbahnhöfen an und hört bei über den Zaun hängenden Apfelbaumästen auf, oder vielleicht auch bei nicht zugedrehten Zahnpastatuben, je nach Persönlichkeitsstruktur. Jedenfalls ist Wut eine seltsam einseitige Emotion. Sie macht blind, heißt es ja schon im Volksmund - übrigens darin der Liebe ähnlich -, und sie treibt einen zu irrationalen, unüberlegten oder auch einfach nur unheimlich dämlichen Taten - auch darin der Liebe nicht unverwandt. Selten (genau gesagt: nie) hört man davon, dass eine großartige Tat - jetzt aber ganz anders als bei der Liebe - aus Wut geboren worden ist. Aus Wut entsteht immer nur Schwachsinn. Im Zweifelsfall erregt die aus Wut entstandene Tat des Einen die Wut und damit die aus Wut entstandene Tat des Anderen, die bestimmt mindestens so idiotisch ist wie die ihr vorausgegangene Tat. Die Eskalation ist der Wut ja quasi gleichsam subkutan eingeschrieben.
Jetzt aber, was soll das Geschwafel über Wut? Ich finde ja trotz allem, dass es zu wenig Wut gibt. Gute, alte Wut. Biblisch kann man ja nicht sagen, biblisch ist ja schon der Zorn, der kleine perverse fuckbuddy der Wut. Aber so 'ne richtig gut abgehangene Wut, das ist schon was Feines. Was Exquisites.

Ich rede hier von richtiger Wut.

Nicht dieser öden, wohlfeilen IchkettemichanBäumeweildieHaselmaussonstkeinNestmehrhatWut oder der DieWeltistsoungerechtundinAfrikahungerndieKinderWut oder so 'nem Quark. Also nicht etwas, das sich eigentlich auf einen vermeintlich guten oder vermeintlich gutgemeinten Zweck richtet, also per definitionem keine Wut ist. Nein, ich rede von ganz egoistischer Wut, so 'ner Wut, die einen sich vorstellen läßt, wie man den Nachbarn mit 'ner Axt in Stücke hackt, weil's mal wieder drei Blätter Laub von seinem Baum auf den eigenen Rasen geweht hat. Wut in ihrer reinsten Form. Ungefiltert, unzivilisiert, ungezügelt.

Moment mal, das klingt ja nun doch 'n bißchen sehr nach Marinetti (Achtung: Synekdoche[!]) und dem ganzen antihumanistischen Scheiß, der uns schon das ganze 20. Jahrhundert versaut hat. Wir sollten froh sein, dass wir das alles inzwischen im Griff haben, dass wir jetzt Egoshooter spielen können, wo wir zum Abreagieren statt richtiger Menschen irgendwelche Pixelklumpen über'n Haufen schießen können. Ja richtig, darüber können wir froh sein. Natürlich. Selbstverständlich. Auf jeden Fall. Klaro. Wolfenstein 3D - juchhee!

Gibt ja nix Schlimmeres als dieses unerträglich dümmliche Geschwafel von wegen "Euch geht's doch viel zu gut, ihr solltet mal 'nen Krieg miterleben, da wißt ihr erst, wie dreckig es einem gehen kann, dann erst könnt ihr überhaupt mitreden / wirkliche Kunst machen / echte Gefühle haben / Verantwortung übernehmen." Hört man ja in letzter Zeit immer öfter, diesen gequirlten Mist. Zuletzt in einem Artikel von Moritz Eggert, den er "dankenswerterweise" sowohl in Deutsch als auch Englisch auf dem sogenannten "BadBlog of Musick" veröffentlicht hat. Er streitet natürlich ab, dass diese Schlussfolgerung aus seinen "Überlegungen" gezogen werden sollte, aber zu was zum Teufel sollen solche "Überlegungen" gut sein, wenn nicht zu diesem Schluss? Die "Argumentation" geht ja so: Früher (als alles noch viel, viel, viel, viel, viiiiel besser war) mussten die Menschen um ihr Überleben kämpfen (genau: kämpfen). Da hatte man noch richtige Gefühle, weil man ja täglich mit der nackten Angst ums Überleben die Füße aus dem Heuboden geschwungen hat. Dann ging es immer weiter bergauf bzw. ja eigentlich bergab und jetzt, nach unerträglich langen 70 Jahren Frieden in Europa, weiß die verweichlichte Generation der Wohlstandskinder überhaupt nicht mehr, was eigentlich so'n "richtiges" Gefühl überhaupt ist. Sprich: Sie kennt nur noch unrichtige, also wenigstens zweitklassige, wenn nicht sogar nur noch Surrogat-Gefühle. Hoppladihopp - schon simmer bei der Feststellung, dass die verweichlichte Generation von Wohlstandsschlappschwänzen im Grunde gar nix kann, weiß und fühlt und deshalb eigentlich auch gleich aufhören könnte, irgendwas zu machen. Nach derselben Logik ist es auch völlig legitim und sogar ein Gebot der Menschlichkeit, Kinder zu schlagen und sie wie den letzten Dreck zu behandeln, weil sie ja sonst gar nicht lernen, was Disziplin heißt. Und ohne Disziplin wäre das Leben ein Irrtum.
Man könnte ja auch den Gedankengang umdrehen und einfach mal behaupten, dass die Menschen früher vor lauter Angst ums Überleben gar nicht wußten, was überhaupt ein Gefühl ist. Z.B. von wegen Liebesheirat, Kinderliebe usw. Oder, und das wäre das allerbeste, man könnte einfach mal aufhören, die Gegenwart gegen die Vergangenheit auszuspielen und Unvergleichbares ständig miteinander zu vergleichen. Früher hatten wir Krieg, jetzt nicht mehr (vielleicht ja bald wieder, wer weiß, dann kommen sie wieder aus ihren Löchern gekrochen, die Verfechter der "echten" Gefühle und des Überlebenskampfes und dann dürfen sie mal zeigen, was in ihnen steckt; redet sich ja leicht von der angeblich "reinigenden" Wirkung von so'nem Krieg, wenn er nicht gerade 'nen Häuserblock weiter stattfindet).

Nun gut, jetzt habe ich also festgestellt, was ich mit meinem leidenschaftlichen Plädoyer für die Wut eben gerade nicht meine. Gleichzeitig bleibt meine Feststellung von oben bestehen, dass es nach meinem Dafürhalten zu wenig Wut gibt. Es gibt z.B. auch überhaupt keine wütende Kunst, jedenfalls nicht, dass ich davon wüßte. Vielleicht schließen sich diese beiden Begriffe gegenseitig aus, weil ja aus Wut nix Dolles entstehen kann. Hm, ich weiß nicht.
Und was macht man, wenn man argumentativ nicht mehr weiterweiß. Man wird konkret, macht mal 'n Fallbeispiel und schaut, ob man irgendwo dabei rauskommt. Vielleicht (und das wäre wohl das Beste) vergisst der Leser ja auch unterwegs das ganze Geseiere von vorher und merkt gar nicht, dass alles nur 'ne gedankliche Sackgasse war.

Also:
Zwei Anlässe haben mich in der letzten Zeit wütend gemacht: Das neue Heft der MusikTexte und der ganze Darmstädterferienkurskomplex.

Ich fange mal mit letzterem an, weil es sich in verschiedene Ärgernisse gliedert, die irgendwie miteinander zu tun haben und jeder für sich vielleicht noch nicht wutauslösend sein müssten, es in der Summe der Dinge aber doch sind:
Kurz vor Beginn der Ferienspiele veröffentlicht der notorische Moritz Eggert auf dem sogenannten "BadBlog of Musick" eine "Satire" auf Darmstadt und den dortigen Zirkus, in der er im "Stile" eines Gangsta-Rap-Musikvideos die dort versammelte Szene "persifliert". Ich weiß gar nicht, wo ich da anfangen soll. Vielleicht ja so: Inhaltlich unter aller Sau, stilistisch unter aller Sau, handwerklich unter aller Sau. Anscheinend hat er noch nie was davon gehört, dass eine Satire von der Genauigkeit der Beobachtung lebt, vom Timing, von der Präzision. Kurz: Ich habe schon lange (vielleicht seit den Funniest HomeVideos of the World) nichts so unerträglich Unlustiges mehr gesehen.
Derart warmgewütet habe ich in der Folge versucht, mangels eigener Anwesenheit dortselbst, den Darmstädter Betrieb in der einen oder anderen Form mitzuverfolgen. Da gab es ja allerhand Bemühungen im sogenannten "Internet", Streams von den Lectures bzw. Podiumsdiskussionen, Blogartikel usw. usf. Naja, was soll ich sagen, ich habe bald schon das Interesse verloren, einem abgehackten Livestream auf VoiceRepublic folgen zu wollen, in dem ich weder wusste, wer gerade redet, noch, worum es überhaupt geht. Liebes "Internet", das muss besser werden. Schlussendlich habe ich mir das Zusammenfass-Video von der NMZ angeschaut und wurde im Verlauf desselben so wütend, dass ich selbst die achteinhalb oder was Minuten nicht fertig geschafft habe.
Erstens: Vielleicht war ich schon von Moritz Eggerts Video mies draufgebracht und bin schon mit einer Grundwut in die ganze Sache reingegangen, aber diese Wichtigkeit, mit der die Leute dort ihren gedanklichen Dünnpfiff in die Kamera gesagt haben, fand ich erst lächerlich und dann ärgerlich. Ein unerträgliches Gefasel von irgendwelchem Pseudokunstscheiß, ich dachte wirklich, das kann ja gar nicht sein. Fliegt da einer mit Drohnen über 'nen Darmstädter Platz und labert was von "Überwachungsstaat". Fliegen (warum wurde überhaupt so viel geflogen?) 'n paar Heißluftballons durch die Gegend, während ihre Gasfeuerung in irgendeinem (wahrscheinlich algorithmisch hergestellten) Rhythmus betrieben wird. Probt irgend'n Ensemble irgendwelches Tongeöde, das man beim besten Willen nicht orginell nennen darf, und schwafelt was von künstlerischer Arbeit. 'Ne Freilichtaufführung von dem großartigen "Generation Kill" von Stefan Prins (na klar, erst Donaueschingen, dann Darmstadt, ich erspare mir die schmierigen Details). Und immer mit so'nem todernsten Ausdruck auf dem Gesicht, so als ginge es jetzt und sofort um ALLES. Herrgottnochmal, ich ertrage es nicht mehr. Ich will diese ganze Scheiße nicht mehr sehen / hören / lesen. Ich will nicht, dass irgendjemand nochmal das Wort "Kunst" in den Mund nimmt. Durchfall ist und bleibt Durchfall und wird nicht dadurch schmackhafter, dass man ihn jetzt Kunst nennt (abgesehen von der in Dosen abgefüllten Kacke Manzonis). Der Gebrauch des Wortes "Kunst" sollte unter schwere Strafe gestellt werden. Es sollte überhaupt keine "Kunst" mehr geben. Das wäre das Beste für alle Beteiligten. Und für die Unbeteiligten sowieso.

Vor lauter Aufregung darüber WAS alles Kunst sein kann, oder WAS Kunst alles sein kann, wird inzwischen völlig vergessen, die viel wichtigere und eigentlich alles entscheidende und einzig relevante Frage zu stellen: WIE Kunst sein kann. Die Frage nach dem Kunstfertigen wird von der Frage nach dem Kunstartigen überdeckt, zugedeckt, erstickt. Diese erstere Frage wird gerahmt von einer Aussage und einer zweiten Frage: Erstens: Es gibt Kunst und alles kann Kunst sein. Verdammtnochmal, das wissen wir jetzt (siehe allerallerspätestens Manzoni). Zweitens: Warum ist es überhaupt wichtig, dass etwas Kunst und nicht Nicht-Kunst ist? Ja genau, warum zur Hölle ist es Euch Kunstheinis denn so verflucht wichtig, dass euer Krempel Kunst ist? Geht's nicht auch 'ne Nummer kleiner? Wenn ihr den Menschen was beibringen wollt, dann werdet gottverflucht nochmal Lehrer (ich schaue ganz streng Helmut Lachenmann an). Wenn ihr philosophieren wollt, dann werdet in Gottes Namen Philosophen und schreibt unnütze Bücher wie der Hindrichs. Wenn ihr gegen den "Überwachungsstaat", gegen Krieg, gegen Kinderarbeit, gegen die Globalisierung, gegen die Startbahn West, gegen Atomkraft, gegen irgend'ne Religion, gegen den Kapitalismus, gegen Nazis, gegen Kommunismus, gegen Drohnen, gegen Aufrüstung, gegen Wasauchimmer seid, dann werdet scheißenochmal Politiker und kümmert euch endlich mal um den ganzen Dreck auf der Welt und hört auf, mir im Konzertsaal die Ohren mit eurem Gejammer vollzuschleimen. ES INTERESSIERT MICH NICHT DIE KLEINSTE BOHNE! Ich will nicht im Konzertsaal "aufgerüttelt" werden. Ich will nicht zuhören, wie dem Komponisten beim Komponieren anscheinend einer abgegangen ist, weil er seine Gedanken selbst so geil fand. Ich will nicht "neu hören lernen". Kann ich schon. Und wenn es nicht das richtige "Neu-Hören" ist, dann will ich es trotzdem nicht lernen. Lasst mich mit dieser ganzen Scheiße in Ruhe.

