Freitag, 22. Januar 2016

Kommentar 49 - Großer Gott (nein, ohne Lob) oder: Wie ich einmal ganz stark war und mir einen Programmhefttext durchgelesen habe

Wenig Zeit? Am Textende gibt's keine Zusammenfassung. 
Wenn Sie aber doch Zeit haben, dann empfehle ich einen der folgenden Soundtracks (ganz leise während der Lektüre im Hintergrund zu hören): Den, den (und dann auf Autoplay schalten) oder den.


Ich dachte, ich mach zwischendurch mal eine Textanalyse, irgendwie hab ich für diese Woche genug Neue Musik gehört. Wie durch Zufall habe ich auch zwei wunderbare Texte parat, beide von Rainer Kohlberger, der Medienkunstirgendwas, ach was, reden wir nicht lange drumherum: Medienkunstquatsch macht. Entschuldigung, ich muss natürlich differenzieren: Großen Medienkunstquatsch.


Kohlbergers Selbstbeschreibung (ich gehe mal davon aus, dass diese Vita keine hochdotierte Werbeagentur verfaßt hat) liest sich so:

Rainer Kohlberger, geboren in Linz, lebt als freischaffender Videokünstler und Filmemacher in Berlin [ja wo denn sonst? Ich bin ja dafür, nur noch Wohnorte in Bios zu nennen, die nicht "Berlin" heißen]. Seine algorithmisch komponierten [wie jetzt, "komponierten", ich denke, er ist "Videokünstler und Filmemacher"? darf denn jetzt schon jeder komponieren?] Arbeiten kerben [hä?] sich aus einer reduktionistischen Ästhetik der Flächigkeit [ich muss jedesmal laut lachen, wenn ich das lese. Eine "Ästhetik der Flächigkeit" ist schon von sich aus "reduktionistisch", weil sie alles mögliche andere von vorneherein ausschließt. Das ist also schonmal eine Tautologie. Mir leuchtet auch nicht ein, warum man sich in seiner Vita (!!) schon auf so einen seltsam eingeschränkten Ästhetikbegriff freiwillig kapriziert. Und darüber hinaus weiß ich gar nicht, ob "Ästhetik der Flächigkeit" wirklich etwas bedeutet, also hier draußen, in der Nicht-Medienkunstquatsch-Welt, wo Begriffe tatsächlich hin und wieder einen echten semantischen Wert haben; und zu guter Letzt habe ich keine Ahnung, wie man aus einer "Ästhetik", sei es eine der Flächigkeit oder der räumlichen Tiefe, irgendetwas "kerben" kann], der Drones [oh Gott, Drones schon wieder, hat doch der Niblock schon abgefrühstückt, kennste einen Drone, kennste alle, weiß gar nicht, was alle mit diesen Drones haben, es brummt halt lang rum, mal mehr mal weniger hell oder dunkel oder laut oder leise] und Interferenzen [klingt immer gut, "Interferenzen", kann man nix falsch machen]. Den Bild- und Klangwelten [aha, ganze Welten also gleich, drunter geht's wohl nicht, nicht etwa Bildabstellkammer oder Klangdoppelhaushälfte] inhärent [natürlich, "inhärent", wir wollen ja nicht, dass das jeder Trottel gleich versteht, ist ja schließlich Kunst] ist dabei das Rauschen [mit anderen Worten: Bilder und Töne (von Kohlberger, oder überhaupt alle? Wird nicht ganz klar) rauschen manchmal oder öfter oder immer. Warum nicht gleich so? Ach so, klingt irgendwie banal? Naja, vielleicht liegt das daran, dass die Aussage von Kohlbergers Satz eben banal ist] - es fasziniert [also mich bis jetzt noch nicht] als die Ahnung einer Unendlichkeit [Achtung, jetzt wird's gut], die sowohl die letztgültige Abstraktion als auch unverbesserlich verschwommen ist [Evangelium nach Rainer; das ist nun wirklich kompletter Nonsens, dazu noch semantisch völlig schief, ausserdem ein ungekennzeichnetes Zitat, wie später klar wird: Er meint wahrscheinlich (ich versuche tatsächlich, diesem Gesülze irgendeinen Sinn abzugewinnen), dass man das Rauschen nicht wegbekommt oder sowas in der Art, daher das "unverbesserlich", das aber natürlich im Deutschen (im Kohlbergerischen vielleicht nicht) die Konnotation von charakterlichen Defiziten hat, also im Zusammenhang mit Verhalten von Personen gebraucht wird; man sagt ja auch nicht: Dieser Motor verbraucht unverbesserlich viel Benzin]. Seine Arbeiten [die gekerbten also] wurden international [ich nehme mal an Deutschland und Österreich] in unterschiedlichen Formaten und Kontexten [Worthülsenalarm] gezeigt - Filme, Raum-Installationen und Live-Performances [alles dabei, was das KünstlerHipsterherz begehrt] lassen sich in einer konzentrierten Form der Intensität erfahrbar machen [oh Mann, wo soll ich da anfangen? Erstens: Wieso "lassen" sie sich "erfahrbar machen"? Klingt wie ein mieser Werbetext für eine Wellness-Oase: "Lassen Sie sich von uns in die Welt der Sinne entführen." Ich denke, er hat diesen ganzen Kram schon aufgeführt, wieso also dieses ins Futur weisende "lassen"? Wo läßt sich das Zeug erfahrbar machen, in den Formaten und Kontexten? In welchen genau? Zweitens: eine "konzentrierte Form der Intensität" ist schon wieder tautologisch. Intensität ist schon von sich aus konzentriert, sonst hätte Sie kein Intensitäts-haftes an sich (Kant, halt dir die Ohren zu). Gibt keine breitgefächerte Intensität, oder eine lasche Intensität. Und drittens: Warum überhaupt ist es erwähnenswert, dass irgendein Zeug in einer "konzentrierten Form der Intensität erfahrbar" sein soll? In jedem stinknormalen Abokonzert kann ich diese sogenannte Intensität erfahren, was zum Teufel brauche ich da noch irgendwelche "Formen und Kontexte"?]. Er wurde mit mehreren internationalen Preisen ausgezeichnet [na klar].
 (entnommen dem Programmheft von klub katarakt 11, Lange Nacht, 16.1.2016)

Wer jetzt denkt, okay, die Vita ist vielleicht aus Platzgründen irgendwie zusammengekürzt und dadurch entstellt worden, dem muss ich leider noch den Programmtext von fluctuations (around zero) und (around one) zumuten. Da wird's erst richtig lustig (oder auch nicht, je nachdem).

Rainer Kohlberger: Hintergrundrauschen [steht genau so in o.g. Programmheft]

In meiner Arbeit bewege ich mich sehr nahe an dem, was es heißt, grundsätzliche Paradigmen des Digitalen zu begreifen und erkennbar zu machen. Deshalb ist es notwendig, einen kurzen Einblick in jene Genealogie zu verschaffen, die meinem Denken vorausgeht.
Sätze, wie aus Wackelpudding gemeißelt. Es stimmt fast nix daran. "Grundsätzliche Paradigmen" ist eine Tautologie (eine Spezialität von Kohlberger offensichtlich), ein Paradigma ist immer etwas Grundsätzliches; "Paradigmen des Digitalen" gibt es nicht, was soll denn das sein, das "Digitale" an und für sich (streng genommen ist es einfach ein binäres Zahlensystem, aber das meint er ja wohl nicht, er meint ja wohl eher "Kompjutaah")? Warum man "grundsätzliche Paradigmen des Digitalen" in einem Kunstwerk begreif- und erfahrbar machen soll, erschließt sich mir nicht, bzw. ist das ja Unsinn: Dazu gibt es wissenschaftliche Theorien, Medientheorie, Zahlentheorie und dergleichen. Man kann solche Theorien für Kunst fruchtbar machen (auch die Frage, ob man das unbedingt muss, aber immerhin), aber "Paradigmen" in Kunst begreifbar zu machen ... I don't think so.
"Deshalb" verstehe ich nicht, ich denke, die künstlerische Arbeit soll die Paradigmen begreifbar machen, weshalb also jetzt noch der ganze Sermon mit Pseudo-Medientheorie (immerhin noch 2 eng bedruckte Seiten, die folgen)? "Einen kurzen Einblick" ist auch gleich gelogen, der Einblick ist wie gesagt 2 Seiten lang, eine reine Unverschämtheit für einen Programmtext. "Genealogie, die meinem Denken vorausgeht" ist mal wieder eine Tautologie, eine Genealogie geht immer voraus, niemals nach. Den Beweis, dass Kohlberger ein eigenes "Denken" hat, bleibt er bislang schuldig.

Die Universalmaschine Computer bietet seit ihren Anfängen das Versprechen einer neuen Ästhetik, einer 'Künstlichen Kunst', in der Bilder und Töne prozessual komponiert werden. Programme folgen dabei Notationen, in denen zeitliche und räumliche Strukturen beschrieben und abstrahiert werden. Der Computer bietet sich als frei formbares Medium des 'anything goes' an, mit dem alles, was denk- und imaginierbar ist, in abstrahierten Prozessen generiert werden kann.
Ach so, so weit geht seine "Genealogie" also zurück, bis zu den Anfängen der "Universalmaschine Computer". So viel zum "kurzen" Einblick. Ausserdem eine Banalität, das Gequatsche von der "Universalmaschine". Die "Universalmaschine Computer" hat darüber hinaus nie irgendein Versprechen abgegeben. Ist nicht besonders wissenschaftlich, seinen Untersuchungsgegenstand zu anthropomorphieren, es sei denn, man wäre Anthropologe. "Künstliche Kunst" ist so ein Ausdruck (keine Ahnung, wo Kohlberger den herhat, offensichtlich ja ein Zitat oder was?), von dem man im ersten Augenblick vielleicht (NUR VIELLEICHT! AM BESTEN NICHT!) denkt: interessant! und gleich im anderhalbten Augenblick denkt (DENKEN SOLLTE!!SPÄTESTENS): Nee, Quatsch, bedeutet ja nix. Aber immerhin: es sollen "in" dieser Kunst "Bilder und Töne prozessual komponiert werden". Das ist ja toll. Bisher mußte man immer Schritt für Schritt komponieren, jetzt soll das Ganze also "prozessual" gehen. Wahnsinn. Ach, das noch ist nicht alles: "Programme folgen dabei Notationen" und in diesen Programmen werden "zeitliche und räumliche Strukturen beschrieben und abstrahiert". Alles auf einmal. Diese Wahnsinnsprogramme würde ich gerne mal sehen, die irgendwelchen Notationen (von was eigentlich?) folgen (wohin eigentlich?). Und "beschreiben und abstrahieren" in Einem ist natürlich großartig, diese ominösen Programme können dann auch bestimmt Dinge wie die Quadratur des Kreises und die letzte Nachkommastelle von Pi in "abstrahierten Prozessen generieren". Als "frei formbares Medium" bietet sich der Computer aber dann doch eher nicht an, denn selbstverständlich ist auch das Medium Computer gewissen Einschränkungen unterworfen wie alle anderen Medien auch, nicht zuletzt deshalb gibt es ja im Augenblick z.B. die Retro-Bewegung zurück zu analogen Hardware-Synthesizern, Plattenspielern und so 'nem Zeug. Dass Kohlberger das Denken und das Imaginieren als zwei verschiedene Tätigkeiten begreift, spricht dann wieder für sich selbst.

Heute, ein halbes Jahrhundert, nachdem der Computer in den Künsten Einzug fand, hat sich dieser in einer rasanten technologischen Entwicklung zum ständigen Begleiter gewandelt. Er hat uns schon immer umgeben. Ursprünglich füllte er den gesamten Raum aus, in dem wir mit ihm operierten. Wir bewegten uns in ihm. Heute ist er durch seine Verkleinerung ubiquitär geworden - er steckt in nahezu allen technischen Medien und Instrumenten, mit denen wir Bilder und Töne aufnehmen, verarbeiten und wiedergeben. Er ist uns sehr nahe geworden.

Ich hab noch nie davon gehört, dass die technologische Entwicklung "rasant" wäre, ich dachte bisher immer, sie verliefe "gemächlich". Und auch die Tatsache, dass der "Computer" unser "ständiger Begleiter" sein soll, ist mir völlig neu. Ich dachte, das Ding in meiner Tasche, das so schön leuchtet und durch das manchmal Stimmen zu mir sprechen, wäre ein Käfig für gentechnisch manipulierte, verschiedenfarbig leuchtende Mini-Glühwürmchen, deren zartes Summen (auch gentechnisch angezüchtet) sich wie Menschensprache anhört, wenn man das Ohr ganz nah an den Käfig hält. Aber Computer, nein!
Der folgende Satz ist dann wieder ganz klar und rein in seiner Aussage, denn der Computer hat "uns schon immer umgeben". Also auch in prähistorischer Zeit. In der Antike. Im Mittelalter, der Renaissance, der Aufklärung, der Romantik. Immer, immer, immer schon. Also ist der Computer Gott. Nehme ich zumindest mal an, seine Omnipräsenz wäre sonst für mich mit meinem doch reichlich beschränkten Denk- und Imaginierinstrumentarium schwer begreiflich. Muss wohl richtig sein, denn weiter geht es mit der Aussage, dass er (Gottcomputer bzw. Computergott) den "gesamten Raum" ausfüllt und wir uns in ihm bewegen. Ach nein, nicht ganz, Vergangenheit: "bewegten". Also nicht mehr. Ja klar, Theodizee, Eli, Eli, lema sabachthani und so weiter! Deep stuff, man! Dann habe ich aber doch ein kleines Verständnisproblem, denn mir ist nicht ganz klar, wieso er uns "schon immer umgeben" hat, aber erst heute "ubiquitär" und uns "sehr nahe" ist. Ist denn der Jüngste Tag da? Kehrt Gott wieder, um zu richten die Lebenden und die Toten? Sieht so aus, jedenfalls wenn man Kohlberger glaubt. Und das tue ich vorbehaltlos.