(ich hole tief Luft)

Jedenfalls hat mich dieses Video ziemlich geärgert. Nicht zuletzt auch und damit:
Zweitens: Die Ausschnitte aus Johannes Kreidlers neuem Musiktheater oder was auch immer das sein soll. Ich habe mich ja schon verschiedentlich mit Kreidlers Stücken auseinandergesetzt und dem ganzen Neue-Konzeptualismus-Kram und wie die Henne zum Ei kam und so. Ich möchte für mich in Anspruch nehmen, dass ich das bisher zwar subjektiv in der Aussage aber doch objektiv in dem Bemühen, zu dieser Aussage zu gelangen, getan habe. Damit ist nun Schluss. Ich will auch gar nix davon hören, dass ich doch auf Grund einiger sekundenlanger Ausschnitte nicht ein siebenstündiges Werk beurteilen könne (im Übrigen habe ich mir noch 'n Haufen Schnipsel davon auf YouTube angesehen, also mindestens eine gute Stunde von dem Zeug). Kann ich. Mach ich. Wenn die Ausschnitte so in diesem Werk zu sehen bzw. hören sind, dann will ich den Rest einfach nicht mehr kennenlernen. Was soll das? Was soll das doofe Rumgehopse auf der Bühne zu Metal-Musik? Soll das lustig sein? Inwiefern dient das, ja was eigentlich? Soll so die Beschäftigung mit populärer Musik aussehen? Soll das eine Persiflage sein? Mannmannmann...ich zitiere mich selbst:
Inhaltlich unter aller Sau, stilistisch unter aller Sau, handwerklich unter aller Sau. (siehe oben, Eggert)
Das Schöne an so'ner Wut ist ja, dass sie beinahe eins zu eins wiederkehrt, wenn man sich die Umstände ihres ersten Auftauchens so genau wie möglich ins Gedächtnis ruft. Ein unerschöpflicher Quell steter Aufwühlung.

Und weil's so schön ist, und weil man sich in seiner Wut so schön behausen kann (whoo-hoo heideggoo) jetzt noch der Aufreger aus den MusikTexten:
Abgesehen davon, dass ich schon von der vorletzten Nummer enttäuscht war, weil von der großangekündigten WirmachendenneuenKonzeptualismusmalsorichtigplatt-Offensive genau gar nix kam (außer einem mehr weinerlich-beleidigten als kämpferischen Antwortbrief von Johannes Kreidler auf die unverschämten Anschuldigungen, er wisse gar nicht, dass Wagner-Tuben gar keine Tuben seien, in dem er nochmal in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen hat, dass er selbstverständlich wisse, dass Wagner-Tuben keine Tuben seien, dass aber der andere [ich vergesse die Namen so schnell wieder] offensichtlich gar nicht wisse, dass die ersten Prototypen der Wagner-Tuben, die selbstverständlich, wie er und jeder andere wisse, gar keine Tuben seien, doch tatsächlich Tuben waren oder so ähnlich), war die neue Ausgabe der allseits beliebten und komischerweise immer langweiligen MusikTexte ein wirklicher Schlag ins Gesicht. Ich erspare mir hier die Aufzählung von ermüdenden "Analysen", diesmal wurden einige Stücke von Enno Poppe irgendwie auseinandergenommen, ohne dass klar werden würde, was man denn nun mit diesem Wust von unverständlichen Tabellen (warum zum Geier wird auf einer Drittelseite die Zuordnung von "Übergeordneten Settingnummern" zu "Keyboard 1" und "Keyboard 2" abgedruckt, immer mit der Frage versehen: "Modulation On?" [weiss ich doch nicht, ob die Modulation on ist]), Notensalat und Textbausteinen aus der Verlagsbroschüre ("spätestens seit 'Thema mit 840 Variationen' komponiert Enno Poppe mit kleinsten Zellen...") eigentlich anfangen soll. Irgendwie soll damit wohl bewiesen werden, dass Enno Poppe ein gaanz gaaanz toller Komponist ist. Muss er ja sein, sonst wären die ganzen Seiten, die die MusikTexte ihm gewidmet haben, ja eigentlich bloß schlechteres Klopapier, weil nicht ganz so weich wie das dreilagige von Hakle. Ich sage weder, dass er es nicht, noch dass er es ist, halte diese Art von Apologetik aber für total schwachsinnig.

Wie dem auch sei, eigentlich wollte ich auf das "Prunkstück" dieser Ausgabe hinaus, und das ist diesmal eindeutig und weit vor allem anderen die Seite 20 (Ausgabe 142). Ein halbseitiges Photo unseres geliebten Helmut Lachenmann, mit Che-Guevara-artig verfremdetem eigenen Konterfei auf dem Tshirt und Schlandfahne in der Hand, die Augen irre aufgerissen, die Haare irre in die Stirn gekämmt oder gelegt, was weiß ich denn. Titel: "WM-Tagebuch eines geschüttelten Komponisten". Unter dem Photo ein Haufen Schüttelreime, thematisch auf die Fussball-WM bezogen. Na gut, könnte man sagen, meinetwegen, jede Zeitung hat ihre Witz-Seite, warum nicht auch mal die MusikTexte. So ein humoristisches Schmankerl, zumal vom großen Neuhörenlernen-Guru der Nation. Ist doch nett. Da treffen sich auf schmunzelnde Weise Hoch- und Tiefkultur. Warum denn also nicht? Ganz einfach: Weil es doof ist. Nein, es ist nicht nur doof, es ist peinlich. Nein, noch mehr, es ist direkt beschämend. Ich fange mal mit der Frage an, wie der Abdruck dieser Texte eigentlich in die Wege geleitet wurde: Hat irgendein Redakteur bei sich gedacht: Mensch, wäre doch nett, wenn wir irgendwas zur WM im Heft drinne hätten, sind ja auch Weltmeister geworden, das wär doch schön. Irgendwas Lustiges, nicht zu ernst, weil ist ja nur Fussball und so. Wart mal, ich ruf mal den Helmut an, der macht doch immer so lustige Sachen. Der hat bestimmt was. Ja, Helmut, du, sach mal, haste vielleicht irgendwas Lustiges zur Fussball-WM? Ja, genau, für die neuen MusikTexte. Naja, so 'ne Seite oder so. Nee, ehrlich, haste? Ach was, Schüttelreime? Ist ja großartig. Kannste mir mal einen... ja, hol ma aus'm Komponierhäusel, ich warte [dumm-di-dumm, di-di-di-di-di-dumm], ja, ich bin noch dran. Lies ma vor. Hahahahaha, super, Helmut, nee ehrlich super, du weißt, ich würd's sagen, wenn's anders wär. Hahahaha, großartig Müller kniet - Knüller mied, du kommst auf Sachen, Helmut, weiste was, fax mir die Sachen ma rüber, das machen wir. Ach so, nur ne halbe Druckseite...hm...na denn machen wir noch ein Photo dazu, lass dir noch was einfallen, vielleicht was Politisches oder so. Ja, ruhig mit Deutschlandfahne und irgend'ner ironischen Brechung dazu, was aus'n 68ern oder so, ja, genau, Che und so, mach ma, wir bringen das, super, tschö Helmut.
Oder, was eigentlich auch nicht besser wäre: Lachenmann selbst ist an einen der Redakteure herangetreten mit dem Hinweis, er habe da einige Parerga und Paralipomena (höhö) zur Fussball-WM, ob man die nicht mal, und so weiter.

Der Punkt ist ja der: Die Dinger sind von Lachenmann. Meinetwegen, jeder hat ja so ein kleines Poesiealbum unter'm Kopfkissen, wo er seine Geistesblitzchen reinkritzelt. Aber deswegen sind sie ja noch lange nicht gut. Oder lustig. Oder von Interesse. Im Grunde ist diese Seite auch nix anderes als eine Homestory aus der inStyle, nur halt für Kulturidioten. Wenn diese Kulturidioten einfach mal zugäben, dass sie ja auch nur Menschen sind mit dem Bedürfnis nach Tratsch und einer gesunden Portion Neugier, die Nase in das Leben anderer Leute zu stecken, wäre das alles halb so schlimm. Aber das tun sie ja nicht. Sie tun so, als hätten diese bestenfalls albernen Schüttelreime durch den Namen Lachenmann den Odor des Hochkulturellen und des irgendwie Subversiven und als sei es daher in Ordnung, sie direkt vor ein Interview zu drucken, das mit den Worten beginnt: "Sie sprechen häufig von Impetus. Können Sie diese Initialzündung beschreiben?" Man hätte einfach beides lassen sollen, die Schüttelreime und das Interview. Im Grunde das ganze Heft. Jedenfalls war die ganze Sache zu einem gut: Während ich beim Eggert und Darmstadt usw. hilflos vor meinem Computermonitor gesessen habe, konnte ich die MusikTexte mit Verve in die Ecke pfeffern. Herrlich. Und konnte damit den endgültigen Beweis für die Tatsache liefern, dass so ein Computermonitor eigentlich ein Rückschritt und ein Kulturvernichter ist, weil man ihn nicht ohne größere Einbußen einfach so in die Ecke pfeffern kann, wenn einem mal danach sein sollte.
Nun sind wir also durch die Fallbeispiele durch. Und, worauf wollte ich jetzt eigentlich hinaus?
Mehr Wut wagen. Wut macht müde Männer munter. Wut macht mobil. Vorsprung durch Wut. Schluckst du noch oder wütest du schon? Créateurs de Wut. Nicht nur ärgerlich sondern wütend. Auf diese Wut können Sie bauen.
Also: Wut.

Mittwoch, 30. April 2014

Kommentar 38 - Interlude 2 / Der andere Xenakis und der Traum von der kalten Fusion / Fetzen einer Poetik 9

Es ist ja wohl so, dass es, je älter man wird, immer selter und eigentlich kaum noch diese Momente gibt, wo man von den Socken gehauen wird, wenn man ein Stück das erste Mal hört. Meistens sitzt man rum und denkt die ganze Zeit: Kenn ich schon, weiss ich schon, laaaangweilig, Schrott. Und erinnert sich wehmütig an die Zeit, als man Stille und Umkehr das erste Mal gehört hat, oder das Requiem von Ligeti oder den Sacre oder oder. Aber dann gibt es manchmal doch wieder solche Augenblicke, wo man plötzlich wieder aus seiner Lethargie gerissen wird und denkt: Boah, ist das gut.
So mir vor einiger Zeit geschehen bei The Strychnine Lady von Jani Christou. Seltsamerweise bricht dieses Video, bei dem die Klangqualität ziemlich bescheiden ist, nach etwas mehr als neun Minuten ab. Es gibt zwar noch eine vollständige Audioversion (offensichtlich von der UA), bei der fehlt aber ein entscheidender Teil, nämlich der visuelle. So oder so gibt es also zur Zeit keine (jedenfalls im Internet zugängliche) vollständige (Audio- und Video-) Aufnahme von Strychnine Lady, was es zwar einerseits erschwert, sich ein Gesamtbild von dem Stück zu machen, andererseits jedoch der elementaren Wucht, die es schon in seiner teilweise amputierten Form erzeugt, keinen Abbruch tut.