Wurde die Maschine immer kleiner, so wurde sie doch in der jüngsten Spielart medialer Künste immer sichtbarer. Glitches, Artefakte und Pixel haben als gestalterisches Stilmittel nicht zuletzt in der Popkultur Einzug gehalten. Auch die vagen Zuordnungen von Urheberschaft im Internet und seiner 'Memes' hat dazu beigetragen, dass sich dabei ein Formenkanon herausgebildet hat, in dem wir Zeichen einer post-digitalen Ästhetik vorfinden. "In einer scheinbar selbstverständlichen Assemblage neuer und alter Ausdrucksformen gilt diese [post-digitale] Ästhetik als Gegenläufer zum Computer als Universalmaschine" (Cramer, 2014).

Ich fange mal hinten an: Die gekürzte Angabe eines zitierten Titels ist nur zulässig, wenn man in einer Fußnote oder in einer Literaturliste die vollständigen Informationen angibt (passiert hier nicht). Das Zitat von Cramer widerspricht Kohlberger direkt, weil es behauptet, die neue Ästhetik sei ein "Gegenläufer zum Computer als Universalmaschine", Kohlberger jedoch grade eben noch festgestellt zu haben wissen will, dass der Computer immer noch als Universalmaschine gilt ("[...] mit dem alles [ALLES!], was denk- und imaginierbar ist, in abstrahierten Prozessen generiert werden kann."). Also verstehe ich nicht, inwiefern das Zitat Kohlbergers Position (mal angenommen, er hätte eine) untermauern soll. Was überhaupt eine "post-digitale Ästhetik" sein soll, ist mir sowieso schleierhaft. Der Computer ist doch das digitale Medium schlechthin, wie soll man denn mit seiner Hilfe etwas "Post-Digitales" erzeugen können. Davon abgesehen ist "digital" auch keine Zeit- oder Ortsangabe, die man hinter sich lassen könnte (anders, als beispielsweise die Moderne). Dass wir außerdem schon post-digital sein sollen, wo doch andernorts feste behauptet wird, die "digitale Revolution" stünde uns in ihrer gesamten Wucht und Schönheit (?) noch bevor, das kommt mir dann doch so vor, als würde man auf der Autobahn von einem Reifen überholt, der sich vom eigenen Fahrzeug gelöst hat. Da helfen dann auch die Hinweise auf so mundane Zeugs wie "die vagen Zuordnungen von Urheberschaft im Internet" nicht weiter (davon ganz abgesehen, dass es "[...] die vagen Zuordnungen [...] haben dazu beigetragen" heißen muss). Und schon gar nicht ist die Aufzählung von "Glitches, Artefakten und Pixel" in irgendeinem mir bekannten Sinne des Wortes "Hilfe" hilfreich. Saucoole Wörter natürlich alles, keine Frage, aber genauso natürlich absolut digitale, oder soll ich sagen: non-post-digitale Begriffe.

Diesen Gegensatz können wir noch einmal verschieben, wenn wir die diskrete Logik der Rechenmaschine, deren CPU in ihrer geometrischen Anordnung an eine städtische Architektur erinnern mag und in der sich die Verschaltungen der getakteten Signale immerzu wiederholen, mit dem Rauschen kontrastieren.

Äh, NEIN ("Diesen Gegensatz können wir noch einmal verschieben"; welchen Gegensatz überhaupt, den zwischen "post-digitaler Ästhetik" und dem Computer als Universalmaschine? Hab ja oben schon ausgeführt, dass es den gar nicht gibt, jedenfalls nicht so, wie Kohlberger sich dies imaginiert und denkt), NEIN ("in ihrer geometrischen Anordnung an eine städtische Architektur erinnern mag"; die wenigsten Städte sind streng geometrisch aufgebaut; und selbst wenn, was beweist das?), NEIN ("in der sich die Verschaltungen der getakteten Signale immerzu wiederholen"; verschaltet sind nicht die Signale, sondern die Signalwege; die Verschaltungen wiederholen sich auch nicht, sondern die Signalwege werden immer wieder benutzt) UND NOCHMALS NEIN ("mit dem Rauschen kontrastieren"; das Rauschen ist in diesem Fall genauso digital [jedenfalls sagt er nirgendwo, dass er ANALOGES Rauschen meint] wie der Rest, also das Signal; der Kontrast, den Kohlberger so verzweifelt herbeibetet, funktioniert im Grunde nur über eine nachträgliche Interpretation des Rauschens als Störung des Signals, was er aber zwei Absätze später ablehnt; also geht gar nix mit Kontrastierung).

Stellt der Raster seit Jahrhunderten eine Kulturtechnik dar, um Ordnung und Struktur herzustellen, um Informationen und Personen zu adressieren (man denke an Städte wie Rom und Manhattan), so steht das Rauschen für das Unendliche, das Meer. Es wird zum Nicht-Ort, und "konstituiert einen Raum der Kontingenz." (Siegert, 2003)
Okay, es muss "das" Raster heißen, das kriegt er inzwischen geschenkt. Manhattan ist keine Stadt, sondern ein Stadtteil von New York, bestenfalls eine Insel. Warum ausgerechnet das in Jahrtausenden Siedlungsgeschichte zurechtchaotisierte Rom als Beispiel für eine Rasterstadt herhalten muss, bleibt Kohlbergers Geheimnis. Das Rauschen kann auch für Blähungen stehen, oder eine Eiswüste, eine Behauptung jedenfalls wird nicht dadurch wahrer, dass sie irgendwie poetisch klingen soll. Mir kommt das alles seltsam verräterisch zusammengestückelt vor. Ich warte ja noch auf Kohlbergers "Denken". Bis jetzt sind das alles Versatzstücke aus irgendwelchen zusammengeklaubten Medientheorien. Eigentlich wollte ich nicht weiter recherchieren (kein' Bock), hab dann aber doch auf die Schnelle ein Papier von Bernhard Siegert gegoogelt und prompt festgestellt, dass nicht nur der bescheuerte "Raum der Kontingenz" da drin vorkommt (S. 95), sondern auch der Quatsch mit der Kerbe und dem Meer. Ausserdem hat Kohlberger da was falsch verstanden, denn Siegert redet eigentlich vom "Ortlosen" und nicht vom "Nicht-Ort", anderenorts vom "Nicht-am-Ort-Sein". Einen Satz später kommt der "Nicht-Ort" dann tatsächlich vor, aber es geht da um den " 'Ort' der Ausdifferenzierung von Ort und Nicht-Ort", whatever the fuck that's supposed to mean. Das ist natürlich alles sowieso schon Pseudogeschwafel, das womöglich nichts bedeutet, aber das dann auch noch falsch zu verstehen, naja.

Es ist weniger die häufig negativ gelesene Konnotation des Rauschens, die für mich entscheidend ist - etwa als ein Störsignal, das unerwünscht ist, wenn auch in diesem Verhältnis durchaus seine Unabdingbarkeit, um Information erst zu übermitteln, interessiert, so wie Claude Shannon aufgezeigt hat. Vielmehr ist es eine Faszination, die es ausübt, eine Ahnung einer Unendlichkeit, die "sowohl die letztgültige Abstraktion, als auch unverbesserlich verschwommen ist" (David Foster Wallace). Als etwas, das nicht fassbar ist, in dem eine Ahnung des Neuen steckt, das in die Welt kommt.
Ich verliere langsam echt die Lust, aber es hilft nichts, da muss ich jetzt durch, alleine schon, um mich selbst davon zu überzeugen, dass nicht ich bekloppt bin.
Zunächst mal finde ich sehr schön, dass Kohlberger dem Rauschen eine Chance geben will. Ist ja wirklich schlimm, diese "häufig negativ gelesene Konnotation des Rauschens". "Das Boot ist voll, Frau Merkel", möchte ich aus Trotz gleich rufen, "wir schaffen das mit dem Rauschen nicht!" Leider verunklart Kohlberger seinen wirklich ehrenwerten Einsatz für das (weiße oder pinke oder braune??) Rauschen gleich wieder, indem er ein Satzungetüm anfügt, das bestimmt maroder als die Schiersteiner Brücke ist. Es geht um irgendein "Verhältnis", man weiß nicht zwischen was, wahrscheinlich zwischen Rauschen und Signal. Diese temporäre Unsicherheit wird aber gleich wieder mittels namedropping zugeschüttet. Wenn ein Shannon das gesagt hat, dann muss ja was dran sein. Also abgesehen davon, dass die von Shannon (vor knapp 70 Jahren! also cutting edge) ausgearbeitete Informationstheorie ausdrücklich die Semantik ausschließt und im Grunde ihres kalten Herzens ein rein statistisches Verfahren zur Ermittlung des notwendigen Signal-Rausch-Abstandes ist (ja hallooo, ich wußte immer, dass sich das eine Semester Medientheorie irgendwann auszahlt), wird sie auch einfach nicht richtig von Kohlberger wiedergegeben: Ich würde gerne mal die Textpassage bei Shannon sehen, wo davon die Rede ist, dass das Rauschen "unabdingbar" für die Informationsübermittlung sei. Dass ein Riesenhaufen Information einem Rauschen nicht unähnlich ist, wie Shannon (wirklich) festgestellt hat, ist ja doch irgendwie etwas anderes, als einfach zu behaupten, man brauche Rauschen (Brausche rauchen) zur Informationsübermittlung. Dann kommt ja noch der Mist mit der Unendlichkeit, der auch nicht dadurch besser runtergeht, dass er von DAVID FOSTER WALLACE, der SCHRIFTSTELLERLEGENDE, dem MYTHOS, stammt. Na und, jeder labert mal Scheisse.

Bei Deleuze/Guattari ist das Meer der glatte Raum par excellence. Doch es steht auch für den Archetyp aller Einkerbungen, die in ihm vorgenommen werden. So ist es jene Verschränkung des Glatten und des Gekerbten, deren wechselseitige Beziehung und ihre Wandelbarkeit, die es ermöglichen, jene Spielfläche zu beschreiben, in der meine Arbeit angelegt ist.

Aua, mein Kopf tut weh. Und ich bin traurig. Über so viel Hilflosigkeit. Die natürlich schnellstens kaschiert werden muss, so dass Kohlberger jetzt anfängt, mit den ganz großen Namen zu hantieren. Ich hab' echt nix gegen Deleuze und Guattari, aber die zwei haben schon auch 'ne Menge Unsinn verzapft. Bildet Rhizome und so 'n Zeug. Das Bild mit dem Meer ist ja total schief. In ein Meer kann man doch keine "Einkerbungen" machen. Den folgenden Satz verstehe ich überhaupt nicht (mir fallen keine Synonyme mehr für "nicht verstehen" ein): Das Meer steht für den Archetyp [ist also nicht der Archetyp, sondern repräsentiert ihn irgendwie] aller Einkerbungen [ALLER!], die in ihm [wem, dem Meer oder dem Archetyp?] vorgenommen werden [von wem? Riesen? Gott? Kohlberger?]. Den Satz drauf kapiere ich auch nicht: So [wie, "so"?, es gab doch gar keine Prämissen, die jetzt eine Schlussfolgerung erlauben würden] ist es jene [welche? ach so, jene] Verschränkung des Glatten und Gekerbten [ich weiß noch immer nicht, was eigentlich zum Teufel dieses "Gekerbte" sein soll, ist das 'ne Metapher? Wofür? Ist das sowas wie Derridas "Spuren" oder wie?], deren wechselseitige Beziehung und ihre Wandelbarkeit [also der Beziehung, oder des "Glatten und Gekerbten" oder der Verschränkung, die ja auch eine Beziehung ist?], die es ermöglichen [leider, muss man an dieser Stelle sagen], jene Spielfläche zu beschreiben [ach nee, beschrieben wurde bisher noch gar nichts so richtig und von einem "Spiel" war auch noch nie die Rede], in der meine Arbeit angelegt ist [whatever, man].

Das Glatte verfügt immer über ein "Deterritorialisierungsvermögen, das dem Gekerbten überlegen ist" (ebd.). Die Bilder und Töne sind unendlich und flach, sie haben keinen Anfang und kein Ende - nicht in der räumlichen, auch nicht in der zeitlichen Dimension. Sie rauschen immerfort, es findet sich kein Fokus, keine Entitäten, die für die Sinne auffindbar werden. Der Blick schweift umher, sein Versuch, sich irgendwo anzuhaften, schlägt fehl.
Was heißt denn bitte "(ebd.)"? Wo "ebd."? Bei Deleuze/Guattari? Wo da genau? Im entsprechenden Wikipedia-Artikel? Anschließend folgt die beeindruckendste Sequenz an Tautologieen, die je zu lesen ich in meinem Leben das Unglück hatte. "unendlich und flach" = "kein Anfang und kein Ende" = nicht räumlich und zeitlich = kein Fokus, keine Entitäten = kein Anhaftpunkt für den Blick. Aber immerhin schön, dass der Text jetzt mal poetisch zu werden versucht, was ihm ungefähr genauso gut gelingt, wie vorher der beinahe schon tragisch gescheiterte Versuch, wissenschaftlich zu klingen.

Meine Intention ist die vollkommene Vereinnahmung des Blicks, die Herstellung der größtmöglichen[n; Ergänzung von E.H.] Immersion; über die Verkopplung mit Sounds alles umher abzustellen und nur mehr die Arbeit als Wirklichkeit gelten zu lassen.

Endlich rückt er mit seiner künstlerischen "Intention" raus. Andererseits, irgendwie ist das dann doch etwas arg dünne. Jedes abgehalfterte B-Movie will ja die größtmögliche "Immersion" herstellen, jeder Schubert-Liederabend will für den Zeitraum seiner Dauer als alleinige "Wirklichkeit" gelten. War's das schon? Mehr will er nicht? Okay...

Doch es handelt sich nicht um ein beliebiges Spiel mit dem dröhnenden Flimmerkasten. So wie Einkerbungen im Bild sichtbar werden, so wie es eine konstante Verschiebung im Klang gibt, so wird deutlich, dass alles einer Notation folgt, von der aus ein Stück visueller Musik ausgebreitet wird. Diese Notation steht präzise im Programm festgeschrieben, in dem die Gestalt, die zeitlichen Bedingungen, die Verformungen der Bilder und Töne über Algorithmen festgeschrieben stehen. Handelt der Computer dieses komplexe Arrangement deterministisch ab, so fügt sich doch abermals das Rauschen in das Gefüge ein.
Nee, klar, keiner will sich ja nachsagen lassen, das was er da fabriziert, sei "beliebig". Das Problem mit solchen Aussagen ist ja, dass die Wahrheit sozusagen nachher auf der Bühne liegt. Der Kohlberger kann doch nicht ernsthaft von mir erwarten, dass ich seinen ganzen Medientheoriequatsch nachher im Konzert präsent habe und dann immerzu denke: "Ja, richtig, er hat ja geschrieben, dass es nicht beliebig ist, weil die Einkerbungen ja im Meer deterrorisiert werden. Alles klar, tolles Stück."
Was mich nachher im Konzert überhaupt erwartet, wird hier erstmals angedeutet: "Einkerbungen im Bild" und "Verschiebung im Klang". Okay, klingt gar nicht mal so vielversprechend, vor allem angesichts des theoretischen Apparates, den der Kohlberger aufzufahren versucht, aber letztendlich mit kleiner Verve in den Straßengraben setzt. Dennoch läßt er nicht locker, mich gehirnzuwaschen, damit ich bloß nicht unvoreingenommen im Konzert rumhocke: Das Stück ist notiert (ich bin schweeer beeindruckt), diese Notation ist "präzise" (waaas? ist ja der Hammer), und in dieser "Notation" werden "die Gestalt", die "zeitlichen Bedingungen" und die "Verformungen der Bilder und Töne" "festgeschrieben". Aber doch nicht etwa in so was Ähnlichem oder vielleicht sogar genau dem Gleichen wie in einer Partitur? Im letzten Satz dann sehen wir Kohlberger wieder in seiner Eigenschaft als (Welt-?) Meister der Tautologie am und im Werke: das Rauschen "fügt" sich ins "Gefüge".

Denn während sich die Partitur im Entstehen befindet, wird in diese eingegriffen und ständig modifiziert. Auf die Komposition folgt die augenblickliche Interpretation. Die Arbeit entsteht in einem Prozess der ständigen Rückkopplung. Statt von visueller Musik könnte man auch von einer bewegten Malerei sprechen.
Wieder was zu loben: Kohlberger beschreibt sehr schön und in ganz einfachen Worten den ganz normalen Kompositionsprozeß (geschenkt die inzwischen schon als liebenswerte Marotte verbuchte grammatikalische Ungenauigkeit, dass es natürlich heißen muss: "[...] wird in diese eingegriffen und diese ständig modifiziert." language's a bitch, bro). Als kleinen Einwand würde ich nur anführen, dass ich inzwischen gar nicht mehr verstehe, warum ich mir die anderthalb Seiten MedienBlaTheorieBlaBla durchlesen mußte. Der letzte Satz ist dann auch gleich wieder nicht ganz so gelungen, lieber Rainer Kohlberger, denn "visuelle Musik" als synästhetische contradictio in adiecto ist halt nicht dasselbe wie "bewegte Malerei", eine nicht-synästhetische contradictio in adiecto.

Das Rauschen als das Ungenaue und Unvorhersehbare mischt sich dann hinzu, wenn in der Assoziation der einzelnen Objekte zur Bild- und Klanggenerierung Fehler und Zufälle passieren. Ein Prinzip, das fortlaufend in meinen Arbeitsprozess inkorporiert wird, über deren Ausprägung und Fortbestand unmittelbar und intuitiv entschieden wird.
Ach Mensch, Kohlberger, jetzt haste im allerletzten Absatz deine ganzen schönen Vorsätze doch noch in die Tonne getreten. Was ist denn mit "weniger die häufig negativ gelesene Konnotation des Rauschens"? Plötzlich ist das Rauschen doch wieder nur ein "Fehler", eine "Ungenauigkeit", das "Unvorsehbare". Ziemlich viele "Un-"s. Das liest sich nicht gerade wie eine Umwertung aller Werte. Eher wie eine Bestätigung der Vorurteile, die wir mit uns herumzutragen uns alle mitschuldig machen. Schade eigentlich. Schade auch der grammatikalische Fehler im allerletzten Satz, wo es heißen müßte: "[...] über dessen Ausprägung [...]", egal, ob du das Prinzip oder den Arbeitsprozess meinst, was ja auch nicht ganz klar wird.

Musik (oder so was Ähnliches) gab's zu dem ganzen Worthackepeter auch noch dazu, die ist aber in zwei Sätzen abgehandelt:

fluctuations (around one) von Rainer Kohlberger entgeisterte mit einem halbstündigen Drone, dessen Lautstärke ich nur mit den Worten "scheisselaut" umschreiben kann. Dazu gab es grisselige Bilder, deren fluktuierende (ja, ich hab's kapiert!) Einkerbungen eins zu eins das (spärlich genug gesäte) Geschehen in der Musik doppelten (oder andersrum, ich weiß es wirklich nicht).

Donnerstag, 21. Januar 2016

Kommentar 48 - Wie es dazu kam, dass ich einmal den historischen Hintergrund vergaß (Confessions of a not quite as beautiful mind, as I might've hoped for)

Liebes Blog,

neulich habe ich einen schrecklichen Fehler gemacht. Ich habe den historischen Hintergrund unterschlagen. Naja, nicht aktiv unterschlagen, nur vergessen. Was es nicht besser macht. Eher schlimmer. Wie kann man nur so blöd sein und den historischen Hintergrund nicht beachten? Waren denn die ganzen Geschichtsstunden in der Schule und die Lektüre der vielen historischen Schinken völlig umsonst? Leider kann ich Dir keine zufriedenstellende Erklärung dafür liefern, warum ich den historischen Hintergrund vergessen habe, aber die Frage nach dem "Warum" ist ja sowieso keine gute Frage, wie ich neulich von Richard Feynman gelernt habe. Deshalb kann ich Dir nur erzählen, wie es dazu kam, dass ich den historischen Hintergrund vergessen konnte:

Ich hatte mich nach langer Zeit mal wieder dazu entschlossen, Analysen von aktuellen Stücken der sogenannten Neuen Musik zu schreiben. Das ist eine Arbeit, die oft keinen großen Spaß macht, weil ich mir unheimlich viel Schrott anhören muss. Natürlich steht nirgendwo, dass das Schreiben von Analysen Spaß machen muss, deshalb beklage ich mich auch nicht darüber, ich stelle lediglich fest. Viele Stücke, die ich mir anhöre, laufen einfach so durch, tun nicht weh, begeistern nicht, zünden keinen einzigen Gedanken. Andere Stücke mag ich vielleicht gerne hören, trotzdem erzeugen auch sie nicht das Bedürfnis in mir, etwas darüber zu schreiben. Und dann gibt es da noch die Stücke, die mich nerven. Das sind die ergiebigsten. Weil sie mich dazu bringen, mir selbst erklären zu müssen, warum sie mich nerven. Ich weiß auch nicht, warum ich mir ausgerechnet das Nichtgefallen nicht einfach so gestatte, wahrscheinlich liegt da irgendein auf Erziehung und / oder Genetik beruhender persönlicher Defekt vor. Selbst das Bedürfnis, Analysen zu schreiben, wird ja bei mir davon ausgelöst, dass mich andere Analysen nerven.

In diesem Fall, in dem ich dann am Ende den historischen Hintergrund vergessen habe, war es so, dass mir nach fünfzehn oder zwanzig durchgehörten Stücken ein Gedanke kam, der sich in paradigmatisch vereinfachter Form so liest: "Dieses allgegenwärtige Bedürfnis, Musiker szenische Aktionen ausführen zu lassen, ist doch eigentlich Quatsch." Dieser Gedanke war für mich umso beunruhigender, als dass ich selbst in den letzten Jahren diesem Bedürfnis nachgegeben und mich also quasi mitschuldig an dieser Modeerscheinung gemacht habe. Natürlich bilde ich mir ein, dass ich das in meinen Stücken viel besser gemacht habe als die anderen in ihren Stücken. Ist doch klar, sonst könnte ich ja gleich aufhören. Andererseits hatte ich mir auch nie so richtig darüber Rechenschaft abgelegt, warum das so sein sollte. Also warum denn jetzt die Instrumentalisten zum Beispiel irgendwas mit ihrem Körper machen sollen, für das er gar nicht trainiert ist. (sorry, da sind mir dann doch wieder "Warum"-Fragen reingerutscht). Irgendwie ist der Gedanke, die Inszenierung "Konzert" auszubauen, für mich jedenfalls zu naheliegend gewesen, um ihn als hinterfragungswürdig eingestuft zu haben ich mich befähigt gesehen hätte. Und genau an dieser Stelle habe ich dann auch  den historischen Hintergrund des ganzen Komplexes vergessen.

Ich habe einfach nicht daran gedacht, dass die aktuelle Entwicklung natürlich Vorläufer hat, die letztendlich bis in die Antike reichen, jedenfalls wenn man den Ausführungen von Thrasybulos Georgiades (aah, dieser Name!) in "Musik und Sprache" folgt:
Aus der ursprünglichen Einheit [von Musik und Sprache im Altgriechischen] ist eine Zweiheit geworden; aus der μoυσιχέ sind Dichtung und Musik entstanden. Erst jetzt, erst innerhalb der abendländischen Geschichte ist es möglich geworden, Musik und Sprache streng voneinander zu trennen. Von jetzt ab besteht aber auch, gleichsam als Erinnerung an den gemeinsamen historischen Ursprung, die Sehnsucht der einen nach der anderen, die Neigung, sich gegenseitig zu ergänzen.
 Thrasybulos Georgiades, Musik und Sprache, S. 7
Was Georgiades hier in leicht anthropomorpher Verklärung den beiden Medien Musik und Sprache zuschreibt ("Sehnsucht"; dass er damit im Handstreich die sogenannte absolute Musik mehr oder weniger zum Mangelwesen erklärt, wäre eine lange, ausführliche, gesonderte Darstellung wert), läßt sich leicht auf die Trinität von Szene, Text und Musik erweitern, siehe die vermeintliche Restituierung antiker Vorbilder in der Renaissance-Oper oder Wagners Zeug. Immer schon und immer mal wieder ist dieses Bedürfnis dagewesen, alles wieder zusammenzufassen, was man als ursprünglich zusammengehörig und "künstlich"(?) auseinandergerissen begriffen hat.

Tja, das hätte ich natürlich bedenken müssen. Ich hätte selbstverständlich all die Versuche in der Musikgeschichte präsent haben müssen, zusammenzuführen, was (vielleicht) zusammengehört. Ich hätte klaro die aktuelle Entwicklung in ihrem historischen Kontext verorten müssen, nämlich jenen, nach einer ziemlich langen Phase, in der es vorwiegend um absolut-musikalische Dinge ging (Zwölfton, Serialismus, Spektralismus, Neue Einfachheit, Minimalismus, Komplexismus usw.), endlich wieder den vernachlässigten, inzwischen als außermusikalisch, früher aber als innermusikalisch verstanden zu wissen wollen seienden Ausdrucksformen zu ihrem Recht zu verhelfen, wenn nicht gar zum Eigentlichen zu erklären. Ich hätte logo auch die ganzen gelungenen Beispiele der Musikgeschichte im Hinterkopf haben müssen, und seien es nur diejenigen aus dem letzten Jahrhundert, als da wären zum Beispiel Ekklesiastische Aktion von Zimmermann aus der eher seriösen Ecke und zum Beispiel Pas de Cinq von Kagel aus der eher heiter-absurden Fraktion. Ich hätte gottverflucht nochmal erklären müssen, dass ich das alles im Prinzip gar nicht verkehrt finde, sondern im Gegenteil absolut richtig, und nur die Art und Weise, wie im Augenblick häufig damit hantiert wird, grauenhaft.

Ja, liebes Blog, derart sind meine zahlreichen Verfehlungen. Kaum tröstlich ist daran die Tatsache, dass ich mir selbst damit am meisten geschadet habe. Selbstverständlich werde ich diese Versäumnisse aufzuarbeiten haben, gleich nachdem ich zu Mittag gegessen habe (in Butter angebratene Salzkartoffeln vom Vortag).

Bleibt mir nur noch, mich zu bedanken, bei der Freien und Hansestadt Hamburg für viele weitere Inspirationen, beim Badischen Intellekt für korrektives Wirken und nicht zuletzt bei Google für die Verfügbarmachung von allem.
Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen,
und das Leben den betrübten Herzen [...]?
Well, Feynman, how's that for a why-question?

Dein

Erich S.

Montag, 18. Januar 2016

Kommentar 47 - Schlechtes Schauspiel ist doch auch keine Lösung / Vom Stühlerücken und Technotanzen - Teil 1

Ja, ich bin schwach. Keine Frage. Ich bin - und das sage ich an dieser Stelle in aller Offenheit - auch nur ein Mensch und unterliege wie jeder andere auch gewissen Eitelkeiten und Ängsten. Deshalb dürfte es kaum verwundern, dass ich mich aus reiner Angst, ästhetisch abgehängt zu werden, doch wieder mit dieser ganzen elendigen "Kunst""musik" und solchem Kram beschäftige, mit dem ich schon längst abgeschlossen zu haben glaubte. Widerwillig, immerhin, ich gebe es zu, aber so eine Angst, die kriegt man nicht so einfach weg, da helfen auch White Russians und ItaloPop nicht wirklich (mehr zu diesem Thema demnächst unter "to whom it may concern 2"...). Zumal diese Angst auf beinahe widerliche Weise mit der Eitelkeit gepaart ist, dass es ja doch niemand anders vernünftig macht, wenn ich's nicht mache. Also mach ich's eben. Bitteschön.