Christou nennt das Stück, das irgendwie eine Art Violaperformancekonzert ist, einen "rituellen Traum". Der Begriff des Rituellen spielt eine zentrale Rolle in seinem Versuch, das klassische griechische Drama in seiner dionysischen Form wiederzubeleben, wobei es sich in Christous Fall keineswegs bloß um eine Beatmung mit Herzmassage handelt. Er holt den ganz großen Defibrillator raus und jagt ein paar wohl- oder auch unwohldosierte Stromstöße in die zweieinhalbtausendjährige Geschichte dieser Kunstform.
"I am concerned with the transformation of acoustical energies into music." schreibt er in seinem Text "A Credo for Music". Und beklagt den Einfluss von "aesthetics" und "decoration" auf einen Großteil nicht nur der zeitgenössischen Musik. Folgerichtig sind die Mittel, die er in Strychnine Lady und anderen Stücken seiner letzten Lebensjahre verwendet, nicht eben von der, sagen wir mal, subtilen Sorte. Was nicht heißen soll, dass er ein drorfeilerscher Hackebeilkomponist wäre. Im Gegenteil, formal und klanglich ist das alles sehr austariert, szenische Aktion, Musik und Sprache stehen in einem klaren und deshalb wirkungsvollen Verhältnis zueinander.
Los geht es mit einer Ansage, die behauptet, das Stück könne aus technischen Gründen nicht aufgeführt werden. Aus dem Publikum protestiert jemand laut. Zwei Männer treten auf, entfalten ein rotes Tuch, halten es hoch, falten es wieder zusammen und legen es auf ein Tischchen, gehen dann wieder ab. Die Musik setzt ein, der Ansager sagt noch was (wirklich schade, dass das alles auf griechisch ist, dessen ich leider unmächtig bin), dann tritt die Bratschistin auf. Auf einen Schlag verstummt das Orchester und die Bratschistin spielt lautlos irgendwelche mechanisch-virtuosen Figuren. Im folgenden "konzertanten" Teil wechseln Bratschistin und Orchester nach Ritornell-Art einander ab, schaukeln einander hoch bis zu einem ersten Höhepunkt bei 5'20'', an dem dieser Teil durch einen Tamtam-Schlag der Pianistin beendet wird. Über einem Liegeton der Streicher samt Solobratsche treten vier Männer auf, die irgendetwas murmeln (wieder griechisch). Sie gehen zum Klavier in der Mitte der Bühne, das Murmeln steigert sich zum Schreien, bis sie schließlich ins Klavier brüllen.
Das Erstaunliche an diesen ersten sechs Minuten ist, mit welcher Zwanglosigkeit Performance, Musik und rituelles Spiel einander ablösen und ineinandergreifen. Es gibt keine langen Überleitungen, "Erklärungen", Vorbehalte oder ähnliches. Im Grunde sind es alles Setzungen. Gibt kein Rumgetaste und Rumgefummele "am Klang" und "im Ton", das wäre in Christous Verständnis wohl sowieso "Dekoration". Es geht einfach los. Und dann weiter. Und weiter. Und endet nach 25 Minuten, die einem wesentlich kürzer vorkommen, was, wenn ich Claus-Steffen Mahnkopf mal paraphrasieren darf, immer ein gutes Zeichen ist.
Nicht unschuldig an der oder vielmehr entscheidend für die Möglichkeit, diese ganzen Elemente so nebeneinanderstellen zu können, ist nach meinem Dafürhalten die erste Ansage. Man könnte es ja als bloßen Gag abtun, jaja, Stück findet nicht statt, lustig, lustig, diese modernen Künstler. Aber es ist weit mehr als das. Es hebt das Stück von Anfang an auf eine sozusagen irreale Ebene. Denn eigentlich dürfte es ja gar nicht erklingen. Es erklingt aber doch. Natürlich, möchte man meinen, der ganze Aufbau steht ja schon auf der Bühne und welche Art "technischer" Probleme sollte ein stinknormales Orchester und ein paar Schauspieler davon abhalten, ein stinknormales Konzertstück aufzuführen. Indem aber seine Nichtaufführung angesagt wird, ist dem Stück schon von vorneherein in gewisser Weise ein Freiraum eröffnet, der nicht zuletzt auch mit dem Traumszenario, das diesem Stück zugrunde liegt (die Strychnine Lady entstammt einem von Christous Träumen, in dem er eine Frau sucht, die irgendwelchen Leuten Strychnin verabreicht), zusammenhängt. Ausserdem ist mit dieser Ansage schon klargestellt, dass dieses Stück performative Elemente einbezieht. Dass Musik erklingen wird, ist ja unübersehbar, schließlich sitzt da ein Haufen Musiker herum, aber mit der Ansage als erster Aktion und dem inszenierten Zwischenruf ist gleich klargestellt, dass es neben der Musik noch etwas anderes geben wird. Oder zumindest geben könnte. Diese Vorgehensweise ist einfacher, "natürlicher" und effektiver als zum Beispiel diejenige Schuberts in Point Ones, der ja mit dem anfängt, was man ohnehin erwartet (= der Musik) und erst nach und nach das Besondere (= die Gestensteuerung) einführt, was man machen kann (man kann ja grundsätzlich alles machen), was aber schwerwiegende formale Probleme aufwirft (siehe auch als unumgängliches Beispiel aus der Historie den Schlusssatz aus Beethovens Neunter; wer das formal elegant findet, der isst wahrscheinlich auch gern Fischstäbchen mit Nutella, beides für sich sehr lecker, aber zusammengenommen: naja, sagen wir mal gewöhnungsbedürftig). Wenn man sich als Zuhörer erstmal im Erwarteten eingerichtet hat, dann sorgt die natürliche Trägheit dafür, dass das Besondere immer als "Störung" und damit als erläuterungsbedürftig empfunden wird. Und etwas hinterher erklären zu müssen ist immer unelegant. Wer schonmal einen schlechten Witz erzählt hat, weiß, wovon ich spreche. (NB: Das gilt nur für aussergewöhnliche "Störungen", will sagen: einem Medienwechsel [unerwarteter Gesang in einer Symphonie, unerwartete szenische Aktionen in einem Ensemblestück usw.] und nicht so sehr für innermusikalische Brüche, bei denen es sich eigentlich genau umgekehrt verhält).
Das alles soll nun nicht heißen, dass man es so machen muss oder soll, oder dass ich wüßte, dass es so und so besser zu machen sei, nein, es geht eigentlich nur darum, ein Bewußtsein für solche Abläufe und die damit verbundenen Probleme zu entwickeln. Es ist ja bekannt, dass Beethoven sich der Schwierigkeiten mit dem Gesang in der Neunten in höchstem Maße bewußt war, dass er sich ewig lang mit dem Schlußsatz rumgequält hat. Und irgendwie gibt ihm der Erfolg ja letztendlich doch recht. Aber vielleicht ist das grundsätzliche Problem dabei gar kein rein musikalisches (obwohl es das sicherlich auch ist), sondern eher ein performatives. Ich meine, es ist ja so: Da spielt eine Dreiviertelstunde lang ein Orchester eine Symphonie und im Hintergrund steht der Chor rum und die Solisten sitzen neben dem Dirigenten und man fragt sich, was die da eigentlich machen. Natürlich ahnt man schon, dass sie irgendwann singen, aber die meiste Zeit sitzen sie eben doof in der Gegend rum. Gleiches Problem auch bei den später so beliebten Streichquartetten mit Gesang im letzten Satz. Es gibt irgendwie keine befriedigende szenische Lösung für das Problem, dass die meiste Zeit vier Leute spielen und irgendwann noch jemand dazu kommt und plötzlich singt. Eine solche "Störung" ist, jedenfalls glaube ich das, nicht überzeugend innermusikalisch zu motivieren. Es wirkt immer angepappt, draufgepfropft, willkürlich, unelegant. Natürlich muss man sehen, dass die Möglichkeit eines sozusagen szenischen Eingreifens zu diesen Zeiten einfach nicht gegeben war. Insofern sind diese Stücke fremd in ihrer Zeit. Im eigentlichen Sinne also unzeitgemäß. Während es heute ohne performative Elemente gar nicht mehr geht. Das Problem hat sich dabei aber nicht einfach eine Ebene nach oben verlagert, so als müßte man nun eben das Performative motivieren. Irgendwo ist eine Grenze für das, was noch motivationsbedürftig ist und was nicht. Dass Leute auf einer Bühne irgendetwas machen, kann gar nicht mehr motivationsbedürftig sein, sonst würde man nicht mehr anfangen können. Natürlich kann man thematisieren, warum denn nun überhaupt auf einer Bühne etwas passieren soll, warum es überhaupt eine Bühne, ein Konzert, ein Theater geben soll (irgendwann landet man dann bei Flash-Mob-Aktionen, was aber auch irgendwie nur ein Wechsel des Mediums ist und nicht zwangsläufig die Lösung formaler Probleme fördert). Nein, das Problem des Performativen ist ein anderes: Es führt, wenn man ihm denn freien Lauf läßt, zur Verdrängung des Musikalischen. Das kann man an vielen, vielen, vielen Stücken der letzten Jahre beobachten. Allzuoft wird einer szenischen Idee (= einem "Konzept") die musikalische Struktur geopfert. Ja noch mehr, die musikalische Faktur wird geradezu systematisch vernachlässigt. Diese ganzen Zufallsalgorithmen, die freie Verfügbarkeit von undenkbaren Sample-Massen, die Ersetzbarkeit von realen durch virtuelle Instrumente fördern letztlich eine zunehmende Verrohung dem Musikalischen gegenüber. Grobe instrumentatorische Fehler wie eine voll aufgedrehte verzerrte E-Gitarre im Zusammenspiel mit Flöte oder Klarinette oder Cello sind einfach nicht durch irgendwelche Konzepte wegzuerklären. Es sind und bleiben Fehler. Willkürliche musikalische Verläufe, die durch keinerlei innermusikalische Logik mehr zusammengehalten werden, sind nicht cool. Jaja, das hört sich jetzt schon so reaktionär an, als würde hier der Hindrichs ohne philophischen Schutzschild rumfuhrwerken. Meinetwegen. Dabei bin ich unbedingt für Konzepte. Ich bin für Performatives. Ich bin aber gegen den Logozentrismus des Neuen Konzeptualismus. Gegen die Erdrückung des Musikalischen zugunsten eines Automatismus der Bilder, Worte und Bewegungen. Isch möschte das nischt.
Was hat das alles nun mit Christou und was hat Christou eigentlich mit Slayer und was haben Slayer, Christou und die Neunte von Beethoven mit der "Transformation von Energien" und was zum Teufel hat die "Transformation von Energien" mit dem Neuen Konzeptualismus zu tun?
Nix, könnte man denken, das war alles nur ein Vorwand, um mal eine der neuerdings so beliebten Tiraden gegen die aktuelle Entwicklung in der Neuen Musik loszulassen. Zumal ich ja letzthin noch getönt hatte, mir gehe die Diskussion darum am Allerwertesten vorbei. Vielleicht habe ich mich ungenau ausgedrückt. Ich würde gerne die Sache an sich (als würde es so etwas geben) von der Diskussion darum trennen. Es ist ja wohl ziemlich offensichtlich, dass die Diskussion eigentlich ein schlecht getarnter Verteilungskampf ist und es Hindrichs, Drees, Hillberg und Konsorten gar nicht um eine Auseinandersetzung in der Sache geht. Deshalb ist der Austausch von Häßlichkeiten auch so fruchtlos.
Dabei täte eine wirkliche Beschäftigung mit der Sache wirklich not. Die Tatsache bleibt bestehen, dass der sogenannte Materialfortschritt an ein Ende gelangt ist. Die Tatsache bleibt bestehen, dass die Einbeziehung von performativen Aspekten eine wirkliche Chance bietet, aus der Kratzgeräuschüberbietungsorgie rauszukommen. Die Tatsache bleibt bestehen, dass es kein einfaches Zurück zu irgendetwas geben kann.
Und genau hier kommen Christou und Slayer ins Spiel. Wenn man den Fokus auf das richten würde, was Christou "akustische Energien" nennt und was (natürlich nicht nur, aber exemplarisch) bei Slayer als Umwandlung von akustischer Energie in körperliche Wirkung ins Werk gesetzt ist, dann wäre dieses ganze blödsinnige Hickhack um Material und Konzepte mit einem Mal überflüssig. Es ist inzwischen nunmal alles möglich. Aber dass alles möglich ist, heißt ja noch lange nicht, dass alles gleich gut ist. Oder dass alles gleich wünschenswert ist. Nimmt man die Richtgröße der "akustischen Energie", die in und durch Musik übertragen werden soll, dann hat man, denke ich, eine gute Ahnung davon, in welchem Verhältnis zueinander die verschiedenen Elemente eines Stückes stehen sollten. Der Begriff beinhaltet schon, dass das Akustische nicht sozusagen ein dünnes Mäntelchen für ein Konzept oder eine Mono-Idee abgeben kann. Denn genau seine Energie ist es ja, um die es geht. Zumindest, wenn man an einem einigermassen strengen Begriff von "Musik" festhalten will. Darüber kann man natürlich reden, wie eng man den Begriff fassen will. Darüber muss man sicherlich reden. Bei Christou und seiner Strychnine Lady jedenfalls kann man sehen, wie eine Musik, die sich nicht auf sich selbst zurückzieht, sich aber auch nicht völlig ins Szenische veräußert, aussehen kann. Wenn jetzt noch die Zuhörer von der Bühne ins Publikum hüpfen, dann haben wir die Musik der Zukunft.


Dienstag, 29. April 2014

Kommentar 37 - Interlude 1 / Blutherrschaft oder: Über den Begriff musikalischer "Härte" und warum sie wünschenswert sein soll / Fetzen einer Poetik 8