Allerdings, und damit ist es der Vorreden dann auch genug, wird es diesmal sehr wenig um Musik gehen, was wiederum nicht meine Schuld ist; es wird einfach kaum noch Musik komponiert, die der Rede wert wäre, sondern entweder irgendein Metazeug mit Videoelektronikmaxmspselbstreferentialitätskram oder eklektisches Neoromantikohneromantikmitavantgardebezügenundlachenmannallusionengewürge. Und obwohl ich weiß, dass ich natürlich nur einen sehr geringen Bruchteil der aktuellen "("("Kunst""musik")""produktion")" überhaupt kenne oder zur Kenntnis nehme, lasse ich diese Ungeheuerlichkeit von einer Aussage so stehen, woran dann wieder die eben erwähnte Eitelkeit Schuld trägt und auch die gar nicht so insgeheime Hoffnung, dass sich bestimmt jemand findet, der sich darüber tierisch aufregt.

Jetzt aber, Schluss mit den Erklärungen und Vorabentschuldigungen, let's get to it.

Als Komponist (nein, das ist jetzt keine Vorrede mehr, das gehört zum Hauptstück) ist man ja heutzutage in einer beklagenswerten Situation. "Einfach" nur Komponist sein reicht nicht, jedenfalls dann, wenn man in irgendeinem vernünftigen Sinn dieses Begriffes "Neue Musik" machen will. Es ist halt nicht genug, ein paar Musiker auf eine Bühne zu setzen und sie irgendwelche Noten von irgendwelchen Blättern abspielen zu lassen. Ich meine, selbst ein Jörg Widmann, der nun vollkommen unverdächtig ist, in irgendeiner Weise dem Neuen Konzeptualismus oder sonst irgendeiner anderen dieser neuen Prenzlberghipsterbewegungen nahezustehen (jedenfalls nicht, dass ich davon wüßte...), baut inzwischen szenische Elemente in seine Instrumentalkonzerte ein. Jedenfalls, und da nehme ich mich keineswegs aus, im Gegenteil, ich nehme mich ausdrücklich mit ein, scheint es so eine Art Gefühl zu geben, Musik an sich reiche nicht mehr aus. Also wird auf den Konzertbühnen gesprochen, geschauspielert, videogedreht, moderiert und fremdreferenziert, was das Zeug hält oder auch nicht hält. Das Problem daran ist, dass Instrumentalisten keine Sprecher oder Schauspieler und Komponisten keine Regisseure, Moderatoren oder Filmemacher sind. Mit anderen Worten: Es wird herumdilettiert, bis der Arzt kommt. Nur, dass kein Arzt kommt. Jedenfalls bis jetzt nicht.

Dass man mich nicht missverstähe: Ich hab gar nichts gegen Dilettanten (ausser, sie werden straffällig, dann aber schnell weg mit ihnen), ich finde auch überhaupt nicht, dass immer alles hochprofessionell sein muss. Diese niemals fehlgreifenden Interpretenmaschinen, die die fünfzigtausendste Einspielung vom Tschaikowski-Klavierkonzert raushauen, die sind ja unerträglich. Aber, ABER: Wenn schon dilettiert werden muss, dann bitteschön richtig. Nicht dilettantisch dilettieren, sondern professionell dilettieren, sozusagen.

Na gut, ich kann verstehen, dass diese Forderung, oder sagen wir: Anregung absurd wirken könnte, wenn sie nicht sogar in dieser Form möglicherweise ganz und gar unverständlich sein sollte. Deshalb, wie es gute Sitte ist in meinem sogenannten Blog: konkrete Darstellung an einem konkreten Beispiel. Ach was, lass uns gleich zwei konkrete Beispiele nehmen. Sind beide super, um verschiedene Aspekte an meinem Punkt zu demonstrieren. Ausserdem kriegt so jeder sein Fett weg und keiner kann sich bevorzugt fühlen.

1 Neele Hülcker: "kramen" - Installation für 4 Performer

Ja, hier gibt's jetzt richtige Überschriften, ich bin begeistert. Neele Hülcker ist eine dieser jungen, feschen Komponistinnen (darf man das sagen? wahrscheinlich nicht, keine Ahnung, ich mein es auch gar nicht gendermäßig, sondern rein kompositorisch), die zur Zeit wohl irgendwie "Furore" machen, oder so. Zumindest hatte ich den Eindruck. Und mein Eindruck beruht ausschließlich auf einer eher kursorischen Youtube- bzw. Google-Suche (was ja irgendwie doch dasselbe ist, sozusagen fast ein Hendiadyoin, wenn man sagt: "Youtube und Google"). Neele Hülcker ist ganze zehn Jahre jünger als ich, also gerade mal Ende zwanzig, und ich glaube, ich tue ihr nicht unrecht, wenn ich sage, dass sie einer der vielgepriesenen und -beschworenen und herbeigebeteten digital natives ist, im Übrigen auch einer dieser häßlichen Begriffe aus der idiotischen und staubtrockenen Nerdkultur, der zudem auch noch leicht rassistische Anklänge hat, denn bis jetzt wurden ja noch alle natives ausgerottet, versklavt und / oder unterdrückt. Ich bin jedenfalls wohl keiner mehr bzw. noch keiner, ich hab Mühe, mich an ein Telefon mit Drucktasten zu gewöhnen und nicht beim Abnehmen gleich "Vermittlung?" in den Hörer zu rufen. Aber im Grunde ist das auch völlig belanglos, denn ich will ja nicht Neele Hülcker besprechen, sondern ihr Stück. Irgendwie hänge ich dieser altmodischen Vorstellung an, dass ein Stück für sich selbst stehen und nicht von der Biographie seines Autors abhängig sein sollte. Deshalb, dieser Beisatz sei mir dann doch noch erlaubt, ehe es wirklich und tatsächlich losgeht, deshalb also nervt mich zum Beispiel der ganze Helmut - Oehring - Komplex tendenziell etwas, weil ich immer denke: Wie würde ich die Musik finden, wenn ich seine Biographie nicht ständig im Hinterkopf hätte? Also, Schluß jetzt damit, ich hab mich mit Neele Hülckers Biographie nicht beschäftigt, interessiert mich auch nicht. Ich glaube, das ist in ihrem Sinne, auf ihrer Webseite steht ja auch nur, wann sie geboren wurde und wo sie jetzt lebt. Und selbst auf diese Infos hätte ich noch verzichten können, wer lebt denn heutzutage nicht in Berlin? Wahrscheinlich nur noch ich.

"Kramen" also. Cooler Titel, wie immer. Ohne coolen Titel läuft gar nix. Coole Titel haben die "...fragment...wie ich einmal von mir selbst ergriffen war..."-pseudopoetischen Hochromantiktitel des späten 20. Jahrhunderts abgelöst. Ist ja auch richtig so, jede Zeit braucht ihre Titelmoden. Und es wäre keine Mode, wenn nicht jeder mitmachen würde. Mach ich ja auch.

Bei Neele Hülcker wird grundsätzlich viel gekramt, scheint so ihr Topos zu sein. Leute setzen sich an einen Tisch und hantieren mit irgendwelchen sogenannten Alltagsgegenständen herum, ach nee, das heißt ja jetzt: found items, so z.B. auch bei "Mitarbeit", "Live Electronic Music", "Bauvorhaben", "Sidekick" usw. usf. Auch bei "kramen" wird also gekramt. Denke ich zumindest. Und wird es auch. Es ist auch kein Musikstück, sondern eine Installation. Denkt Neele Hülcker zumindest. Ist es aber nicht. Es ist eine astreine Theaterszene, ich denke da in Richtung Ionescu oder auch Beckett, irgendwie absurd halt. Dargeboten von Dilettanten. Eben nicht musikalischen, sondern schauspielernden. Das ist teilweise schwer erträglich. Weil es nicht, wie wohl angedacht, irgendwie merkwürdig oder absurd, sondern einfach nur unbeholfen und hölzern wirkt. Einen Gefallen hat Neele Hülcker dem Stück damit jedenfalls nicht getan. Ich mag gar nicht das ganze Stück auseinandernehmen, vielleicht ein anderes Mal (naja, wohl eher nicht). Für diesmal will ich die Aufmerksamkeit des allerwertesten Lesers nur auf einige ausgesuchte Momente lenken.

Vier Leute (Streichquartett?) sitzen an vier Cafétischen, adrett bestückt mit Kunst(?)blume in Vase, Zuckerstreuer etc. Im Hintergrund läuft irgendein Soundtrack, dessen Aufbau entlang, Zweck für und Verbindung mit der Szene ich nicht kapiert hab. Klingt nach geschredderten Neue-Musik-Fragmenten, irgendwelchen aufgenommenen Alltagsgeräuschen, Entschuldigung: field recordings, und was weiß ich noch. Vielleicht ist auch die Qualität im Video nicht ausreichend, um das alles zu beurteilen. Also lass ich es bei der Feststellung, dass das alles für mich ziemlich beliebig klingt und sofort in mein Unbewußtsein bzw. in den großen Bereich der Nichtaufmerksamkeit hineinverläppert.

Zu Anfang werden erstmal die Gesten vorgestellt (Exposition!), die im Laufe des Stücks vorkommen. Als da wären: Trinken, Umdrehen, Haare aus der Stirn streichen, Stühle rücken (Ionescu!). Alles mit erzbitterem Ernst vorgetragen. Verstehe ich schonmal nicht. Warum dieser Ernst? So hockt ja keiner im Café. Nicht, dass ich einer dieser idiotischen Realismusverfechter wäre, die bei irgendwelchen Fernsehkrimis rumjammern, dass sie die Polizeiarbeit nicht realistisch darstellten. Nein, darum geht's nicht. Es ist vielmehr so, dass sich bei mir sofort der Gedanke festsetzt: Die können gar nix anderes. Wenn man keine schauspielerischen Möglichkeiten hat, dann macht man eben ein ernstes Gesicht und verzieht es möglichst nicht. Derart auf die Limitierungen der Ausführenden aufmerksam gemacht, kann ich nicht anders, als nur noch darauf zu achten, was selbstredend dazu führt, dass ich nur noch Unzulänglichkeiten finde. Beim HaareausderStirnStreichen zum Beispiel (0'22'' z.B. und später in Häufung ab 9'22''): Die Bewegungen sind zu langsam und betont, um als "natürlich" durchzugehen. Und nicht, wie soll ich sagen, mit ausreichend Haltung ausgeführt, dass man uneingeschränkt sagen könnte: "Das ist eine stilisierte Bewegung." Also hängen sie so in einem gestischen Niemandsland herum und wirken letztendlich, wie schon gesagt, unbeholfen. Ähnliches gilt für's Stühlerücken (0'26'' und im weiteren Verlauf z.B. bei 3'39'' oder 9'30''): So rückt man seinen Stuhl nicht zurecht. Man schaut nicht runter, wohin man ihn rückt. Man rückt ihn beinahe nie seitwärts, außer man macht Platz an einem bereits engbesetzten Tisch, was hier aber nicht der Fall ist. Andererseits bietet diese Aktion auch kein Stilisierungspotential. Das Rücken ist nicht irgendwie angemerkwürdigt, so dass man denken könnte: "Aha, seltsam, dieses Rücken, es bekommt jetzt eine poetische Kraft, die ich ihm nie zugetraut hätte." Nein, es wird mit diesem heiligen Ernst, der ja auch keine Haltung, sondern bloß ein Notbehelf ist, gemacht und wirkt irgendwie schlampig, ohne absichtsvoll schlampig zu wirken, was ja auch eine Qualität wäre, sondern ungekonnt schlampig, was garantiert keine Qualität, sondern bloß ärgerlich ist. Auch nicht besser: Wasser aus'm Glas trinken (gleich zu Beginn oder auch später bei 3'25''). Wer zum Teufel fixiert sein Glas mit dem Blick auf diese Weise, bevor er es in die Hand nimmt? Warum wird das Trinken beim ersten Mal so gewollt bedeutungsvoll inszeniert (Bedächtigkeit der Bewegungen)? Noch schlimmer und also am schlimmsten allerdings finde ich die Kopf-auf-Hand-stütz-und-in-die-Ferne-schau-Geste (3'31''). Da kriecht bei mir dann schon so eine leichte Fremdschamanwandlung die Speiseröhre hoch. Laientheater in seiner ganzen Pracht.

Ach, aber da ist ja noch das "Kramen". Bis jetzt hatten die Gesten irgendwie mit dem Thema "Café" zu tun. Das Kramen fällt da raus, jedenfalls ist es nicht unbedingt eine übliche Tätigkeit an einem Cafétisch, den gesamten Inhalt seiner Tasche auf den Tisch zu räumen. Später wird das Zeug noch auf dem Tisch umarrangiert. Zwischendurch wird Papier geknüllt, glattgestrichen, wieder geknüllt, wieder glattgestrichen. Und zu guter Letzt wird alles wieder in die Tasche gepackt (leider bricht das Video mitten im Einräumprozess ab). Es ist interessant zu beobachten, wie falsch man so eine einfache Sache wie etwas aus einer Tasche zu holen und auf den Tisch zu legen machen kann, wenn man es spielt. Denn es wird gespielt. Es ist keine Tätigkeit, die man unbeobachtet und für einen konkreten Zweck in einem tatsächlichen Café macht. Man fühlt sich beobachtet (bei 7'48'' schaut der Möller ja sogar in die Kamera), das Rausräumen hat keinen Zweck, außer, dass es wohl in irgendeiner Form verabredet ist und prompt geht einem der Bewegungsablauf gar nicht mehr so natürlich vom Körper. Es sind Kleinigkeiten wie sekundenbruchteillanges Zögern beim Abstellen von Gegenständen, die man im natürlichen (ich schreib' immer "natürlichen", als hätte der Mensch so eine Art wildes Habitat, aus dem man ihn rausgerissen und in eine absolut künstliche Umgebung hineinverfrachtet hätte, was irgendwie ja auch ungefähr stimmt, mit dem Unterschied, dass man nicht aus der Wildnis, sondern aus einem sozusagen alltäglichen Kulturumfeld in ein nichtalltägliches Kulturumfeld gesetzt wird, womöglich noch aus freiem Willen), jetzt hab ich den Satzanfang vergessen, ach so: Kleinigkeiten wie sekundbruchteillanges Zögern beim Abstellen von Gegenständen, die man im natürlichen (siehe Ausführung in der vorigen Klammer) Umfeld nicht erwarten würde. Da wäre es ja so: Bei dieser Menge an Gegenständen, die ich aus meiner Tasche aus irgendeinem Grund (ich suche etwas?) auf den Tisch befördern wollte, würde ich wohl früher oder später einfach die Tasche auskippen. Niemals würde ich so einen Haufen disparate Gegenstände sorgfältig nebeneinander auf dem Tisch aufbauen, jedenfalls will mir kein Grund dafür einfallen. Und das ist auch der Grund, warum die "Performer" immer wieder ganz kurz, kaum merklich zögern. Es muss ja ein Platz für den nächsten Gegenstand gesucht werden. Na und, wo ist jetzt das Problem? Das Problem ist ganz einfach folgendes: Die ganze Aktion soll irgendwie natürlich (siehe Ausführungen in der Klammer oben) wirken, ist aber gleichzeitig von der Anlage her schon vollkommen unnatürlich (siehe Ausführungen in der obigen Klammer). Diese Differenz kann man natürlich (nicht in Bezug zu den Ausführungen in der obigen Klammer) aufmachen, aber man muss sie bewußt aufmachen. Die "Performer" im Video dagegen versuchen, die Aktion natürlich aussehen zu lassen, was gar nicht geht, weil es gar keine natürliche Aktion ist. Bzw. könnte man immerhin versuchen, es wie eine natürliche Aktion aussehen zu lassen, müßte dafür aber gut schauspielern können.

Jetzt könnte man mir ja vorhalten, dass ich mit all dem gar nichts über das Stück und beinahe alles über die Leistungen der Interpreten gesagt hätte. Könnte man meinen, stimmt aber nicht. Denn das Nichtfunktionieren des Stückes, jedenfalls sehe ich das so, beruht gar nicht so sehr auf den Unzulänglichkeiten der Ausführung, sondern beides hauptsächlich auf einer, nein, sogar mehreren Fehleinschätzungen der Komponistin. Diese betreffen die a) formale Anlage des Stückes, b) die sozusagen Instrumentation des Stückes und c) den Schwierigkeitsgrad der Ausführung. Wie immer im richtigen Leben hängen alle drei Punkte eng verzwirbelt ineinander und eines bedingt das andere. Und damit muss ich natürlich doch das Stück auseinandernehmen.

a) Da ja, wie schon ausgeführt, die "Musik", also das Zuspiel, gar keine Rolle spielt, ist man als Zuschauer ausschließlich auf die Bewegungen der Interpreten verwiesen. Mit anderen Worten: Man interpretiert das Geschehen auf der Bühne als Szene. Das geht nicht anders. Ich weiß nicht, warum Neele Hülcker das Ganze "Installation" nennt, vielleicht, weil es in einem tatsächlichen Café aufgeführt wird, vielleicht, weil es stundenlang im Loop aufgeführt wurde (was ich auch nicht weiß, weil es dazu keine Angaben gibt), vielleicht aber auch einfach nur, weil es cooler klingt als "Szene für 4 Schauspieler". Als Installation allerdings ist es mir nicht statisch genug bzw. auch einfach zu kurz (selbst unter der Voraussetzung, dass es mehrmals hintereinander aufgeführt wurde), während es als Szene zu einförmig und -tönig bzw. zu lang ist. Das ganze Ding, wie auch immer man es jetzt nennen will, hat im Grunde eine ziemlich klassische musikalische Form, mit Exposition, Durchführung und Reprise. Beinahe möchte ich hier als Vorlage die Große Fuge anführen (Themenbruchstücke zu Beginn, fugales "Kramen" in den Themen, einpacken), wenn der Vergleich nicht gar zu viel Gefälle hätte. Denn wirklich "gearbeitet" wird mit den Themen in "kramen" nicht. Sie werden halt immer neu kombiniert, bleiben ansonsten aber weitgehend unverändert. Ein Haarewischen sieht in Minute 9 genauso aus wie in Minute 1. Da tut sich nix. Nach ca. Minute 2 kommt dann gar nichts Neues mehr, wenn man mal vom freeze ab 7'55'' ca. absieht (2/3-Regel!). Das führt dazu, dass zwar eine Entwicklungsform abgefahren wird, die aber ohne wirkliche Entwicklung auskommen muss. Also eiert alles so leicht unmotiviert vor sich hin. Da bringt es auch nichts, dass das Kramen im Verlauf des Stückes hektischer wird. Zumal die Hektik nicht gerade die schauspielerische Leistung befördert. Oder andersrum die schauspielerische Leistung nicht gerade den Eindruck befördert, die Hektik sei irgendwie notwendig oder am Platze.

b) Die Instrumentation des Stückes mit vier "Performern" ist auch so ein kompositorisch nicht gelöstes Problem. Oben meinte ich ja noch Streichquartett, aber es ist dann wohl doch eher so etwas wie ein Stück für vier Geigen. Alle vier bieten ungefähr die gleiche Klangfarbe an. Also: dieselben Gesten, in derselben Intensität, mit demselben Gesichtsausdruck. Keiner muckt mal auf, steht auf (Toilettengang!), kriecht unter den Tisch, schreit rum oder macht sonstetwas, das man eine abweichende Klangfarbe nennen könnte. Das ist zu einem Teil natürlich auch den formalen Problemen geschuldet, es gibt keinen wirklichen Kontrapunkt oder irgendein "zweites Thema". Das Kramen ist jedenfalls keines, dafür ist seine Andersartigkeit doch etwas zu, sagen wir mal, subtil. Damit gibt es auch keine Notwendigkeit, ein anderes Motiv mit einer anderen Klangfarbe herauszuinstrumentieren. Dann hätte man ja aber wenigstens die immergleichen Elemente uminstrumentieren können. Dazu aber hätte man fähigere Interpreten einplanen müssen. Da beißt die Katze keinen Schwanz ab.

c) Das Stück bietet einen zu hohen Schwierigkeitsgrad für Laienschauspieler. Mit Requisiten  hantieren, ins Leere schauen, genau abgezirkelte Bewegungen immer wieder ausführen und alle diese Dinge, das ist schwierig. Das sieht ja oft genug auf der Theaterbühne schon doof aus, nach sechs Wochen Proben, mit Leuten, die das alles jahrelang studiert haben. Woher die Gewissheit oder Idee kommt, dass das mit Nichtschauspielern irgendwie einfacher oder besser oder irgendwie 21.-Jahrhundert-mäßiger sein soll, weiß ich nicht. Und wenn ich hier darauf beharre, dass Schauspieler vielleicht die bessere Lösung gewesen wären, so geschieht dies immer mit dem unausgesprochenen Attribut "gute". So wie man für die Aufführung irgendeines stinknormalen Musikstückes ja auch viel lieber "gute" Instrumentalisten hat als mittelmäßige oder gar unfähige. "kramen" bietet keinerlei Anhaltspunkte für die implizit aufgestellte Behauptung, es müsse unbedingt von ungeübten Laiendarstellern aufgeführt werden.

Alles in allem läuft es darauf hinaus, dass das eigene Konzept nicht konsequent durch- und zuendegedacht wurde. Wenn man eine Szene in einer musikalischen Form organisieren will, warum sind dann grundlegende musikalische Techniken wie Transposition, Augmentation / Diminution, Klangfarbenänderung, Modulation etc. nicht berücksichtigt? Das wäre doch mal ein interessantes Konzept gewesen, gestische bzw. szenische Lösungen für diese Dinge zu finden. Aber klar, mit Instrumentalisten, die Schauspieler darstellen, die irgendwas darstellen, kann man keine großen Sprünge machen. Mein tieferliegender Verdacht ist aber, wie auch bei vielen anderen Stücken, dass es gar kein kompositorisches Problem zu lösen gab und nur eine Idee durchgehauen wurde. Das ist mir dann aber für "Kunst""musik" im allerweitesten Sinne doch irgendwie zu wenig. Am schlimmsten aber fand ich, dass das Ganze noch nicht mal lustig war.

2 Ole Hübner: "fuck bass fuck bass" für Ensemble mit Solo-Sopranblockflöte, live-Elektronik, Audio- und Videozuspiel und Stroboskop

Wunderbar, diese Zwischenüberschriften. Ich merke allerdings gerade, dass der Text doch arg lang wird, deshalb gibt's dieses Stück und den mit Dressing vermengten Gesamtsalat in Form einer allgemeineren Abschlusserklärung nächste Woche in einem zweiten Teil.

Donnerstag, 3. Dezember 2015

Kommentar 46 (5.1.6) - Deutschland wird im Spätbarock verteidigt / Was ich neulich mal dachte 7 / Was ich daraufhin gemacht habe 1

Neulich dachte ich mal, dass man doch eigentlich nichts weiter als die Goldbergvariationen bräuchte. Ist doch wunderbar. Ist doch alles da. Kann gar nicht verstehen, dass sich irgendjemand danach die Mühe gemacht hat, überhaupt nochmal was Neues zu komponieren.

Und weil ich also fest daran glaube, dass man nichts außer den Goldbergvariationen braucht, habe ich beschlossen, um für den absoluten Notfall gerüstet zu sein (totaler Stromausfall, Internet lahmgelegt, Installation eines Gottesstaates mit totalem Musikverbot, Installation eines Besorgte-Bürger-Und-Schweigende-Mehrheit-Staates mit totalem Bücherverbot usw.), die Goldbergvariationen auswendig zu lernen. Quasi als Dr. B. der Musik. Die Arbeit geht auch gut voran, die ersten drei Nummern habe ich schon intus. Die Bassfiguren in der Nummer 4 (also Variation 3 / canone all'unisono) machen grade etwas Schwierigkeiten, die scheinen manchmal willkürlich, was aber natürlich nur daran liegt, dass ich ihre Sinnhaftigkeit noch nicht richtig kapiert hab. Ansonsten bin ich nach wie vor ziemlich begeistert von meinem Vorhaben und möchte behaupten, dass damit ein aktiver und nicht gerade geringer Beitrag zur Verteidung der abendländischen Werte oder doch wenigstens zu ihrer Rettung über eine eventuell bevorstehende Durststrecke geleistet ist. Nur darf halt erst in zwei oder drei Monaten etwas passieren. So lange brauche ich wohl noch.
Deutschland, halte durch!

Donnerstag, 19. November 2015

Kommentar 45 - Kleiner Katechismus des Zweifels (Von der Notwendigkeit einer Utopie)

Was ist der Zweifel?

Der Zweifel ist die Methode des Denkens oder Sprechens, eine Frage nicht mit einer Aussage, sondern mit einer Gegenfrage zu beantworten, das heißt also: eine Frage nicht zu beantworten, sondern die Frage zu befragen. Der Zweifel ist also eine Art und Weise, das Gespräch in Gang zu halten. Wer zweifelt, redet. Reden heißt auch denken. Also denkt, wer zweifelt.

Wie zweifle ich richtig?

Weil der Zweifel nur eine Methode oder Art und Weise des Denkens oder Sprechens darstellt, ist er erlernbar. Um den Zweifel zu erlernen, muss man ihn einüben. Das Einüben des Zweifelns besteht darin, eine Frage nicht zu beantworten, sondern ihrerseits zu befragen. Eine Frage kann auf verschiedene Weise befragt werden: Eine Frage kann auf ihre expliziten oder impliziten Prämissen hin befragt werden (Welche Prämissen liegen der Frage zugrunde und sind die zugrundeliegenden Prämissen richtig?). Eine Frage kann auf ihre explizite oder implizite Richtung hin befragt werden (Zielt die Frage schon auf eine bestimmte Antwort ab? Ist die Frage also überhaupt eine Frage, oder doch nur eine als rhetorische Frage verkleidete Aussage?). Eine Frage kann auf ihre Sinnhaltigkeit befragt werden (Ist es sinnvoll, diese Frage so oder überhaupt zu stellen?).

Was ist das Ziel des Zweifels?

Insofern der Zweifel aus dem Erwidern einer Frage mit einer Gegenfrage und damit auch aus dem Erwidern der Gegenfrage mit einer weiteren Gegenfrage besteht, gibt es kein Ziel des Zweifels in Form einer anzustrebenden Antwort. Ziel des Zweifels ist es lediglich, das Gespräch und damit das Denken in Gang zu halten. Der Zweifel, verstanden als Gegenfrage, produziert höchstens vorläufige Antworten, indem er seinerseits Prämissen zur Voraussetzung hat, eine Richtung anzeigt und seine eigene Sinnhaftigkeit behauptet. Damit wird der Zweifel als Akt der Gegenfrage selbst zum Gegenstand des Zweifels.

Gibt es unbezweifelbare Tatsachen, also Fragen, die ein für alle Mal beantwortet werden müssen?

Nein. Alle Fragen sind immer dem Zweifel zugänglich. Weil der Zweifel Prämissen, Richtungen und Sinn sichtbar zu machen versucht, leistet er Erkenntnisarbeit in dem Sinne, dass er die Konstruktion von sogenannten letztgültigen Wahrheiten als prinzipiell unabschließbar offenlegt. Der Zweifel behauptet nicht, dass es keine letztgültigen Wahrheiten gibt, der Zweifel hält lediglich das Gespräch und das Denken darüber in Gang.

Aber was ist zum Beispiel mit Werten, die wir für universell halten, also Menschenrechten, Schutz des Lebens usw.? Sind diese Tatsachen nicht vom Zweifel ausgenommen?

Der Zweifel zwingt dazu, Begründungen für Fragen zu liefern, indem er Prämissen, Richtung und Sinn einer Frage offenlegt. Deshalb ist der Zweifel auch kein Mittel der Dekonstruktion. Der Zweifel ist konstruktiv, indem er Schwächen der bisherigen Konstruktion offenlegt und darauf beharrt, die Konstruktion zu verbessern. Wenn man bestimmte Fragen dem Zweifel entziehen will, entzieht man diese Fragen dem Denken und Sprechen darüber. Damit schwächt man aber letztendlich diese Fragen, indem man ihnen die Möglichkeit zur Begründung verweigert. Fragen, die vom Zweifel ausgenommen werden, produzieren Ideologien. Eine Ideologie ist die Antwort auf eine Frage, die nicht bezweifelt wurde.