Als 1986 die Platte Reign In Blood von Slayer rauskam, war damit nach vorherrschender Meinung in der einschlägigen Szene ein neuer Standard für die "Härte" von Musik gesetzt. Sie war der vorläufige (manche behaupten ja auch: endgütlige) Höhepunkt einer Entwicklung, die mit dem ersten Aufflackern des Punk Mitte der 70er in New York und der Aufspaltung in Dutzende Sub- und Subsubgenres in den frühen 80ern begonnen hatte. Irgendwie war es plötzlich wichtig, dass Musik "hart" war. Hört man sich allerdings heute frühe Punkmusik an (z.B. von den Dead Boys, Richard Hell and the Voidoids, den Ramones oder den Dead Kennedys), dann wirkt das im Vergleich zu dem, was nicht einmal zehn Jahre später von Slayer gemacht wurde, direkt niedlich.
Abgesehen von den ziemlich wirren Texten (wer's unbedingt wissen will, kann ja mal hier nachlesen, oder es sich auch sparen), die eigentlich nur Pubertierende oder zurückgebliebene entwicklungsverzögerte einfach gestrickte jung gebliebene Erwachsene als in welcher Weise auch immer "sinnvoll" wahrnehmen können (interessant ist übrigens die Parallele zu Schlagertexten mit einer ganz ähnlichen Reihung von Substantiven, die hier aber nicht dem Heile-Welt-Liebe- , sondern dem Tod-Blut-Gewalt-Konnotationsfeld entstammen), abgesehen davon also kann man der Musik eine gewisse Energie nicht absprechen. Ich meine, natürlich ist die Klangfarbenvielfalt bei einem Ensemble aus verzerrten E-Gitarren, Bass und Schlagzeug relativ eng begrenzt, da ist keine überraschende Vielfalt von fein ausgehörten Abstufungen zu erwarten. Überhaupt ist das musikalische Material, sagen wir mal, überschaubar. Es gibt immer eine Art Grundriff, durch das ein Stück mehr oder weniger zusammengehalten wird, ein paar uncharakteristische, chromatisch angerauhte Töne in etwas charakteristischerer Rhythmisierung. Auffällig ist, dass auf die Liedanfänge besonderer Wert gelegt wird. Ich glaube nicht, dass jemand, der das Album weniger als zwanzig, dreißig Mal gehört hat, auf Anhieb ein Stück aufgrund eines Ausschnitts aus der Mitte erkennen würde. Die Liedanfänge dagegen sind ganz auf Wiedererkennung abgestellt, kein Wunder, muss doch der Fan auf dem Konzert schon nach den ersten paar Sekunden wissen, woran er ist und gegebenenfalls jubeln, weil genau dieses Stück jetzt kommt. Daher eben das (jedenfalls in der Szene) berühmte Anfangsriff von Angel of Death, und das spielerisch-atmosphärische Gewittergrummeln von Raining Blood usw. Das alles sind aber im Grunde keine besonders origienellen Zutaten, das kann man so oder ähnlich bei anderen vergleichbaren Liedern vergleichbarer Bands hören.
Was macht diese Musik aber nun so "hart"? Was bedeutet es überhaupt, wenn man von Musik sagt, sie sei "hart"? Geht es nur um Lautstärke und Schnelligkeit?
Bestimmt auch, aber nicht nur. Wäre die Musik bloß laut oder bloß schnell oder auch bloß laut und schnell, hieße das noch lange nicht, dass man sie als "hart" empfinden würde. Auch die Thematik der Texte, die wohl sowieso eher dem Genre geschuldet ist als irgendwelchen künstlerischen Überlegungen, ist für sich genommen kein ausreichendes Anzeichen für Härte, genausowenig wie die Tatsache, dass Tom Araya mehr schreit als singt.
Laut Wikipedia ist der Begriff der Härte im ursprünglichen (= physikalischen) Sinn definiert als das Mass des mechanischen Widerstandes, "den ein Werkstoff der mechanischen Eindringung eines härteren Prüfkörpers entgegensetzt". Anders gesagt: Härte heißt Undurchdringlichkeit. Und die Musik von Slayer ist in diesem Sinne tatsächlich "undurchdringlich". Die Oberfläche dieser Musik, so man denn von Oberfläche bei Musik überhaupt sprechen kann, bietet dem Ohr keine Angriffsfläche, keinen Punkt, an dem man in irgendeine Tiefe eindringen könnte. Das klingt jetzt möglicherweise etwas arg metaphorisch, wobei ich nicht glaube, dass man über Musik abseits eines technisch-analytischen Vokabulars anders als metaphorisch sprechen kann.
Wie auch immer, das Zusammenspiel der oben aufgezählten Eigenschaften dieser Musik erzeugt einen seltsam undifferenzierten Klangstrom, der eben aufgrund dieser Undifferenziertheit undurchdringlich wirkt. Die heruntergestimmten, stark verzerrten Gitarren, die jenseits der obligatorischen (im Übrigen aber angenehm sparsam verstreuten) Gitarrensoli ein Erkennen des Tonhöhenverlaufs nicht nur erschweren, sondern geradezu konterkarieren, erwecken den Eindruck einer Geräuschkulisse, deren Oberfläche nur blockhaft wechselt und die immer nur in Kopplung mit Schlagzeug und Bass ihre rhythmische Gestaltung erhält. Es gibt also keine individuellen Freiheitsgrade der einzelnen Klangfarbspender (in welcher Musik der im weitesten Sinne populären Genres gäbe es die?) Die Riffs wirken dabei wie Einkerbungen in einem Felsen, die dem Ganzen zwar eine Struktur (in diesem Falle eine zeitliche) geben, darüberhinaus aber die Oberfläche nicht durchdringen. Das Spiel der vier Musiker ist bei all dem ziemlich tight, wovon man sich nicht zuletzt anhand der Live-Mitschnitte der Konzerte überzeugen kann, die in ihrer rhythmischen Präzision den Studio-Aufnahmen nicht nachstehen. Überhaupt ist rhythmische Präzision das A und O bei der ganzen Sache. Die ganzen Stops, Breaks und Tempiwechsel würden bei der geringsten Unsauberkeit ihre Wirkung verlieren. Wer schonmal für größere Ensembles oder Orchester komponiert hat, der weiß, wie unendlich schwierig es sein kann, wenn mehr als zwei Leute zum exakt gleichen Zeitpunkt rhythmisch das exakt Gleiche machen sollen. Natürlich haben Slayer den "Vorteil", dass ihr 4/4-Takt durchläuft und sie immer einen durchgehenden Puls haben. Das gibt es selbstverständlich in Neuer Musik so nicht. Allein schon die Andeutung eines durchgehenden Pulses in drei aufeinanderfolgenden Noten gilt ja gemeinhin als verpönt und populistisch. Dennoch ist die rhythmische Genauigkeit der Jungs von Slayer bewundernswert. Eine Musik, die nicht auch rhythmisch präzise ist, kann, jedenfalls nach meinem Dafürhalten, nicht hart sein. Deshalb wirken auch die Beispiele oben aus der Gründerzeit des Punk im Vergleich zu Slayer zwar roh, aber nicht unbedingt sonderlich hart.
Ich fasse zusammen: Härte ist keine Eigenschaft, die man aus einzelnen Zutaten ableiten könnte, sie entsteht im Zusammenwirken von Geräuschhaftigkeit, Schnelligkeit, Lautstärke und präzisem Spiel und ist so etwas wie eine emergente Eigenschaft, eine Eigenschaft, die mehr ist als die Summe ihrer Bestandteile.
Jetzt aber, warum finden so viele Leute, dass die Musik, die sie hören, unbedingt hart sein sollte? Klar, harte Musik hat zunächst mal immer ein hohes Provokationspotential den Eltern oder anderen Erwachsenen gegenüber, die man als Jugendlicher als spießig, langweilig, erdrückend, zum Verzweifeln vernünftig empfindet. Das ist wie mit einer Einstiegsdroge, man erfährt eine Wirkung (nämlich den Widerwillen der Eltern gegenüber solchem "Geschrei", solcher "Nichtmusik"), die Wirkung läßt aber zusehends nach und kann nur durch noch höhere Dosen und schließlich nur mit noch härterem (da ist das Wort schon wieder) Stoff erzielt werden. Hinzu kommt natürlich ein Zusammengehörigkeitsgefühl der jeweiligen Szenen, man ist unter sich, man grenzt sich von anderen Genres ab (und sei es nur als Thrash-Metaller von Death-Metallern, was Aussenstehenden wohl einigermassen absurd vorkommen mag), man trägt die entsprechende Mode, geht zu den entsprechenden Festivals usw. usf. Aber all das würde wohl kaum auf Dauer funktionieren, wenn man als Hörer die Härte der Musik nicht als in irgendeiner Form angenehm empfinden würde. Und das führt mich zurück zu dem, was ich beim Schlager schon festgestellt habe: Die körperliche Wirkung von Musik. Während der Schlager für die gesetzteren Jahrgänge eine Bewegungstriebabfuhr bewirkt, leistet z.B. der Thrash-Metal selbiges für die Jüngeren. Die Texte sind leicht zu merken (irgendwas mit Tod und Verderben wird schon dabei sein), man kann sie also beim Konzert oder im Auto schön mitschreien. Man kann wunderbar headbangen, man kann im Moshpit rumhüpfen und sich auf "spielerische" Art mit anderen körperlich auseinandersetzen. Man kann klatschen, Hände in die Luft recken, stagediven (obwohl das eher in Punkkonzerten und nicht so sehr im Thrash-Metal üblich ist) und was der körperlichen Aktivitäten noch mehr sind. Man kann und muss sich sogar bewegen. Und Bewegung fördert ja bekanntlich das eigene Wohlbefinden. Kein Wunder, dass Jugendliche nicht in sogenannte klassische Konzerte gehen. Eine ödere Veranstaltung kann man ihnen wohl kaum zumuten. Man kann sein Bier nicht in den Saal mitnehmen, es gibt keine überlaufenden Dixie-Klos, man kann keine T-Shirts der Ensembles kaufen, man kann nicht von der Bühne in einen Haufen Menschen hüpfen, die einen auffangen, man darf nicht mitsingen und schon gar nicht darf man nach Beginn des Stückes johlen, weil man es wiedererkannt hat und sich darauf freut. Ich würde als Jugendlicher auch nicht hingehen.
Zuegegeben, das klingt jetzt ziemlich anti-intellektuell und irgendwie nach "Edlem Wilden" und so weiter, aber ich wiederhole mich: Ist es nicht möglich, diese rohe Energie in die aktuelle Kunstmusik aufzunehmen? Und zwar nicht auf die unerträglich herablassende, ausplündernde Weise, auf die es mit den ganzen Musiken "fremder" Kulturen geschehen ist (wenn ich noch einmal was von der Dreiviertelton-Melodik der arabischen Musik hören muss, dann trete ich wirklich noch aus der Neuen Musik aus, endgültig). Sondern vielmehr im Sinne einer radikalen Vereinfachung der musikalischen Strukturen, so dass solche körperlichen Wirkungen überhaupt erst wieder möglich werden. Noch einmal, nicht dass man mich noch mit den Heinis von der Zurück-zur-Tonalität-Bewegung oder den Langwellen-Minimalisten in einen Topf wirft: Vereinfachung heißt nicht Simplifizierung (heißt es natürlich schon, der Wortbedeutung nach, aber eben doch nicht ganz: Vereinfachung heißt für mich: mit dem geringstmöglichen Aufwand die größtmögliche Wirkung zu erzielen; Simplifizierung wäre dagegen: mit dem geringstmöglichen Aufwand die geringstmögliche Wirkung erzielen, also: dass es auch der letzte Depp noch rafft). Es kann nicht darum gehen, einzelne Elemente aus der Popmusik (ja, ihr Metaller, es ist nunmal Popmusik, da könnt ihr euch auf den langhaarigen Kopf stellen) rauszuklauben und irgendwie in ein Neue-Musik-Stück einzubauen (eine verzerrte E-Gitarre oder einen 4/4-Beat im Schlagzeug). Es geht auch nicht darum, irgendwelche formalen Vorgaben zu übernehmen, nach dem Vorbild: Intro-Verse-Chorus-Bridge-Verse-Chorus-Solo oder so.
Es geht um die Transformation von Energie. Und wie man sie bewerkstelligt.
Und genau um diese Transformation akustischer Energien geht es im zweiten Interlude morgen.



Mittwoch, 9. April 2014

Kommentar 36 - Wir müssen den Joy-Faktor erhöhen / Fetzen einer Poetik 7

Demnächst geht es weiter mit der Reihe Filloßofy für Dumä, dann unter anderem mit Richard Wollheims Objekten der Kunst, Niklas Luhmanns Die Kunst der Gesellschaft und dem Sammelband Musikalischer Sinn, in dem (es ist eine traurige Angelegenheit, soviel kann ich schon mal verraten) Musikwissenschaftler über den, jep richtig: musikalischen Sinn "nachdenken".

Inzwischen werde ich mich aber mal wieder mit dem Eigentlichen beschäftigen, nämlich mit der Kunst an und für sich. Also mit aktuellen Stücken, die nicht notwendigerweise dem Neuen Konzeptualismus angehören. Genauer gesagt, ist es mir inzwischen eigentlich völlig schnuppe, welchem Ismus oder welcher Keit wer angehört. Noch genauer gesagt nervt mich die Diskussion um den Neuen Konzeptualismus inzwischen sogar. Ich bin zwar gespannt auf die nächsten MusikTexte und darauf, ob tatsächlich und ernsthaft Stücke besprochen werden, befürchte aber, dass doch nur wieder diese pubertären Schwanzvergleiche abgezogen werden ("Höhö, der Kreidler weiß ja noch nicht mal, dass 'ne Wagnertuba gar keine Tuba ist" - "Höhö, der Nyffeler ist ja so was von doof, mit dem rede ich doch gar nicht"). Und ganz arg genau gesagt ist ein Notenkopf eiförmig und ein Stück Neue Musik dauert zwischen 12 und 20 Minuten, und am Ende gewinnt immer Wofgang Rihm.

Wo war ich? Ach so. Schubert. Point Ones:

Alexander Schubert: Point Ones, gespielt vom Nadar Ensemble.

Eigentlich wollte ich zuerst Lucky Dip vom selben Komponisten besprechen, musste aber das Ansehen des Videos wegen akuter Epilepsie-Gefahr abbrechen.

Also, Point Ones. Alexander Schubert verkabelt gern Menschen. In Point Ones ist der Dirigent verkabelt, beziehungsweise mit irgendwelchen Bewegungssensoren ausgestattet oder wird von ebensolchen irgendwie registriert. Angeblich kann er damit irgendwelche Klänge auslösen. In den Programmnotizen steht dazu Folgendes:
Über diese technischen Faktoren hinaus soll sich das Stück auch mit dem Vokabular des Dirigenten und der Erwartungshaltung, die mit diesen Gesten verbunden sind auseinandersetzen. Nicht immer ist vorhersehbar, welche Bewegung zu welchem Resultat führen wird.
Man merkt schon, wir sind in der Moderne. Alle naselang wird sich mit irgendeiner Erwartungshaltung auseinandergesetzt. "Kritisch", das denke ich jetzt einfach mal mit. Mit der Rolle des Dirigenten wurde und wird sich besonders intensiv schon seit Jahrzehnten auseinandergesetzt, widerspricht er doch als Quasi-Diktator so vollkommen den neuzeitlichen Idealen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Also muss er ohne Orchester dirigieren, gegen das Orchester dirigieren, irgendwelche sinnfreien Gesten vollführen, singen, tanzen und was der Einfälle noch mehr sind. Bei Alexander Schubert dirigiert er nun nicht nur, sondern ist gleichzeitig eine Art Instrumentalist, indem er die Live-Elektronik steuert. Um das Ganze noch zu verkomplizieren, ist "nicht immer vorhersehbar, welche Bewegung zu welchem Resultat führen wird". In der Praxis sieht das dann so aus, dass Daan Janssens, der das Nadar Ensemble dirigiert, Handkantenschläge oder Handgirlanden vollführt, woraufhin irgendein elektronischer oder elektronisch verfremdeter Klang gespielt wird. Dass nicht vorhersehbar sei, welche Bewegung zu welchem Klangresultat führt, ist gelinde gesagt eine Untertreibung, man weiß eigentlich nie vorher, welcher Klang jetzt an der Reihe ist. Es gibt Klicks wie von einem elektronischen Metronom, es gibt körnige Glissandi aus der Tiefe, MIDI-Chöre, Synthesizer-Klänge, das übliche Max/MSP-Sample-Gescratche usw. usf. Ein bunter Strauss an Möglichkeiten, der in scheinbarer Beliebigkeit abgefeuert wird. Passend dazu, bzw. in schöner Korrespondenz sind die Gesten auch von der eher beliebigen Sorte. Im weitesten Sinne sind es Dirigat-Gesten, denn das Ensemble muss ja auch noch irgendwie zusammengehalten werden. Diese unscharfe Trennung von Dirigat und elektronisch-instrumentaler Aktion führt bereits nach wenigen Minuten dazu, dass man dann halt gar nichts mehr erwartet und geistig abschaltet. Ist ja ohnehin aussichtslos. Zumal der recht undifferenzierte Ensemble-Satz auch nicht gerade dazu angetan ist, die Spannung über immerhin knapp 14 Minuten Musik hochzuhalten.

Um dieser leicht subjektiv gefärbten, möglicherweise schlechtgelaunt erscheinenden Kritik einen Anstrich von Objektivität zu geben, will ich hier eine Art Erwartungshaltungsprotokoll bis zu dem Punkt, an dem ich aus dem geistigen Mitvollzug ausgestiegen bin, aufschreiben.

0'00''-0'14''   Das Stück geht los. Wir nehmen mal an, ich hätte den Programmtext mit der Erläuterung der dirigentischen Verkabelung nicht gelesen. Dann sehe ich zunächst mal ein stinknormales Neue-Musik-Ensemble mit einem Dirigenten.
Erwartungshaltung 1: Irgendein Neue-Musik-Kram.
Folgerichtig fängt das Ensemble schön ordentlich an zu spielen und spielt: Irgendeinen Neue-Musik-Kram. Der Dirigent dirigiert. Dass er irgendetwas anderes auslöst als das Spiel der Instrumentalisten, ist nicht erkennbar.
Erwartungshaltung 2: Naja, das Ensemble fängt relativ dicht an, also wird es wohl (auf die Großform bezogen) entweder:
a) noch dichter, bevor es dünner wird
b) immer nur dünner
c) zusätzlich oder parallel von kontrastierenden Blöcken unterbrochen.
0'14'' - 0'19''  Erster Einschnitt. Erwartungshaltung c) wurde erfüllt. Ein kontrastierender Block. Der Dirigent schlägt ab, das Ensemble verstummt. Der Dirigent haut mit der Linken zur Seite. Es piept. Man bringt das Piepen mit den Handschlägen in Verbindung. Am Schluss gibt es eine abweichende Bewegung, es ertönt ein abweichendes Piepen. Jetzt wird klar, dass der Dirigent noch was anderes macht als dirigieren. Er macht Töne.
Erwartungshaltung 3: Entwicklung dieser Tonhervorbringungsmasche. Also:
a) Überlappung mit Ensembledirigat
b) weitere, vorzugsweise spezifischere und / oder komplexere Bewegungsmuster
c) parallele Entwicklung der hervorgebrachten Töne, weil Piepsen ja auf Dauer irgendwie ziemlich unspektakulär ist.
0'19'' - 0'26''   Aus der Tonerzeugungsgeste heraus gibt der Dirigent den Einsatz für einen Flöten-Schwellton. Danach rechtshändige Aktion mit anderem Piepen. Dann Einsatz für Ensemblespiel.
Die Erfüllung von Erwartungshaltung 3a) und b) wurde zumindest angekündigt, allerdings auf eine Weise, die Platz läßt für mehr.
0'26'' - 0'34''   Die Ensembletextur vom Anfang wird aufgegriffen. Allerdings gemischt mit einem elektronischen Klang, dessen Hervorbringung nicht verortbar ist. Der Dirigent dirigiert mit rechts das Ensemble, die Linke bleibt in der zuletzt erreichten Stellung. Verwirrung macht sich breit. Gibt es einen elektronischen Part, der nicht vom Dirigenten ausgelöst wird? Wenn ja, warum? Wenn nicht, wie steht er mit dem Piepsen von vorher und der statischen Gestik der linken Hand in Zusammenhang.
Erwartungshaltung 4: Einerseits klar: Es gibt eine formale Dynamik zwischen Ensembleblöcken und Dirigenten-Elektronik-Aktion. Also wird:
a) diese Dynamik weiterverfolgt, möglicherweise in Form einer immer stärkeren Durchdringung dieser beiden formalen Elemente.
b) die Eigendynamik der beiden Elemente weiterverfolgt, das heißt also, sie werden in sich weiterentwickelt nach Erwartungshaltung 2 und 3.
Andererseits taucht eine neue Erwartungshaltung auf, nämlich diese:
Erwartungshaltung 5: Klärung des Zusammenhangs zwischen Gesten des Dirigenten und elektronischen Klängen.
0'34'' - 0'41''   Erstmal ist wieder der Dirigent dran. Wir kennen das Piepen ja schon. Dann aber verharrt die Linke in gewisser Höhe und das Piepen geht in einen Liegeklang über. Erwartungshaltung 3c) scheint sich zu erfüllen. Gleichzeitig rückt Erwartungshaltung 5 in den Hintergrund, weil jetzt der Zusammenhang wieder ganz klar ist. Ausserdem spielt das Klavier zu dem Liegeton eine schnelle Repetition uind sorgt so für eine Überlagerung von Elektronik und Ensemble (Erwartungshaltung 4a) und b)).
0'42'' - 0'52''   Einsatz für einen neuen Ensembleblock in leichter Variation. Erkennbar ist das Klaviermotiv vom Anfang, das übrigens im zweiten Ensembleblock gefehlt hatte. Wieder gibt es eine elektronische Komponente (ein hohes Sirren oder Zirpen oder wie man es nennen will), von der man nicht zuordnen kann, ob sie vom Dirigenten ausgelöst und / oder beeinflußt wird. Es scheint so zu sein, dass während geballtem Ensemblespiel die Elektronik weitgehend frei von dirigentischer Kontrolle sich entfaltet. Das ist eine Arbeitshypothese, die aber die Frage aufwirft, was das eigentlich soll. Ich bin ja noch mit einer ganzen Menge anderer Erwartungshaltungen beschäftigt, deren Einlösung ich nachverfolge, aber über alle legt sich diese Unsicherheit, was denn nun mit diesen anderen elektronischen Klängen los ist.
Erwartungshaltung 6: Alle bisherigen Erwartungshaltungen gelten weiterhin, wobei sich Erwartungshaltung 5 in den Vordergrund drängt.
0'52'' - 1'16''   Elektronikfreies Ensemblespiel. Irgendwie verwandt mit dem vorherigen Material. Ich verbuche es unter Erfüllung von Erwartungshaltung 4b). Gegen Ende dieses Abschnitts tut sich was beim Dirigenten, ganz langsam hebt er den linken Arm. Inzwischen darauf geeicht, auf diese Bewegungen zu achten, versuche ich, irgendeinen elektronischen Klang rauszuhören. Es gelingt mir nicht. Erneute Verwirrung. Manchmal also löst der Dirigent gar nichts aus. Inzwischen haben wir alle drei möglichen Verbindungen von Dirigat und Elektronik durch:
1) Dirigat und Elektronik stehen in einem klaren Verhältnis zueinander (Piepen)
2) Elektronik ohne erkennbare Gesten
3) Gesten ohne erkennbare Elektronik
Weiterhin wurden folgenden musikalischen Elemente vorgestellt:
1) Ensemblesatz
2) Elektronisches Piepen
3) Einzelinstrument mit Elektronik
4) Ensemblesatz mit Elektronik
Erwartungshaltung 7: Schwer zu sagen. Alle Optionen liegen auf dem Tisch. Also muss irgendetwas damit passieren. Grundsätzlich gibt es folgende Möglichkeiten:
a) Variation
b) Kontrast
c) Vermischung
d) immer Neues
e) Wiederholung
Weil das Stück bis dahin noch keinen Anhaltspunkt dafür geliefert hat, wie es denn nun die ganzen formalen Einheiten handhaben will, muss ich mit allem rechnen. Ich habe also grob geschätzt 3x4x5 = 60 verschiedene mehr oder weniger gleichwahrscheinlich erwartbare Fortführungen in diesem Augenblick. Mit anderen Worten, ich kann eigentlich erstmal gar nichts mehr erwarten, weil die Anzahl der Möglichkeiten schlicht zu groß ist. Aber was bleibt mir übrig, ich höre weiter.
1'16'' - 2'01''   Alexander Schubert entscheidet sich dafür, erstmal das Ensemble-Element weiterzuentwickeln. Okay. Hätte man ja erwarten können. Oder auch nicht. Es gibt also diese Sforzato-Einwürfe, die sich allmählich auseinanderziehen zu einem kleinen Motiv der E-Gitarre. Zwischendurch gibt es auch mal wieder eine Elektronik-Aktion (1'33''). Der elektronische Klang steht eindeutig mit der Geste in Zusammenhang, ist aber nicht mit dem Piepen von vorher verwandt. Irgendwie wirkt er wie eine blosse Klangfarbe, hat aber eine retardierende formale Funktion, indem er die Ensemble-Sforzati nochmal staut. Erneut wird jegliche Erwartungshaltung unterlaufen, denn dass eine eindeutige Geste-Klang-Korrelation nun plötzlich mit einem völlig anderen Klang ausgestattet wird, ist neu und nicht erwartbar gewesen. Der Klang schwillt also ab und wieder an, schön mit der Handbewegung korrespondierend. Das Schlagzeug setzt mit einem 08/15-Beat ein, dann entlädt sich die angestaute Energie in einem ersten Höhepunkt des Ensembles. Dieser dauert dann eine ganze Zeit lang, allerdings passiert bei
2'02'' wieder was Neues, denn das entfesselte Ensemble wird von einer sogenannten Wasserschöpf-Geste des Dirigenten unterbrochen. Der ausgelöste Klang ist eine Art 8-Bit-80er-Jahre-Spielekonsole-Glissando. Das entbehrt nicht eines gewissen Humors. Erfüllt auch Erwartungshaltung 3b) und c). Während das Ensemble in der Folge weiter einen draufmacht, ungefähr bis
2'42''   kommt eine weitere Geste zum Repertoire hinzu, die sogenannte schnelle Regalgreifgeste der Rechten bei 2'08''-2'10''. Ihr korrespondiert ein elektronischer Klang, der sich nach einer gestutterten E-Gitarre anhört, wofür ich aber bei dem ihn umgebenden Ensemble-Lärm (vielleicht auch der Audioqualität des Videos geschuldet) nicht die Hand ins Feuer legen würde. Auf jeden Fall ist es wieder ein neuartiger Klang, den man notgedrungen als Klangfarbe ablegen muss, weil man ihn aufgrund seiner Vereinzelung nicht strukturell einordnen kann. Musikalisch wirkt dieser ganze Höhepunkt (zumindest ist er das lautstärketechnisch) irgendwie hilflos, er funktioniert ziemlich geradlinig nach dem klassischen Prinzip der Motivverkürzung, ohne diesem Topos eine neue Seite abzugewinnen. Aus den Instrumenten wird halt rausgeholt, was rauszuholen ist, wobei naturgemäß E-Gitarre und Schlagzeug alles andere zudecken. Der Cellist beispielsweise rödelt die ganze Zeit über die Seiten, ohne dass man ein nennenswertes Klangergebnis ausmachen könnte. Das ist instrumentatorisch zumindest fragwürdig. Oder sieht nach Verlegenheit aus, den Cellisten auch irgendwie beschäftigen zu müssen, weil er halt da ist.
2'24''   bringt mit dramatischer Seinodernichtsein-Geste einen MIDI-Chor. Ich habe es an dieser Stelle schon längst aufgegeben, irgendwelche Erwartungshaltungen aufzustellen, was die Logik oder Entwicklung des ganzen Dirigenten-Elektronik-Komplexes angeht. Es kommt halt manchmal eine neue Geste und manchmal ein neuer Klang und manchmal (obwohl seltener) ein alter Klang mit alter Geste. Die Punkte, an denen Neues eingeführt wird, sind manchmal formale Einschnitte, manchmal aber auch nicht. Übrig bleibt eigentlich nur noch:
Erwartungshaltung 8: Dass es jetzt bald mal wieder leiser wird.
Dann aber, bei
2'30''   stutze ich kurz. Der Dirigent hat mit der rechten Hand diesen Stutter-Klang gesteuert, dann läßt er seine Hand sinken und der Klang geht weiter. Ich werde misstrauisch. Entweder, die Gestensteuerung ist reiner Humbug und die Klänge werden von irgendwem hinter oder neben der Bühne einfach an den passenden Stellen abgefahren. Oder die Gestensteuerung funktioniert nur teilweise, nämlich indem an den entsprechenden Punkten einfach Samples von den Bewegungen ausgelöst werden. Zumindest aber scheint es so zu sein, dass die Möglichkeit für gewisse Klänge zu bestimmten Zeiten an- und ausgeschaltet wird. Es ist also in keinem Fall so, dass der Dirigent die alleinige Kontrolle über sein Spiel hätte. Dieser Aspekt wiederum wird überhaupt nicht im Stück thematisiert. Es wird verzweifelt an der Illusion festgehalten, der Dirigent steuere per Gesten Klänge.