Ist dann der Zweifel nicht selbst eine Ideologie?

Nein. Der Zweifel ist keine metaphysische Tatsache im Sinne einer Antwort auf eine unbezweifelte Frage, er ist nur eine Methode des Denkens und Sprechens. Er ist selbst dem Zweifel zugänglich.

Führt der Zweifel dann nicht in einen bodenlosen Relativismus?

Nein. Der Zweifel bietet keine Grundlage für ein anything goes. Dem Zweifel liegt vielmehr ein nothing goes zugrunde. Dem Zweifel muss jede vorläufige Erkenntnis abgerungen werden. Der Zweifel als Denkwerkzeug produziert auch keine Beliebigkeiten, da Beliebigkeiten nicht begründbar sind, der Zweifel aber immer nach der Begründbarkeit fragt. Der Zweifel verhandelt auch nicht über Dinge oder macht Dinge verhandelbar, er fragt nach Begründungen für Fragen.

Verdammt der Zweifel nicht zur Handlungsunfähigkeit?

Handlungen sind keine Fragen, sondern Antworten auf Fragen, deshalb befasst sich der Zweifel nicht mit Handlungen. Der Zweifel befasst sich mit der Frage, deren Antwort die Handlung ist. Insofern die Frage, deren Antwort die Handlung ist, nicht immer explizit gestellt wird und zeitlich eng an diese geknüpft ist, sieht es so aus, als könne sich der Zweifel mit der Handlung selbst befassen. Eine Handlung kann aber nicht bezweifelt werden, sie ist einfach da. Sobald die Handlung da ist, kommt der Zweifel zu spät. Wenn es dem Zweifel gelingt, die Frage vor der Handlung mit einer Gegenfrage zu belegen und damit also das Gespräch in Gang zu halten, verzögert der Zweifel die Handlung als Antwort auf die Frage. Dieser Fall spielt im Alltag aber keine Rolle. Der Alltag besteht aus Handlungen, die als Antworten auf nicht expliziert formulierte Fragen diesen auf dem Fuss folgen. Deshalb ist der Zweifel oder die vermehrte Anwendung des Zweifels als Methode ein utopisches Projekt.

Dann ist der Zweifler dem Nichtzweifler aber doch hilflos ausgeliefert und letztlich nur Spielball der Handlungen des Nichtzweiflers?

Der Zweifel ist keine Haltung, er ist nur eine Methode des Denkens und In-Gang-Haltens eines Gespräches. Deshalb ist auch kein Mensch ausschließlich ein Zweifler oder Nichtzweifler. Da der Alltag, verstanden als Lebenswirklichkeit des Menschen, beinahe ausschließlich aus Handlungen besteht, spielt der Zweifel für den Alltag keine Rolle. Eine Handlung setzt einen Automatismus von Gegenhandlungen in Gang. In diesem Automatismus hat der Zweifel keinen Platz. Wenn der Automatismus aus Handlungen angelaufen ist, kommt der Zweifel bereits zu spät. Die Vermehrung des Zweifels aber als utopisches Projekt ist darauf aus, zwischen Frage und Antwort zu gelangen. Ziel des utopischen Projektes der Vermehrung des Zweifels muss es sein, zwischen immer mehr Fragen und ihre Antworten in Form von Handlungen zu gelangen. Der Zweifel muss missioniert werden. Dieses Ziel ist bezweifelbar. Der Zweifel an diesem Ziel ist aber schon der erste Schritt auf dieses Ziel zu.

Warum gibt es überhaupt so wenig Zweifel?

Der Zweifel erfordert die Möglichkeit, eine Frage im Raum stehen zu lassen, ohne sie sofort zu beantworten oder beantworten zu müssen. Nur im handlungsfreien Raum kann der Zweifel sich entfalten. Dieser Raum besteht im Alltag nicht, wo Handlung nahtlos auf Handlung folgt. Die Automatismen des Handelns, also: des Beantwortens von Fragen, kennen keinen Raum des Zweifels. Weil der Zweifel Handlungen nicht betrifft, dient die Reihung von Handlungen, also Antworten, auch der Ausübung von Macht. Macht wird durch die enge Reihung von Handlungen, also Antworten,  ausgeübt, zwischen die der Zweifel nicht gelangen kann. Ziel der Ausübung von Macht ist es, den Zweifel weiter zu verdrängen und letztendlich auszuschalten. Deshalb dient das utopische Projekt der Vermehrung des Zweifels auch der Freiheit.

Ach komm schon, ist das wirklich dein Ernst?

Der Zweifel als Methode des Denkens und Sprechens ist kein Allheilmittel. Er ist überhaupt kein Heilmittel. Er ist nur eine Methode. Die Anwendung der Methode des Zweifels zeitigt aber gewisse Folgen. Ohne Zweifel kein Sprechen und Denken. Ohne Zweifel keine Wissenschaft. Ohne Zweifel keine Kunst. Ohne Zweifel keine Demokratie, keine Menschenrechte, keine Rechtsstaatlichkeit. Während diese Dinge wie Antworten aussehen, müssen sie doch als Fragen und Gegenfragen im Prozeß der Anwendung der Methode des Zweifels verstanden werden.

Oh je, jetzt wird's aber doch sehr pathetisch...

Versteht man diese Konzepte als Antworten, also als metaphysische Dinge, die in irgendeinem Sinne da sind und also gefunden (entdeckt) werden können, dann sind diese Antworten naiv und damit pathetisch. Versteht man aber diese Konzepte als Fragen und Gegenfragen im Prozeß des Zweifelns, dann bekommen sie einen rein pragmatischen Sinn, weil der Zweifel dazu zwingt, Begründungen für diese Konzepte zu liefern. Das ist das Gegenteil von naivem Pathos.

Ich weiß nicht, irgendwie finde ich diese Art von abstraktem, sophistischem Gelaber ziemlich doof. Hilft doch keinem weiter, schon gar nicht in der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Situation.

Der Begriff "weiterhelfen" ist nicht klar definiert. In welchem Sinne soll wem überhaupt weitergeholfen werden? Wohin soll ihm weitergeholfen werden? Was soll das Ziel des Weiterhelfens sein? Worin besteht die aktuelle gesellschaftliche und politische Situation genau? Gibt es überhaupt soetwas wie "eine" Situation, oder sind es mehrere, wenn auch vielleicht miteinander verknüpfte Situationen, also mehrere Fragen und nicht nur eine? Ruft diese Aussage in dieser Form nicht einfach nur nach Handlungen? Impliziert die Formulierung nicht, dass es einer ganz bestimmten Art von Handlungen bedarf, um "weiterzuhelfen"? Ist die Forderung nach schnellen Antworten, also Handlungen, immer und auf allen Seiten ein Teil des Problems? Wird mit solchen Aussagen die zivilisatorische Wirkung des Zweifels zu unrecht verkleinert?

Naja, letztlich ist das natürlich doch eine äußerst bequeme Position, über die man leicht im kuschelig beheizten Wohnzimmer parlieren kann. Währenddessen werden draußen in der Welt in wahnsinniger Geschwindigkeit Fakten geschaffen, ziemlich beunruhigende Fakten.


Wenn wir das Gespräch und damit das Denken einstellen, weil es angeblich einfach nur bequem ist und keinem "weiterhilft", dann bleibt nichts anderes übrig, als in den Automatismus der Handlungen einzusteigen, mit allen Konsequenzen. Ansonsten ist es nicht meine Schuld und auch nicht mein Verdienst, dass ich in einem kuschelig beheizten Wohnzimmer sitze.

Du hast wohl auf alles eine Antwort?

Ja.

Donnerstag, 12. November 2015

Kommentar 44 - Radikaler Objektivismus (Kleinstgeistigkeit)

Fehler in:

Markus Gabriel: Ich ist nicht Gehirn. Ullstein, 2015

-S. 46: "Meine positive Hauptthese beläuft sich darauf, dass es sich bei diesen Begriffen um Elemente eines Bildes handelt, dass sich der menschliche Geist von sich selbst macht." Es muss aber heißen: "[...] dass es sich bei diesen Begriffen um Elemente eines Bildes handelt, das sich der menschliche Geist von sich selbst macht."

- S. 213: "Frauen wären dann auf ihr artspezifisches Gehirn festgelegt. Das dem so ist, brauche ich hier wohl nicht weiter auszuführen." Es muss aber heißen: "Dass dem so ist [...]".

- S. 258: "Er [Richard Dawkins] meint, das dasjenige, was den Egoismus antreibt, nicht das Individuum sei (also nicht Ich oder Sie), sondern ein bestimmtes Gen, das wir repräsentieren." Es muss aber heißen: "[...], dass dasjenige, was den Egoismus antreibt [...]".

- S. 294: "Wir würden normalerweise sagen, Romeo sei frei gewesen, dies zu tun - es sei denn, wir erführen, dass er unter dem Einfluss einer Droge steht, die seine Freiheit einschränkt oder Ähnliches Hier sind einige Bedingungen dafür, dass wir dieses Ereignis als Ausdruck von Freiheit einstufen." Es muss aber heißen: "[...] oder Ähnliches. Hier sind einige Bedingungen dafür [...]".

Alles andere ist korrekt.

Kommentar 43 - Radikaler Subjektivismus (Selbstüberredung)

Ich mochte den Artikel von Frank Hilberg über die Donaueschinger Musiktage "Das Festival als Kindergeburtstag" in den Musiktexten 147 [November 2015].

Sonntag, 25. Oktober 2015

Kommentar 42 - Komponieren ohne Sauerstoff

Ich werde mal nicht so tun, als gäbe es für mein einjähriges Verstummen irgendeine vernünftige Erklärung. Gibt's nicht. Im Grunde war mir von einem Tag auf den anderen ganz fürchterlich langweilig, mit diesen ganzen nutzlosen Diskussionen um die Neue Musik, den ganzen nutzlosen "Kunst"-"Philosophien", der ganzen nutzlosen "Blogosphäre" (überhaupt, was für'n hässlicher Name) und eigentlich und ganz hauptsächlich vor allem mit mir selbst und dem ewigen Weitergemache, das ja letztendlich nur darauf hinauslief, alles mögliche scheiße zu finden, was wiederum nicht weiter schwer ist, weil es einfach viel zu viel gibt, was einfach auch scheiße ist. Man kann das dann selbstverständlich "Langen Atem" nennen, wenn man auf Teufel komm raus weitermacht, obwohl es nichts gibt, womit man weitermachen sollte, aber diese Art von faulig riechendem, wenn auch langem Atem fand ich dann doch irgendwie eklig.

Die Frage war irgendwann, ob ich wirklich nur noch aufschreiben wollte, was ich scheiße finde (was, wie gesagt, nicht schwer wäre, weil es einfach, das kann ich gar nicht genug betonen, viel zu viel gibt, was total scheiße ist), oder ob ich mich nicht doch lieber mit Dingen beschäftigen will, die mir vielleicht bessere Laune machen. Und das wollte ich. Und damit hab ich natürlich doch erklärt und hinrationalisiert, warum ich ein Jahr lang nichts geschrieben habe, und mir gleich mal selbst widersprochen, aber mir hat sich sowieso noch nie erschlossen, was eigentlich genau daran verkehrt sein soll, sich von Zeit zu Zeit und auf engstem Raum selbst zu widersprechen, weil sich selbst zu widersprechen ja doch eine schöne, intime und besonders belebende Form des fortdauernden inneren Dialogs ist.

Jedenfalls habe ich tatsächlich und umgehend damit angefangen, mich mit schönen Dingen zu beschäftigen und mich also (neben der Zerstörung von mehr oder weniger wackligen Bauwerken grüner Schweine mit diversen Vögeln) mit dem Bergsteigen befaßt. Also nicht mit dem Bergsteigen als Sport - der höchste Berg, auf den ich eigenfüßig gestiegen bin, dürfte so um die 700 Meter hoch gewesen sein - nein, mit dem Bergsteigen als Phänomen. Das heißt: Ich habe in der Zeit, die meine Angry-Birds-Leben zum Aufladen benötigt haben, erstmal einen Haufen Videos geschaut.

Ganz neu war mir das alles nicht, schon als Kind war eine meiner Lieblingsgeschichten im "Grossen Buch der Entdecker" neben jener von Amundsen und Scott die von der Erstbesteigung des Mount Everest. Inzwischen ist wohl relativ klar oder gilt zumindest als sehr wahrscheinlich oder sagen wir so: es wäre cool, glauben zu dürfen, dass nicht Hillary und Norgay die Ersten auf'm Gipfel waren, sondern Mallory und Irvine. Nützt denen aber nichts, weil es ja nur zählt, wenn man es wieder runterschafft, um allen davon zu erzählen. Und runtergeschafft haben sie's halt nicht. Und trotzdem oder auch gerade deswegen ist ihre Geschichte die Bessere, wie doch eigentlich fast immer die Geschichte vom Scheitern die Bessere ist. Ich jedenfalls finde die "Sieger"-Geschichten meistens langweilig. Ich will Geschichten vom Scheitern lesen und sehen, ich will, dass jemand abkackt, dass alle seine Träume zerplatzen, dass er ganz nach unten durchgereicht wird und Alkoholiker wird und depressiv und vielleicht noch wahllos Passanten anpöbelt usw. Kurz: Ich will mich besser fühlen können, weil es jemanden gibt, der noch mehr versagt hat als ich.