Dann dämmert es mir langsam: Es ist nicht nur nicht klar, wer oder was letztendlich die elektronischen Klänge auslöst oder sie kontrolliert, es ist sogar vollkommen wurscht. Es ist keineswegs notwendig, dass sie vom Dirigenten gesteuert werden. Der umgekehrte Fall wäre genauso logisch (= würde der Logik des Stückes nicht widersprechen): Der Dirigent wird von den fremdgesteuerten Klängen zu seinen Bewegungen veranlasst. Das Stück würde aber auch ohne die Bewegungen des Dirigenten denselben Eindruck machen wie mit. Die Bewegungen sind dem Stück selbst vollkommen äußerlich. Also ein Gimmick. Also Quatsch. Daher auch die ständige Unsicherheit darüber, was denn nun Sache ist. Irgendwie scheint Alexander Schubert das selbst nicht so genau gewußt zu haben. Der Dirigent sollte halt per Gesten Klänge steuern. Anstatt aber das Stück konsequent darauf auszurichten und darum herumzubauen, so dass es wirklich notwendig ist, dass der Dirigent so rumfuchtelt, wird diese Idee halbherzig und eigentlich als bloße Show inszeniert. Die Klänge haben untereinander keinen Zusammenhalt, die Gesten haben keinen Zusammenhalt, den Kram vom Ensemble hat man nun auch schon mehr als einmal in ähnlicher Mache gehört. Spätestens an diesem Punkt, also bei
2'34''  lehne ich mich zurück und lasse die restlichen 11 Minuten ohne nennenswerte weitere geistige Tätigkeit über mich ergehen.

Dienstag, 25. März 2014

Kommentar 35 - Bilanz einer Odyssee zu den Quellen der Weisheit


Es ist an der Zeit, Bilanz zu ziehen. Immerhin ist Ausgewuchtet nun schon beinahe ein halbes Jahr online. Und der Skandal um meinen gelöschten Post hat nochmal eindrücklich die Vergänglichkeit des Mediums Weblog ins Gedächtnis gerufen. Ohnehin macht es den Eindruck, als würde in diesen Tagen überall irgendwie Bilanz gezogen, was vielleicht am Frühlingswetter liegt, möglicherweise aber auch nur daran, dass ich das bloß behaupte.


Die Bundesregierung zieht ihre 100-Tage-Bilanz. Überraschendes Ergebnis: "Deutschland kommt voran".

Allenthalben wird Bilanz zum Verhalten „des Westens“ in der Russland- / bzw. Krimfrage gezogen. Die Palette reicht von „alles richtig gemacht und Putin ist schuld“ bis hin zu „alles falsch gemacht und Putin kann überhaupt gar nix dafür“. Natürlich gibt es auch ausgewogenere Meinungen, aber die sind langweilig.

Bei RationallySpeaking wird ebenfalls Bilanz gezogen, weil Massimo Pigliucci den Blog dichtmacht, um einen neuen Blog aufzumachen, der sich nun Scientia Salon nennt. Abgesehen davon, dass das Design des alten Blogs gruselig ans Web 1.0 erinnert hat, und ich den neuen Titel irgendwie uncool finde, verstehe ich diesen Schritt auch deshalb nicht so ganz, weil es in dem alten Blog immer so schön hoch her ging.

Johannes Kreidler zieht auf seinem Blog Kulturtechno Bilanz zum Neuen Konzeptualismus. Die Aufzählung von Materialbeschaffungsalgorithmen läßt meinen Verdacht wieder aufleben, dass der Neue Konzeptualismus eigentlich nur ein Materialfortschritts-Ismus auf höherer Ebene ist. Jedenfalls bleibt die Frage offen, wie aus dem Wust von Tönen denn nun ein Stück Musik werden soll.

Parallel dazu will Frank Hilberg in den MusikTexten ebenfalls Bilanz zum Neuen Konzeptualismus ziehen. Aber irgendwie meine ich aus seinem Text herauslesen zu dürfen, dass er das nicht besonders objektiv oder gar wohlwollend machen wird.

Im Bad Blog of Musick wird auch Bilanz gezogen, in schönstem "equal goes it loose"-Englisch geht es um die Frage, ob Gergiev aufgrund seiner politischen Einstellungen denn nun Chef der Münchner Philharmoniker werden kann. Dabei sollte es doch eigentlich um die Frage gehen, ob Gergiev überhaupt ein guter Dirigent ist.

Und zu guter Letzt ziehe ich Bilanz: Es war ein aufregendes halbes Jahr hier im „Internet“. Es gab Höhen und Tiefen und auch Mitten. Unvergessen bleiben die vielen Stunden anregenden Youtube-Schauens von Verkehrsunfällen auf russischen Straßen von aktuellen Werken der Neuen Musik, die mich immer wieder inspiriert haben zu der Erkenntnis, dass es so auf gar keinen Fall weitergehen kann.

Dienstag, 18. Februar 2014

Kommentar 34b - Datenhölle (Ein halbes Hähnchen ist auch ein Hähnchen, irgendwie / Philosophie für Masochisten 3)

Wo zur Hölle ist dieser Text hin???
Aus vollkommen unerfindlichen Gründen ist er plötzlich nicht mehr da. Es ist nicht das erste Mal, dass das passiert, bisher aber waren nur während des Bearbeitungsstadiums neuere Versionen plötzlich verschwunden. Jetzt ist ein veröffentlichter Text einfach weg.
Um es kurz zu machen, die Besprechung von Gunnar Hindrichs: Die Autonomie des Klangs ist in den Tiefen der Datencloud verschwunden. Für immer. Möglicherweise aufgrund einer Verschwörung, in die das Philosophische Seminar der Uni Basel, Google und die NSA verwickelt sind. Möglicherweise aber auch einfach nur, weil ich naiv genug war zu glauben, ich müßte keine Sicherheitskopien machen. Wie auch immer.
Wer den Post vor seinem Verschwinden noch nicht gelesen hat, muss mir jetzt einfach glauben, wenn ich schreibe, dass das Buch nicht weiter hilfreich in welcher Beziehung auch immer ist.

Mittwoch, 5. Februar 2014

Kommentar 32 - Das doppelte Lottchen / Vielosohfih füe Dumma 2 / Fetzen einer Poetik 6

Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst. Suhrkamp, 1991.