Ist doch auch langweilig, dieser Amundsen mit seinen Huskys, die er als lebende Futterreserve mitgenommen hat, und mit seinen norwegischen Spezialisten, die gut Ski laufen konnten und sich überhaupt so gut in der Kälte und in der Eiswüste auskannten. Wieviel spannender dagegen dieser Scott mit seinen idiotischen Ponys, die überall eingebrochen und schlussendlich erfroren sind. Und mit seinen Motorschlitten, die genauso eingefroren, eingebrochen und versunken sind. Und mit seinen Leuten, die irgendwie nichts von ihm und seinem Führungsstil gehalten haben (und ebenfalls erfroren sind). Und er war ja trotzdem auch da, er hat den Südpol erreicht, nur eben ein paar Wochen nach Amundsen. Zurückgeschafft hat er's halt nicht. Merkwürdig, wie die Regeln so sind. Im Fall der Nordpol-Expeditionen war es ja ganz ähnlich und eigentlich noch exemplarischer: Cook war zuerst wieder von der Expedition zurück und Peary hat alles in Bewegung gesetzt, inklusive einer ausgetüftelten medialen Verleumdungskampagne, um Cook mundtot zu machen. Nur hat sich bei den Zweien dann blöderweise rausgestellt, dass wohl keiner von beiden wirklich am Nordpol war. Während man von Cook ziemlich genau weiß, dass er irgendwie wohl nur an den Inseln im äußersten Norden Kanadas entlangspaziert ist, gesteht man Peary immerhin zu, näher am Pol gewesen zu sein, ohne ihn jedoch tatsächlich erreicht zu haben. Cooks (Lebens-) Geschichte ist dabei aber doch wieder die Bessere; anscheinend hat er aus "Versehen" (kann schonmal passieren) nicht den Denali (für die Älteren: Mount McKinley), sondern irgendeinen 10 Kilometer entfernten Nebengipfel bestiegen, die Nordpol-Ersterreichung wurde ihm natürlich in allen Unehren aberkannt, und zu guter Letzt ist er auch noch wegen Aktienbetrugs oder so in den Knast gewandert. Super.

Aber eigentlich ging es ja nicht um die Polarexpeditionen, sondern um das Bergsteigen. Und damit natürlich um Reinhold Messner. Den Bergsteiger schlechthin. Messner, dieser Kontinent von einem Bergsteiger. Alles hat er bestiegen, was sich nicht auf drei flach auf die Erdkrümmung geschmissen hat. Und selbst das Flachmachen hat diverse Weltgegenden nicht davor bewahrt, sozusagen horizontal von Messner bestiegen zu werden. Irgendwie gehört ihm inzwischen halb Südtirol und es gibt ungefähr in jedem zweiten Dorf ein sogenanntes Messner Mountain Museum. Also auch einer von denen, die alles erreicht haben, was es zu erreichen gibt. Und wie bei vielen, die alles erreicht haben, was es zu erreichen gibt, pflastern auch aber nicht nur sprichwörtliche Leichen seinen Weg. Mit fast allen seinen Begleitern hat er sich nach den Besteigungen zerstritten, die Umstände des Verschwindens seines Bruders am Nanga Parbat sind bis heute, naja, sagen wir mal: einigermaßen unklar, und überhaupt wirkt er immer wie einer dieser autodidaktischen Ehrgeizlinge (der er ja ist), die denen in der akademischen Welt mal so richtig die Meinung geigen wollen, was ihn immer etwas gezwungen, steif und humorlos wirken läßt.

Im Grunde sind mir diese biographischen Petitessen aber auch völlig egal. Denn Reinhold Messner ist nicht nur der wahrscheinlich beste Bergsteiger aller Zeiten (sage nicht ich, sagen andere Bergsteiger), nein, er ist auch ein großer Künstler und einer der klügsten Kunstphilosophen unserer Zeit (sage jetzt ich). Richtig gelesen, Kunstphilosoph. Nee, das ist kein Witz. Echt nicht. Die Argumentation geht nämlich so:


1. Bergsteigen (in der von ihm betriebenen Form) ist für Messner eine Kunstform

Wenn man es genau betrachtet, ist der Gedanke, Messner als Extremperformer in der Nachfolge Joseph Beuys' (Schakal!) zu betrachten, gar nicht so abwegig, nein, nicht nur nicht abwegig, sondern geradezu naheliegend. Messner sagt ja, wenn er eine Bergwand anschaut, dann sieht er nicht nur den Stein und das Eis und den Schnee, sondern er sieht Linien, Spuren (Derrida!!) von eigenen und anderen Besteigungen, quasi eine synchrone psychisch-graphische Repräsentation der diachronen Geschichte der Besteigungen eines Berges (ach, wunderbar, die drei Semester Fernstudium Kulturwissenschaften zahlen sich schon aus). Das kann man natürlich metaphorisch nehmen und vielleicht eilig als eine etwas exaltierte Darstellung einer recht simplen Tätigkeit ("Ich gehe einen Berg hinauf") abtun. Man kann es aber auch für einen Moment mal ernst und wörtlich nehmen und zu der Feststellung gelangen, dass Kunst ja eigentlich genau das ist: Die Betrachtung labyrinthisch ineinander verflochtener Spuren an den Bergen menschlicher Geistestätigkeit (ja, man wird im Angesicht der majestätischen Gebirgsketten, die Gott vor sechseinhalb tausend Jahren da aus der Rippe eines Menschen oder so ähnlich geformt und hingeworfen hat, schon irgendwie pathetisch) und die Auslotung von Möglichkeiten, noch irgendwo eine eigene Spur ziehen oder notfalls auch bloß hinpissen zu können.


2. Es gibt künstlerisches und unkünstlerisches Bergsteigen

Wie im richtigen Leben, also in der richtigen Kunst, gibt es eben doch Kunst und Nichtkunst, auch wenn natürlich viele gerne hätten, dass es nur Kunst und Kunst gibt. Und während für Aussenstehende vielleicht alles gleichermaßen wie Kunst (oder auch gleichermaßen wie Nichtkunst) aussieht, gibt es doch Unterscheidungskriterien, die ganz klar Kunst von Nicht- oder Pseudo- oder Schrottkunst unterscheiden. Messner jedenfalls hat für das Bergsteigen ziemlich genaue Vorstellungen davon, wie künstlerisches (oder "echtes") Bergsteigen auszusehen hat, er nennt das Ganze "Bergsteigen im Alpinstil" im Gegensatz zum "Bergsteigen im Expeditionsstil".
Natürlich sehen die Ergebnisse der beiden Stile irgendwie ziemlich gleich aus ("Er war auf dem Gipfel"), und trotzdem ist eines davon eine Kunstform und das andere bloß (bestenfalls)  Kunstgewerbe (siehe auch: Danto). Im Grunde hängt alles an einer Messner'schen Forderung:
 "Benutze keinen künstlichen Sauerstoff!"

Eigentlich nicht so schwer: Pack dich warm ein, geh los und besteige den Berg. Nur mit dem Allernötigsten ausgerüstet. Und zum Allernötigsten gehört eben nicht künstlicher Sauerstoff. Oder eine Horde von Trägern, die den ganzen Kram (also auch die Sauerstoffflaschen) den Berg hochschleppen. Oder wochenlang Höhenlager (mit Sauerstoffflaschenvorräten) einrichten. Und einen womöglich noch runterholen sollen, wenn was schiefläuft (also der Sauerstoff ausgeht). Mit anderen Worten: Wenn du schon eine so zweckfreie (siehe Punkt 4 unten) Unternehmung wie auf einen sehr hohen Haufen Steine zu klettern angehst, dann mach es gefälligst richtig und so, dass das ganze Risiko nur bei dir selbst liegt.
Na gut, könnte man sagen, aber in der wirklichen Kunst geht es ja selten um Menschenleben, und das Risiko, in einem Konzertsaal biwakieren zu müssen, weil einem ein Schneesturm den Weg nach draußen abgeschnitten hat, ist auch recht überschaubar. Was also soll das?
Einfach: Man muss die Lebensgefahr rauskürzen. Es ist ja nicht so, dass man sich mit den ganzen Hilfsmitteln irgendwie weniger in Lebensgefahr begeben würde, eigentlich im Gegenteil. Siehe nur als Beispiele die beiden großen Unglücke, 1996 am Mount Everest und 2008 am K2. Das ist also nicht der Unterschied zwischen den beiden Stilen, folglich kann man es rausstreichen aus der Ungleichung. Und was dann übrigbleibt, kann man ohne weiteres eins zu eins auf die "normale" Kunst, hier also Komposition, übertragen. Das geht dann so:

Wenn du schon ein so zweckfreies (siehe Punkt 4 unten) Unternehmen wie die Anhäufung von schwarzen Punkten auf einem Blatt Papier angehst, dann mach es gefälligst richtig und so, dass das ganze Risiko nur bei dir selbst liegt.
Will heißen: Es ist eine Illusion, ein Stück mit irgendwelchen überflüssigen Mitteln (Theorien, Konstruktionen, Konzepten, Virtuosität etc.) absichern zu können. Also lass es. Je mehr unnützer Krempel am Stück dranhängt, desto weniger ist es letztendlich Kunst und desto mehr ist es Kunstgewerbe. Auch wenn es von außen den schmeichelhaften Eindruck erwecken mag, es sei doch Kunst.



3. Bergsteigen (und also Kunst) ist eine Form, sich selbst auszudrücken

Also das ist nun schon eine derartige Banalität, dass ich immer versucht bin zu sagen: im Gegenteil. Je weniger man sich selbst ausdrückt, desto mehr ist es Kunst. 
Das wäre natürlich irgendwie doof und geradezu idiotisch, aus bloßem Trotz das Gegenteil zu behaupten. Klüger und langfristig effektiver ist es dann doch, wenn man den Begriff einfach mal präzisiert: "Sich selbst ausdrücken" heißt zweierlei:
a) Man weiß, was das ist: "Ich selbst".
b) Es gibt überhaupt etwas auszudrücken
Und schon fallen grob geschätzte 98 % aller Ausdruckswillensbekundungen raus und unter den Tisch und werden von herumstreunenden, räudigen Ratten aufgefressen.


4. Bergsteigen (und also Kunst) ist zweckfrei

Für mich beinahe der wichtigste Punkt. Messner meint damit die ganzen Expeditionen, die irgendeinen hehren Zweck behaupten:
"Wir machen es für's Vaterland" (Ende 19. / Anfang 20. Jahrhundert)
"Wir machen es, um auf den Klimawandel / den Raubbau an der Natur / die Auswirkungen des Massentourismus etc. etc. aufmerksam zu machen" (Ende 20. / Anfang 21. Jahrhundert)

Völlig zu recht sagt Messner, dass das alles Quatsch sei. Bergsteigen sei eben Bergsteigen. Man mache es, weil man auf einen Berg steigen wolle. Das ist eine so einfache und schöne und ehrliche Aussage, dass ich sie gar nicht mit Übersetzungsversuchen verdrecken will.

_______



Da haben wir sie also: die Messner'sche Kunstphilosophie. Oder Kunsttheorie. Oder auch Ästhetik. Einfach, klar, überzeugend. Und wem das alles von mir an den lockigen Wuschelhaaren herbeigezogen vorkommt, dem kann ich dann doch nur mit Baudrillard kommen:
 "Das Problem mit der Realität ist, dass sie den Hypothesen entgegenkommt, die sie verneinen. Sie kapituliert bei der leisesten Aufforderung, sie beugt sich jeder begrifflichen Gewalt, ihr Kennzeichen ist die freiwillige Knechtschaft. Die Realität ist eine Hündin."
Baudrillard, Das radikale Denken


P.S.: Nur, um Amundsen nicht vollkommen unrecht zu tun: Er ist ja später in der Nordpolarregion verschollen und niemand weiß bis heute, was eigentlich passiert ist; irgendwie ist er letztendlich also doch auch gescheitert...

Donnerstag, 18. September 2014

Kommentar 40 - Prowokäischn, wott iz itt? / Von der Monophonie der Provokation

Viele Möglichkeiten bleiben einem heutzutage nicht mehr, wenn man, wie es so schön heißt, einen 'handfesten' Skandal in der Kunstszene provozieren will. Da muss man schon tief in die Tabukiste greifen und ganz schön rumwühlen, will man ein geeignetes Thema finden. Hitler oder Nazikram funktionieren immer. Naja, meistens. Kannibalismus, bzw. seine Befürwortung. Sex mit Minderjährigen. Um nicht zu sagen Pädophilie. Nekrophilie vielleicht noch, aber da bin ich mir schon nicht mehr so sicher. Scheint irgendwie überhaupt aus der Mode gekommen zu sein. Andererseits bin ich da auch nicht unbedingt auf dem Laufenden. Jedenfalls muss man schon was aufbieten, damit sich überhaupt noch einer über irgendwas aufregt.


 Niemand scheint mehr irgendein funktionierendes Gefühl dafür zu haben, wann er denn nun provoziert zu sein hat und wann nicht. Man fühlt sich ja öfter von irgendeinem permanent linksfahrenden Idioten auf der Autobahn provoziert als von 'nem 'Künstler', der eigene Körperteile kocht und zu einem Glas Rotwein isst, oder totgeborene Babys (zumindest behauptet er das) oder ähnliches Zeug. Im geliebten Internet finden sich schnell eine Menge Sachen, die man im Nachhinein lieber doch nicht gefunden hätte. Na gut, ich hab auch danach gesucht, also selber schuld. Aber so richtig provoziert fühle ich mich davon nicht, sondern bloß angewidert. Oder ich behaupte nur, dass ich mich davon nicht provoziert fühle, und bin in Wirklichkeit doch provoziert, traue mich aber nicht, es zuzugeben, weil man mich ja dann für einen Spießer halten könnte. Und ein Spießer zu sein, das ist nun wirklich das Allerletzte. Schlimmer noch als seine eigene Hüfte zu kochen. Hundert Jahre (+/-) provokativer Kunst haben immerhin also dafür gesorgt: Dass man weiss, dass man sich besser nicht provozieren lassen sollte. Weil das einfach sowas von uncool ist. Es ist uncool, dem Künstler das Gefühl geben zu müssen, dass er irgendeinen Nerv getroffen hat. Das hieße ja letztendlich, dass er irgendwie klüger ist als man selbst. Weil er über das zu verletzende Tabu 'nachgedacht' hat und zu dem Schluß gekommen ist, dass man es verletzen sollte. Weil man das in der Kunst nunmal so macht. Tabus verletzen. Grenzen niederreißen. Freier Geist und Wind und so.