Der Titel klingt schonmal nicht besonders vielversprechend. Verklärung hört sich stark nach dieser Karikatur an, in der ein Mathelehrer an einer Tafel links und rechts zwei gigantische Terme hingeschrieben hat und als Verbindungsglied dazwischen die Feststellung: "And here a miracle occurs." Liegt aber auch an der Übersetzung, denn im Original heißt das Ganze Transfiguration of the Commonplace. Für meinen Geschmack klingt transfiguration weniger mystisch als Verklärung und ich verstehe nicht ganz, warum man nicht einfach am Begriff Transfiguration festgehalten hat.
Wie auch immer.
Danto beschäftigt sich in seinem Buch hauptsächlich mit einer einzigen Frage, die er immer wieder neu dreht und wendet und ihr so immer neue Antworten abgewinnt, nämlich: Wenn wir zwei äußerlich absolut ununterscheidbare Objekte haben, von denen aber eines ein Kunstwerk und das andere eben nicht ist, wo oder wie oder wodurch ist dieser Unterschied feststellbar. Diese Fragestellung hat viel mit Dantos Biographie zu tun, der selbst seine Begegnung mit Warhols Kunst als "Erweckungserlebnis" beschreibt. Und so ist denn auch viel von der Brillo-Box die Rede usw. Wenig hingegen ist die Rede von Musik und Literatur, was daran liegen mag, dass diese Fragestellung nur sehr schwer oder scheinbar nur schwer auf diese beiden Kunstgattungen übertragbar erscheint. Ist überhaupt ein Fall vorstellbar, derart, dass von zwei absolut identischen Musikstücken eines ein Kunstwerk und das andere keines ist?
Nehmen wir mal an (ich übertrage im Folgenden Dantos Argumentationskette auf ein Musikstück), wir hätten ein Stück Musik, das ohne weiteres als Gebrauchsmusik ohne jeden weiteren künstlerischen Wert durchgeht, also z.B. einen Werbejingle. Um uns nicht mit der Verbindung zwischen Musik und Bild herumschlagen zu müssen, nehmen wir an, es sei ein Radiojingle. Jetzt führen wir diesen Radiojingle (analog dem Ortswechsel der Fontaine von Duchamps) in einem Konzert auf. Und zwar 1:1. Es gibt zwei Möglichkeiten, wie ein Konzertbesucher auf dieses Stück reagieren kann:
1. Es ist für ihn nach wie vor kein Kunstwerk.
2. Es ist für ihn nun ein Kunstwerk, allerdings ist fraglich, ob er tatsächlich dem nackten Radiojingle das Kunstwerk-Sein zuspricht oder einem anderen, nicht-identischen Objekt, das zufällig äußerlich (= auditiv) identisch mit dem Radiojingle ist. Denn der Radiojingle als solcher hat eine klare Funktion, wenn er im Werbeblock gesendet wird, nämlich auf gewisse Eigenschaften des beworbenen Produktes hinzuweisen oder dem beworbenen Produkt ein bestimmtes Flair zu verleihen. Diese Funktionalität ist dabei nicht irgendeine Äußerlichkeit, sie ist die eigentliche Ursache und Grundbestandteil des Seins des Radiojingles. In der Konzertsituation hat der Radiojingle diese Funktion natürlich nicht, denn dann wäre er eben bloss ein Radiojingle, den man im Konzert abgespielt hätte (vielleicht eine bahnbrechende neue Möglichkeit zur Finanzierung von Neue-Musik-Konzerten). Wenn man ihn überhaupt als Kunstwerk wahrnehmen soll, dann muss er seine ursprüngliche Funktion ablegen und eine ganz andere annehmen, vielleicht die, den ganzen Werberummel zu persiflieren oder zu hinterfragen oder, oder, oder. Aber wenn der Radiojingle einen so essentiellen Teil seines Seins verliert, ist er dann nachher im Konzert noch derselbe? Im Fall des musikalischen Kunstwerkes ist diese Frage noch verwickelter als ohnehin schon, denn zusätzlich ist da der ontologische Status der Aufführung vollkommen unklar: Ist sie die Instantiierung einer Idee? Das token eines types? Das Element einer Klasse ähnlicher Elemente? Die Exemplifizierung einer Regelstruktur? Das sind philosophische Hardcore-Fragen, die ich gar nicht beantworten kann, zu denen ich aber demnächst nochmal zurückkehren werde, wenn ich mich mit Richard Wollheim und seinen Objekten der Kunst beschäftige.
Drehen wir doch den Spiess mal rum: Es gibt ja jede Menge Musik aus dem klassisch-romantischen E-Musik-Repertoire, das zur Untermalung von Werbung verwendet wird, man denke nur an die Rigoletto-Arie, die Gymnopedie oder die Jahreszeiten. Stellen wir uns also vor, ich komponierte ein Stück für ein Konzert, das neben der Musik auch einen gesprochenen oder gesungenen Text enthielte, der die Vorzüge eines Autos einer bestimmten Marke anpriese, so dass dieses Stück rein äußerlich in etwa die Form eines Radio-Werbespots hätte. Zugegeben, es wäre wahrscheinlich nicht ein Werk, das die Jahrhunderte überdauern würde, aber sagen wir, es wäre kunstwerkig genug, so dass es allgemein als Kunstwerk akzeptiert würde. Jetzt nehmen wir an, nach der Uraufführung entdeckt der Autohersteller des angepriesenen Autos das Stück und lässt es zukünftig in den Werbeblocks des regionalen Privatradios als ganz normalen Werbespot laufen. Es fährt also ein Konzertbesucher nach dem Konzert, in dem mein subversives Werbespot-Stück lief, nach Hause und hört im Radio dasselbe Stück als tatsächlichen Werbespot. Der Konzertbesucher weiss genau, dass ich dieses Stück als ernsthaftes Konzertstück und nicht als Gebrauchsmusik komponiert habe. Wie wird er sich zu dem Stück jetzt verhalten? Ich vermute (mit Danto), er kann gar nicht anders, als das Stück nach wie vor als Kunstwerk zu betrachten (= anzuhören). Vielleicht wird er denken, dass die Subversivität des Stückes im Werbeblock im Privatradio überhaupt erst so richtig zum Tragen kommt. Dass das Stück im Werbeblock überhaupt erst richtig bei sich ist. In jedem Fall, so vermute ich mal ganz stark, wird er das Stück nicht mehr als Nur-Werbejingle hören können, er wird versuchen, irgendeine Beziehung zwischen dem Stück und seinem Umfeld herzustellen, er wird versuchen dem Stück einen anderen Sinn zu geben als den, ein Auto einer bestimmten Marke anzupreisen. Kurz: Er wird das Stück trotz der Umstände weiterhin unter ästhetischen Gesichtspunkten hören. 
Das heißt also, dass der Übergang vom Nicht-Kunstwerk-Sein zum Kunstwerk-Sein relativ einfacher herbeizuführen ist als der Übergang vom Kunstwerk-Sein zum Nicht-Kunstwerk-Sein. Das wiederum bedeutet, dass das Kunstwerk eine besondere Identität als Kunstwerk hat, die nicht so einfach abzustreifen ist. Wohingegen das blosse Objekt als Nicht-Kunstwerk in diesem Sinne keine Identität hat. Sonst wäre es gegen eine Verschiebung in einen vollkommen anderen Wahrnehmungsmodus (nämlich den ästhetischen) resistenter, als es dies augenscheinlich ist.
Danto spricht von der "ästhetischen Reaktion" oder der "ästhetischen Einstellung", die man einnehme, sobald man von einem Objekt wüßte, dass es sich um ein Kunstwerk handelt. Und die in diesem Augenblick der transfiguration ein ganz neues Set von Eigenschaften des Kunstwerkes enthülle, die das blosse Nur-Objekt (sein materiales Gegenstück) vorher nicht gehabt habe. Das hört sich nun doch irgendwie ziemlich mystisch an: Nur weil ich mit einer veränderten Wahrnehmung auf ein Ding schaue (ein Ding anhöre), hat es plötzlich alle möglichen Eigenschaften, die vorher aber nicht etwa bloß verdeckt waren, sondern schlichtweg nicht vorhanden. Danto sagt aber nicht mehr und nicht weniger, als dass Kunstwerke durch den ästhetischen Blick konstituiert werden.
Der Begriff des Kunstwerks ist in dem Sinne analytisch, daß es für das Kunstwerk eine Interpretation geben muß. Ein Kunstwerk zu sehen, ohne zu wissen, daß es ein Kunstwerk ist, läßt sich in gewisser Weise mit der Erfahrung vergleichen, die man mit dem Buchdruck macht, bevor man zu lesen gelernt hat. Es als Kunstwerk zu sehen ist also wie der Übergang vom Bereich bloßer Dinge zu einem Bereich der Bedeutung. [S.192]
Mit anderen Worten: Sobald ich weiß, dass irgendein Objekt, das ich bisher nur für irgendein Objekt gehalten habe, ein Kunstwerk ist, sehe ich es sofort unter der Maßgabe dieses Kunstwerk-Seins und fange an, Bedeutung zu erschließen. Das heißt also, dass der Unterschied zwischen zwei äußerlich identischen Objekten, von denen eines ein Kunstwerk und das andere keines ist, darin besteht, dass ich das Objekt, das ein Kunstwerk ist, als ein Objekt wahrnehme, das über etwas ist, während das Objekt, das kein Kunstwerk ist, möglicherweise auch etwas darstellt, aber lediglich von etwas ist und nicht auch gleichzeitig über etwas. Hä?
Die These [nämlich darüber, wie wir überhaupt dazu kommen, Kunstwerke als solche wahrzunehmen] ist die, daß Kunstwerke im kategorischen Gegensatz zu bloßen Darstellungen die Mittel der Darstellung in einer Weise gebrauchen, die nicht erschöpfend spezifiziert ist, wenn man das Dargestellte erschöpfend spezifiziert hat. [S.226]
Nehmen wir den Werbejingle, der aus seinem Werbeblock rausgerissen und im Konzert gespielt wird. Rein äußerlich betrachtet (= gehört) ist er derselbe Werbejingle wie ein paar Stunden zuvor im Radio. Und doch eröffnet die ästhetische Sicht, sobald ich weiß, dass er jetzt als Kunstwerk gehört werden muss, plötzlich eine komplett neue Schicht von Bedeutungsmöglichkeiten. Während der Werbejingle als Nur-Werbejingle von seinem Inhalt handelt (also von dem beworbenen Produkt und dessen Eigenschaften), ist der Werbejingle-als-Kunstwerk jetzt plötzlich über seinen Inhalt und auch über die Weise, wie er seinen Inhalt darstellt. Anders gesagt: Der Werbejingle-als-Kunstwerk reflektiert seinen Inhalt (= sein Dargestelltes) in einer Weise, die es dem ästhetischen Betrachter ermöglicht, Interpretationen über die Weise, wie der Werbejingle-als-Kunstwerk über seinen Inhalt reflektiert, anzustellen.
Jede Darstellung, die kein Kunstwerk ist [also z.B. der Werbejingle], kann ein Pendant finden, das eines ist, wobei der Unterschied darin liegt, daß das Kunstwerk die Präsentationsweise benutzt, in der das Nichtkunstwerk seinen Inhalt präsentiert, um etwas im Hinblick darauf zu erreichen, wie [Hervorhebung im Original] jener Inhalt präsentiert wird. [...] Man wird inzwischen bemerken, daß dies vielleicht zu verdeutlichen hilft, in welcher Weise die Kopie eines Kunstwerkes kein eigenständiges Kunstwerk sein kann: die Kopie zeigt lediglich die Weise, wie das Kunstwerk seinen Inhalt präsentiert, ohne dies selbst in einer Weise zu zeigen, die etwas erreichen will: sie zielt auf einen Zustand reiner Transparenz, wie ein idealisierter Darsteller. Die Photographie eines Werkes kann hingegen sehr wohl ein eigenständiges Kunstwerk sein, wenn sie den Inhalt in einer Weise präsentiert, die etwas über den präsentierten Inhalt zeigt. [S. 224 f.]
Ähnlich einer Metapher ("Wenn die Struktur der Kunstwerke die Struktur der Metapher ist oder ihr sehr nahe kommt [...]", S. 264) ist das Kunstwerk seinem Inhalt gegenüber "uneigentlich". Will sagen: So wie die (sprachliche) Metapher ihren "Inhalt", also die Signifikate der einzelnen Wörter, behandelt, indem sie nämlich die Signifikate auf sich selbst zurückverweist und dadurch einen innersprachlichen Raum öffnet, der neue Konnotationen ermöglicht, genauso oder zumindest sehr ähnlich behandelt ein Kunstwerk sein Dargestelltes, indem nämlich die Weise, in der das Dargestellte gezeigt wird, auf sich selbst verweist, und in dieser Selbstbezüglichkeit ein Konnotationsraum sich auftut. Also ein Raum für Bedeutung und damit Interpretation. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Begriff des Enthymems, den Danto hier einführt.
Ein Enthymem ist ein verkürzter Syllogismus, bei dem eine Prämisse oder eine Konklusion fehlt und der einen gültigen Syllogismus ergibt, wenn, außer der Gültigkeit, die fehlende Zeile eine offenkundige Wahrheit ist oder für eine solche gehalten wird, für etwas, das voraussichtlich von jedem ohne eine besondere zusätzliche Anstrengung akzeptiert wird: eine Banalität. [S. 259]
Das tolle an diesem Begriff ist, dass er den geistigen Impuls erklärt, den eine Metapher oder allgemein "uneigentliches" Sprechen oder eben auch ein Kunstwerk beim Leser / Betrachter / Hörer auslöst. Durch das Weglassen eines zwar einfach zu ergänzenden ("banalen"), aber unbedingt notwendigen Zwischengliedes zwinge ich den Leser / Betrachter / Hörer dazu, die Lücke eigenständig zu schließen. Er muss das Mittelglied auffinden, will er am Interpretationsprozess teilhaben. Dazu ist Wissen notwendig, denn ohne ein Wissen darüber, worin denn überhaupt die Beziehung zwischen Anfangs- und Endglied bestehen könnte, also ohne einen Wissensraum, innerhalb dessen das Mittelglied auffindbar sein könnte, ist die Denkbewegung (die diesmal wirklich eine ist) nicht möglich beziehungsweise "wirkungslos" [Danto, S. 261].
Um noch einmal mein hypothetisches Werbespot-Stück zu bemühen: Es ist, selbst als Werbspot im Werbeblock gespielt, nicht von dem Auto, das im Text angepriesen wird, es ist über die Art, wie in Werbespots normalerweise Autos angepriesen werden. Es zeigt die Weise, in der normalerweise Produkte in Werbespots präsentiert werden, in einer Weise, die etwas darüber ausdrückt, wie normalerweise Produkte in Werbespots präsentiert werden. Diese Weise des Zeigens ist in oben erwähntem Sinn uneigentlich, weil sie eben nicht einfach den Inhalt, also das angepriesene Auto, zeigt, sondern vielmehr die Art, in der der Inhalt gezeigt wird. Um diesen enthymemischen Sprung nachvollziehen zu können, brauche ich als Hörer des Werbespot-Stücks ein gewisses Maß an Wissen, z.B. hier darüber, wie normalerweise Produkte in Werbung angepriesen werden.
Nach über 300 Seiten bleibt eigentlich nur eine Frage offen: Woher zum Teufel weiss ich denn nun, wann ich ein Kunstwerk vor mir habe und wann nicht?

Montag, 20. Januar 2014

Kommentar 31 - Mensch Heidegger, was hast'n da wieder fabriziert / Filosovi füa Dume 1

Aus aktuellem Anlass beginne ich heute eine neue Reihe, in der ich zentrale Sätze verschiedener Philosophen zum Thema Kunst vorstelle und in Normalsprech zu übersetzen versuche.

Heute: Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes. Reclam, 1960. S. 56 f. (Ziffern in Klammern habe ich zur besseren Übersicht eingefügt)

(1) Der Ursprung des Kunstwerkes und des Künstlers ist die Kunst. (2) Der Ursprung ist die Herkunft des Wesens, worin das Sein eines Seienden west. (3) Was ist die Kunst? (4) Wir suchen ihr Wesen im wirklichen Werk. (5) Die Wirklichkeit des Werkes bestimmte sich aus dem, was im Werk am Werke ist, aus dem Geschehen der Wahrheit. (6) Dieses Geschehnis denken wir als die Bestreitung des Streites zwischen Welt und Erde. (7) In der gesammelten Bewegnis dieses Bestreitens west die Ruhe. (8) Hier gründet das Insichruhen des Werkes. (9) Im Werk ist das Geschehnis der Wahrheit am Werk. (10) Aber was so am Werk ist, ist es doch im Werk. (11) Demnach wird hier schon das wirkliche Werk als der Träger jenes Geschehens vorausgesetzt. (12) Sogleich steht wieder die Frage nach jenem Dinghaften des vorhandenen Werkes vor uns. (13) So wird denn endlich dies eine klar: Wir mögen dem Insichstehen des Werkes noch so eifrig nachfragen, wir verfehlen gleichwohl seine Wirklichkeit, solange wir uns nicht dazu verstehen, das Werk als ein Gewirktes zu nehmen. (14) Es so zu nehmen, liegt am nächsten; denn im Wort Werk hören wir das Gewirkte. (15) Das Werkhafte des Werkes besteht in seinem Geschaffensein durch den Künstler. (16) Es mag verwunderlich erscheinen, daß diese nächstliegende und alles klärende Bestimmung des Werkes erst jetzt genannt wird. [...]

Es ist so einfach, sich über Heideggers Philosophie lustig zu machen, fast zu einfach ... ach nee, das hatten wir schon mal. Also, wir gehen mal davon aus, dass wir beim Lesen dieser Sätze gelacht und uns ausgelacht haben und versuchen jetzt trotzdem mal zu ergründen, was der Martin uns da eigentlich sagen will, wenn er denn was sagen will, wovon ich mal probehalber ausgehe.

(1) Wir fangen mit einer Definition an. Sehr gut. Nicht, dass wir nachher im Luftleeren herumstochern. Wir müssen ja wissen, worüber wir reden. Wir sprechen also vom Ursprung des Kunstwerkes und des Künstlers. Und erfahren überraschenderweise, dass deren Ursprünge in der Kunst liegen. Ich hätte das nicht gedacht. Nicht im Maschinenbau oder in einer Bäckerei, nein, in der Kunst! Donnerlittchen. Gut, dass wir das schonmal wissen.
(2) Zweite Definition. Was ist eigentlich so ein Ursprung? Offensichtlich hat es etwas damit zu tun, wo etwas herkommt. Daher auch Herkunft. Irgendeines Wesens. Dann wird's kompliziert. Im Ursprung "west das Sein eines Seienden". Nun ist das mit dem "Sein" und dem "Seienden" bei Heidegger so eine Sache. Es würde den Rahmen hier sprengen, auch nur ansatzweise zu klären, was er damit eigentlich meint. Ich versuch's mal ganz grob: Heidegger ist ja der Meinung, dass sämtliche Philosophen vor ihm den Unterschied zwischen "Sein" und "Seiendem" nicht gesehen, verstanden oder überhaupt gemacht haben. Er behauptet, es gäbe eine ontologische Differenz zwischen diesen beiden Begriffen. Also eine "Seins"-Differenz. Er erklärt also die Differenz zwischen zwei Begriffen mit den Begriffen selbst, was es natürlich irgendwie schwer macht, einen verläßlichen Grund unter die Begriffsfüße zu kriegen. (Im Übrigen geht er mit sämtlichen Begriffen so um, siehe auch schon Satz (1)). Das heißt also in diesem Fall: Es gibt einen Unterschied zwischen dem, wie sich ein "Seiendes", also irgendein Ding, uns präsentiert und seinem eigentlichen "Sein", also dem, was es eigentlich ist. Hört sich irgendwie stark nach Kant und seinem "Ding an sich" an. Nur unverständlicher formuliert (natürlich wird diese, sagen wir mal, Parallele von Heidegger-Exegeten auf das Schärfste abgelehnt). Wie auch immer, Heidegger sagt nun also, dass im Ursprung (von was auch immer) dieses eigentliche "Sein", also das "Wesen" eines Dings, mit seiner Erscheinung, also dem "Seienden", in Eins fällt. Puuuh. Erstmal 'nen Kaffee.
(3) Ja, was ist eigentlich Kunst. Ich dachte ja, darum geht es die ganze Zeit schon, aber anscheinend habe ich mal wieder nicht richtig gedacht. Also, nun mal los. Was ist die Kunst?
(4) Aha, das habe ich auf Anhieb verstanden. Das mache ich auch immer so. Ich schaue mir konkrete Werke an. Irgendwelche total abgehobenen metaphysischen Erklärungsversuche interessieren mich überhaupt gar nicht. Heidegger offensichtlich auch nicht ...
(5) Ein wunderbarer Satz. Und ein vollendetes Beispiel für meine Feststellung von oben, wonach Heidegger Begriffe grundsätzlich mit sich selbst definiert. Jaja, ich weiß, er glaubt, mit dieser sprachlichen "Bewegung" könne er sich dem Sein des Seienden nähern, aber das wäre ja nur der Fall, wenn tatsächlich mal eine Bewegung da wäre. Aber diese Sätze sind von einer derart trägen Statik, dass man das Gefühl hat, ewig auf der Stelle zu treten, während im Hintergrund seeeehr langsam schlecht gemalte Landschaftskulissen vorbeigetragen werden. Nun gut, wir lernen: das, was im Werk am Werke ist, ist das Geschehen der Wahrheit. Oder, anders gesagt: Ein Kunstwerk läßt die Wahrheit aufscheinen ("zum Leuchten kommen" [S. 62]). Die Wahrheit worüber? Keine Ahnung. Ich blättere das Heftchen durch und lese alle Stellen zur "Wahrheit". Aha, hier [S. 62]: "[...] zu einer Wahrheit und d. h. zu einer wesentlichen Enthüllung des Seienden als solches [...]". Okay, ich hatte mir etwas Konkreteres erhofft, aber sei's drum: Wahrheit = dass wir erkennen, dass wir nicht das Wesen der Dinge sondern nur ihre Erscheinung erkennen können. Zu diesem Behufe allerdings macht sich die Wahrheit im Seienden selbst zum Seienden und erhält dadurch den ihr eigenen "Zug zum Werk" [alles S. 62]. Woher wir (oder vielmehr Heidegger) dann wissen wollen, dass wir das Sein der Wahrheit am Zipfel hätten und nicht sie selbst als Seiendes, bleibt mir, wie so vieles andere, schleierhaft.
(6) Mannmannmann, schon wieder neue Begriffe. Und schon wieder nichts Greifbares. Dass ein Streit bestritten wird ist keine besonders originelle sprachliche Erkenntnis und darüberhinaus von keinerlei Erkenntniswert. Wer aber streitet, das sind "Welt" und "Erde". Diese Begriffe hat der Heidegger doch bestimmt irgendwo genau definiert. Ja klar [S. 45]: "Die Welt ist die sich öffnende Offenheit der weiten Bahnen der einfachen und wesentlichen Entscheidungen im Geschick eines geschichtlichen Volkes. Die Erde ist das zu nichts gedrängte Hervorkommen des ständig Sichverschließenden und dergestalt Bergenden. [...]". Wo nun plötzlich die Sache mit dem "Volk" herkommt, weiß ich nicht, ich dachte, wir reden hier ausschließlich metaphysisch. Setzt man diese "Definitionen" in unseren Satz (6) ein, kommt Folgendes dabei raus: "Dieses Geschehnis denken wir als die Bestreitung des Streites zwischen der sich öffnenden Offenheit der weiten Bahnen der einfachen und wesentlichen Entscheidungen im Geschick eines geschichtlichen Volkes und dem zu nichts gedrängten Hervorkommen des ständig Sichverschließenden und dergestalt Bergenden." Na bitte. Also ich hab's verstanden.Kann aber verstehen, wenn der eine oder andere gerne eine etwas nähere Bestimmung hätte. Also zurück auf S. 40, wo es heißt: "Welt ist nicht die bloße Ansammlung der [...] Dinge. Welt ist aber auch nicht ein nur eingebildeter [...] Rahmen. Welt weltet [Hervorhebung im Original] und ist seiender als das Greifbare und Vernehmbare, worin wir uns heimisch glauben." Wenn's jetzt nicht geschnackelt hat, dann weiß ich auch nicht weiter. Welt weltet. Tisch tischt. Stuhl stuhlt. Tasse tasst. Heidegger heideggert.
(7) Was zur Hölle ist eine "Bewegnis"? Meint er eine "Bewegung"? Eine "Be-Weg-Nis", also die Zurücklegung eines Weges? Was ja nichts anderes als eine "Bewegung" wäre. Oder das Herstellen eines "Weges"? Wie kann sowas "gesammelt" sein? Und warum west darin, also in was auch immer, "die Ruhe". Und warum soll das wichtig sein? Blätter, blätter. S. 45: "Wenn Ruhe die Bewegung einschließt [was Heidegger vorher "bewiesen" hat], so kann es eine Ruhe geben, die eine innige Sammlung der Bewegung, also höchste Bewegtheit ist, gesetzt, daß die Art der Bewegung eine solche Ruhe fordert." Warum schreibt er dann später nicht "Bewegtheit" anstatt "Bewegnis"? Mal davon abgesehen, dass hier auf S. 45 so ziemlich alles durcheinander geht, was durcheinandergehen kann: Ruhe ist "freilich [!!] nur der Grenzfall der Bewegung". Also ist auch Ruhe nur eine Form von Bewegung. Also gibt es keine eigentliche Ruhe. Also operiert Heidegger mit einem uneigentlichen Begriff, also einem "verstellten Seienden". Also ist das alles bloß Wortgeklingel.
(8) Ich hab mich schon die ganze Zeit gefragt, wo das "Insichruhen des Werkes" gründet. Jetzt weiß ich es: in der Ruhe. Freilich.
(9) Wir fassen das bisher Gelernte zusammen: Ein Kunstwerk macht das Seiende als Seiendes sichtbar.
(10) Und lernen weiter, dass wir noch nicht genug gelernt haben. Denn das "Geschehnis der Wahrheit" ist nicht nur "am Werk", sondern auch "im Werk". Neben der etwas blassen und allmählich ermüdenden, weil oft wiederholten sprachspielerischen Verwendung der aktiven und passiven Bedeutungen des Wortes "Werk" wird also das bisher Gesagte nochmal verunklart, damit wir nicht auf die Idee kommen, es sei schon irgendetwas erklärt worden. Und weil die Gedanken von sich aus keinen weiteren Impuls hergeben, wird einfach an der Sprache rumgebastelt, bis eine vermeintliche Lücke, und sei sie noch so winzig, irgendwo öffnend sich öffnet.
(11) Wie, "demnach"? Aus dem ganzen undurchschaubaren Wust von doppel-, dreifach- und vierfachbödigen Pseudodefinitionen soll jetzt also eine Schlussfolgerung gezogen werden? Na gut, dann mal los. Ach nee, keine Schlussfolgerung. Das "demnach" ist hier bloss als grammatikalisches Füllsel eingesetzt und soll keine inhaltliche Folgerung anzeigen. Wir erfahren nur nochmal, dass wir von konkreten Kunstwerken reden, die schon da sein müssen, damit all der Kram, den wir über konkrete Kunstwerke gedacht haben, auch tatsächlich stimmt. Wir reden also nicht metaphysisch, sondern ganz konkret. Daher (inhaltlich / kausales "daher") auch:
(12) Die Frage nach dem "Dinghaften des vorhandenen Werkes". Die "sogleich" wieder "vor uns" steht. Ja natürlich. "Sogleich". Dass im Werk ein "Dinghaftes" ist, sei ja nun unbestreitbar [S. 55: "[...] kommt auch jenes Dinghafte ins Werk. Das ist unbestreitbar."], was aber dieses "Dinghafte" sein soll außer der fast schon beleidigend offensichtlichen Tatsache, dass ein Werk immer auch ein Ding ist (ein Buch, eine Partitur, ein Bild, ein Objekt), das bleibt unklar. Später [S. 70] behauptet Heidegger dann sogar noch, dass das Dinghafte, was wir am Werk wahrnehmen, gar kein Dinghaftes sei, sondern ein "Erdhaftes". Ah ja. Also ein "zu nichts gedrängtes Hervorkommen des ständig Sichverschließenden und dergestalt Bergenden"-haftes. Also war die Rede vom Dinghaften die ganze Zeit über bloß ein "Holzweg". Um uns vorzuführen, wie doof wir sind, weil wir nicht zwischen "Dinghaftem" und "Erdhaftem" unterscheiden. Im täglichen Leben.
(13) Es wird was klar. Endlich. Aber nur "dies eine" (nicht zu viel auf einmal, dabei dachte ich immer, es geht die ganze Zeit um irgendeine Klärung). Aber immerhin. Ich lese also, was nun klar wird. Werden soll. Eigentlich. Quintessenz: Das "Werk" ist ein "Gewirktes". Wenn wir das nicht beachten, dann erkennen wir nicht die Wirklichkeit des Werkes. Also das Sein des Seienden. Um Gottes Willen, das wollen wir natürlich vermeiden. Also merke: Das Werk ist ein Gewirktes. Was bedeutet das? Na ganz einfach, dass
(14) beide Begriffe dieselbe Wurzel haben. Toll. Im ersten Halbsatz entschuldigt sich Heidegger dafür, dass er uns mit so einem leicht verständlichen Kram belästigt. Dann aber kommt der entlarvendste Satz im ganzen Kapitel, ja im ganzen Buch: "[...] denn im Wort Werk hören wir das Gewirkte."
(15) Und wir setzen noch einen drauf auf die fortgesetzten Feststellungen des Offensichtlichen. Ein Kunstwerk heißt deshalb Kunstwerk, weil ein Künstler es gemacht hat (meinetwegen auch: weil es durch das Wirken eines Künstlers entstanden ist). So könnte man es hinschreiben, aber dann würde ja jeder sofort merken, dass das irgendwie total offensichtlich und überhaupt keine besonders tiefsinnige Einsicht ist. Deshalb denkt Heidegger sich flugs einen Begriff aus und nennt das Ganze dann das "Geschaffensein" des Werkes. Das verunklart nicht nur den Sinn dieses Satzes einigermassen, sondern verschafft Heidegger wieder einmal diese Lücke, die ich oben erwähnt habe, in die hinein er wieder eine Pseudobewegung vollführen kann. Weiter unten auf S. 57 heißt es nämlich: "Das Geschaffensein des Werkes läßt sich aber offenbar nur aus dem Vorgang des Schaffens begreifen." Ich denke, das Strickmuster ist klar: Erfinde einen Begriff, der eine bekannte Wortwurzel irgendwie fremdartig aussehen läßt. Erkläre diese Wortschöpfung dann mit einem bekannten Wort derselben Wortwurzel und füge in die Erklärung gleichzeitig noch einen weiteren Neologismus ein, der wiederum auf einer anderen Wortwurzel beruht und diese irgendwie fremdartig aussehen läßt und erkläre im nächsten Satz diesen neuen Neologismus mit einem bekannten Begriff derselben Wortwurzel und füge ... usw. usw. Das kann man natürlich eine Denkbewegung nennen, ich würde es eher als einen Denkbrummkreisel bezeichnen. Denn die Begriffe decken sich gegenseitig, wie die Verdächtigen in einem schlechten Krimi. Und folgerichtig kommen wir nach 80 Seiten genau da an, wo wir angefangen haben [S. 80]: "Die Kunst läßt die Wahrheit entspringen. Die Kunst erspringt als stiftende Bewahrung die Wahrheit des Seienden im Werk. Etwas erspringen, im stiftenden Sprung aus der Wesensherkunft ins Sein bringen, das meint das Wort Ursprung." Während wir die ganze Zeit dachten es geht um den "Ursprung des Kunstwerkes", hat Heidegger sich offensichtlich die ganze Zeit damit beschäftigt, den "Ursprung des Kunstwerkes" zu suchen. Oder so zu tun, als suchte er ihn. Denn irgendwie klingt dieses "Fazit" verdächtig nach dem Anfang [S.7]: "Ursprung bedeutet hier jenes, von woher und wodurch eine Sache ist, was sie ist und wie sie ist." Alles klar! Die restlichen 80 Seiten hätte es ja gar nicht gebraucht.
(16) Immerhin, Heidegger hat ja wohl Humor. Ich jedenfalls habe herzlich gelacht.