So ein Tabubruch ist ja immerhin auch oft nützlich, um eine Diskussion in Gang zu bringen, wobei ich mich schon frage, was für eine Art Diskussion das Verspeisen einer Totgeburt eigentlich in Gang bringen soll. Der chinesische Künstler behauptet ja, er begehe den Tabubruch, um herauszufinden, ob ihn überhaupt noch jemand als Tabubruch empfinde (insofern bin ich vielleicht irgendwie abartig, wenn ich diesen Tabubruch nicht als provozierend empfinde, sondern als bloß widerlich, andererseits will ich dem 'Künstler' ja auch nicht das Gefühl der Befriedigung geben, dass er mit seiner Fragestellung irgendeinen Nerv getroffen hätte, insofern sitze ich hier in der Falle und komme nicht raus, wie ich es auch drehe und wende; so behält der 'Künstler' also in jedem Fall Recht, was schön für ihn, aber irgendwie blöd für mich ist). Na gut, wer das für 'nen etwas billigen, leicht zirkelschlüssigen Ansatz hält, liegt vielleicht auch nicht ganz daneben. Denn öfter als für den noblen Zweck der Diskussionskatalyse dienen Tabubrüche, the bleedin' obvious, als ganz und gar unnoble Aufmerksamkeitserzeuger. Natürlich stellt sich kein Künstler hin und sagt geradeheraus, dass er einfach nach irgendeinem Tabu gesucht hat, das noch nicht oder noch nicht genug verletzt wurde, damit er in die Zeitung kommt (süß, ne, in die 'Zeitung'). Weil das ja auch wieder uncool ist, auf Künstlerseite jetzt, weil man nicht zugeben darf, dass man den ganzen Scheiß nur macht, um den eigenen Namen nachher auf Platz eins der Google-Suche zu finden, am besten noch möglichst unabhängig vom eingetippten Suchwort. So hat halt jeder seine Tabus und Tabüchens, die Kunstwelt nicht anders als die stinknormale Spießerwelt. Natürlich hat der gemeine Künstler ebenso wie der gemeine Spießer inzwischen gelernt, dass es uncool ist, sich provozieren zu lassen. Also schiebt er, wie der gemeine Spießer, schnell irgendeinen anderen, möglichst unverdächtigen Abwehrgrund vor. Sehr beliebt ist das Langeweile-Motiv. Ist ja alles so langweilig, kenn ich alles schon, hab ich schon gesehen, schon gehört, schon selbst gegessen. Öööööde. Ach Gottchen, wenn der mich provozieren will, dann muss er aber früher aufstehen. Damit einher geht häufig die Abwertung der Provokation als bloße 'Albernheit', als 'kindisches' bzw. 'pubertäres' Zeug und so weiter und so fort. Die Provokation wird also erstmal kleingeredet, bis sie (in den Augen des Provozierten jedenfalls) keine mehr ist, weil sie von vorneherein keine sein durfte.

Bei der Behauptung von Langeweile sollte eigentlich immer der bullshit-Alarm losgehen. Wenn irgendwas ganz offensichtlich auf Provokation ausgelegt ist und jemand mit der Langeweile-Arie darauf reagiert, kann man mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass er sich provoziert gefühlt hat (mir muss erstmal einer das Gegenteil beweisen, und nein, es reicht nicht, einfach zu behaupten, man habe sich nicht provoziert gefühlt).

Sehr schön beobachten konnte man neulich diesen Mechanismus an der Diskussion (hier und hier noch weitere Bruchstücke davon) die sich um einen Ausschnitt aus 'Audioguide' von Johannes Kreidler im sogenannten Bad Blog of Musick entspann. Es geht um diese Zerstörung von 65 oder 100 oder wer weiß wie vielen Geigen. Keine Ahnung, ob der Kreidler das als Provokation gemeint hat, irgendwie hängt das Ganze mit seiner Donaueschingen-Protestaktion gegen die Fusion der beiden SWR-Orchester zusammen und erinnert auch an das allseits beliebte Zerschmettern von Gitarren bei Rockbands. Darum geht's im Augenblick auch gar nicht, sondern um die Reaktionen darauf.

Und die folgen exakt dem von mir beschriebenen Muster. Davon abgesehen, dass Godwin's Law mal wieder aufs Glänzendste bestätigt wurde (hier), kam relativ schnell die Rede darauf, dass dem Kreidler'schen Werk die "existentielle Tiefe" fehle, dass die Diskussion um den Gegenstand viel interessanter sei als der Gegenstand selbst, dass man mit den Geigen auch was Sinnvolleres hätte anfangen können (nach Afrika schicken [!!!!], kein Scherz) und dergleichen Abwehrstrategien mehr ('kindisch', 'ungebildet', 'macht man einfach nicht', 'unoriginell', 'Wohlstandsverwahrlosung' usw.). Es lief im Grunde darauf hinaus, die Provokation (die Zerstörung von Musikinstrumenten) nicht als solche zuzugeben. Keiner will rückständig erscheinen, allen ist doch nur das Seelenheil und die Zukunft der Kunstmusik ein Anliegen, man ist sich nur nicht einig über den zu beschreitenden Weg dahin. Die einen sagen, weg mit dem alten Schrott, die anderen sagen, lass uns den alten Schrott nochmal verzinken, dann hält er vielleicht noch 'n bißchen. Niemand von den Diskutanten hat irgendein substantiell ästhetisches Argument gegen (oder meinetwegen auch für) die Aktion gebracht (naja, vielleicht mit Ausnahme von Alexander Strauch, was mir aber im Dickicht seiner grammatikalischen Ungetüme, die er wohl für Sätze hält, entgangen sein mag). Es lief immer darauf hinaus, für sich selbst die provokative Spitze in irgendeiner Form stumpf zu klopfen, einfach weil es sich besser anfühlt, wenn man seine Gefühle der Abneigung im Nachhinein rationalisiert, das heißt also mit einer Art pseudo-logisch aufgebautem Skelett versieht. Andererseits war die Provokation doch irgendwie gelungen, indem sie auf (ungewollt?) manipulative Weise die Diskussion in Gang setzte, von der doch jeder der "nicht"-Provozierten behauptet hat, sie könne von diesem "langweiligen Kram" gar nicht ausgelöst werden (wie übrigens auch bei dieser Diskussion über einen anderen Ausschnitt aus 'Audioguide'). Dumm gelaufen, ne? Plötzlich wurde über Orchesterschließungen geredet, über Musikausbildung usw. (oder, im anderen Fall, über Kultur-'Subventionen', Machtmechanismen in der Neuen Musik usw.) Bemerkenswert für ein Stück Kunst, von dem doch behauptet wurde, es sei 'langweilig', 'albern' oder besitze gar keine 'existentielle Tiefe' (was zur Hölle auch immer das sein mag).

Damit ist noch gar nix darüber gesagt, ob ein Kunstwerk, das eine Provokation erfolgreich in Szene setzt, eigentlich auch ein gelungenes Kunstwerk ist. Eine Provokation ist ja an sich 'ne ziemlich monothematische, oder, um's in Musiksprache zu sagen: monophone Sache. Ein Aufreger wird durchgekaut (im wahrsten Wortsinn...) und das war's. Ohne jetzt die elendige WasistKunst-Dose wieder aufmachen zu wollen (ALLES!!!?), stellt sich mir doch die Frage, was eigentlich mit einem Kunstwerk passiert, wenn man es derartig auf einen Punkt festnagelt. (Im Übrigen, und das wird mich demnächst an dieser Stelle beschäftigen, hege ich inzwischen den Verdacht, dass, grob geschätzt, achtzig bis neunzig Prozent der zeitgenössischen [Kunst-] Musik im weiteren Sinne monophon sind.)

Man kommt also nicht mehr ran an die Leute, an Künstler genausowenig wie an Nicht-Künstler. Jedenfalls nicht so, wie die Künstler sich das wohl vorstellen: Aufgebrachte Zuhörer, die sich im Konzertsaal prügeln, die mit Fackeln und Mistgabeln bewaffnet durch den Ort ziehen, um den Tabubrecher zu lynchen. Im besten Falle kriegt man eine Diskussion, bei der aber niemand zugibt, dass das provokative Stück irgendwas mit der provozierten Disukssion zu tun hat. Ein unbefriedigender Zustand.

Es gibt immer wieder Versuche, irgendwie aus dieser provokationsimmunen Hölle rauszukommen, und alle scheitern an der Provokationsimmunität. Lehrhaft (ja genau, delectare und docere) in diesem Zusammenhang sind die Bücher von Matias Faldbakken. Darin geht's eigentlich permament um die Unmöglichkeit, irgendwen mit irgendwas zu provozieren. Um die Mainstreamisierung des Undergrounds. Um die Normalisierung von Abartigkeiten. Und so packt Faldbakken Provokation auf Provokation (unter anderem in Macht und Rebel: ein Typ, der zum Hitler-Bewunderer wird, aus dem einzigen Grund, weil er es doof findet, kein Antisemit sein zu dürfen; die ultimative Provokation im Konsens-Kapitalismus aber ist der von Faldbakken erfundene Trend, bewußt und gewissermaßen 'stolz' gefakte Markenschuhe zu tragen), in der Hoffnung, irgendwie doch noch irgendjemanden zu provozieren. Aber das passiert einfach nicht. Seine Bücher werden gelesen, die Leute finden sie unterhaltsam, mir ist nichts davon bekannt, dass sie irgendeine nennenswerte Diskussion über irgendwas ausgelöst hätten. Seine Bücher doppeln also (unfreiwilligerweise) den darin beschriebenen Umstand selbst im 'echten' Leben. Die Konsensgesellschaft ist halt nunmal totalitär. Bevor jetzt wieder das Lamento darüber losgeht ("buhuu, ich werde hier zu Tode toleriert"), muss man vielleicht auch mal drauf hinweisen, dass wir 'n paar hundert Jahre und 'n Haufen Menschenleben dafür verbraucht haben, eine solche Gesellschaft möglich zu machen. Irgendwie erinnern mich diese Klagen entfernt an die Klagen über nicht stattfindende Kriege zum Zwecke des character building.

Ach ja, die Geigenzertrümmerungsnummer fand ich übrigens langweilig ...

Montag, 1. September 2014

Kommentar 39 - Resampled / Über Wut (Von der Kunstseuche und dem ganzen anderen Rest nebst dem endgültigen Beweis für die Überlegenheit gedruckten Papieres über den Computerbildschirm)


Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete, und hätte der Wut nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.

Es gibt ja 'ne Menge Dinge, die einen wütend machen können. Das fängt bei Tiefbahnhöfen an und hört bei über den Zaun hängenden Apfelbaumästen auf, oder vielleicht auch bei nicht zugedrehten Zahnpastatuben, je nach Persönlichkeitsstruktur. Jedenfalls ist Wut eine seltsam einseitige Emotion. Sie macht blind, heißt es ja schon im Volksmund - übrigens darin der Liebe ähnlich -, und sie treibt einen zu irrationalen, unüberlegten oder auch einfach nur unheimlich dämlichen Taten - auch darin der Liebe nicht unverwandt. Selten (genau gesagt: nie) hört man davon, dass eine großartige Tat - jetzt aber ganz anders als bei der Liebe - aus Wut geboren worden ist. Aus Wut entsteht immer nur Schwachsinn. Im Zweifelsfall erregt die aus Wut entstandene Tat des Einen die Wut und damit die aus Wut entstandene Tat des Anderen, die bestimmt mindestens so idiotisch ist wie die ihr vorausgegangene Tat. Die Eskalation ist der Wut ja quasi gleichsam subkutan eingeschrieben.
Jetzt aber, was soll das Geschwafel über Wut? Ich finde ja trotz allem, dass es zu wenig Wut gibt. Gute, alte Wut. Biblisch kann man ja nicht sagen, biblisch ist ja schon der Zorn, der kleine perverse fuckbuddy der Wut. Aber so 'ne richtig gut abgehangene Wut, das ist schon was Feines. Was Exquisites.

Ich rede hier von richtiger Wut.

Nicht dieser öden, wohlfeilen IchkettemichanBäumeweildieHaselmaussonstkeinNestmehrhatWut oder der DieWeltistsoungerechtundinAfrikahungerndieKinderWut oder so 'nem Quark. Also nicht etwas, das sich eigentlich auf einen vermeintlich guten oder vermeintlich gutgemeinten Zweck richtet, also per definitionem keine Wut ist. Nein, ich rede von ganz egoistischer Wut, so 'ner Wut, die einen sich vorstellen läßt, wie man den Nachbarn mit 'ner Axt in Stücke hackt, weil's mal wieder drei Blätter Laub von seinem Baum auf den eigenen Rasen geweht hat. Wut in ihrer reinsten Form. Ungefiltert, unzivilisiert, ungezügelt.

Moment mal, das klingt ja nun doch 'n bißchen sehr nach Marinetti (Achtung: Synekdoche[!]) und dem ganzen antihumanistischen Scheiß, der uns schon das ganze 20. Jahrhundert versaut hat. Wir sollten froh sein, dass wir das alles inzwischen im Griff haben, dass wir jetzt Egoshooter spielen können, wo wir zum Abreagieren statt richtiger Menschen irgendwelche Pixelklumpen über'n Haufen schießen können. Ja richtig, darüber können wir froh sein. Natürlich. Selbstverständlich. Auf jeden Fall. Klaro. Wolfenstein 3D - juchhee!

Gibt ja nix Schlimmeres als dieses unerträglich dümmliche Geschwafel von wegen "Euch geht's doch viel zu gut, ihr solltet mal 'nen Krieg miterleben, da wißt ihr erst, wie dreckig es einem gehen kann, dann erst könnt ihr überhaupt mitreden / wirkliche Kunst machen / echte Gefühle haben / Verantwortung übernehmen." Hört man ja in letzter Zeit immer öfter, diesen gequirlten Mist. Zuletzt in einem Artikel von Moritz Eggert, den er "dankenswerterweise" sowohl in Deutsch als auch Englisch auf dem sogenannten "BadBlog of Musick" veröffentlicht hat. Er streitet natürlich ab, dass diese Schlussfolgerung aus seinen "Überlegungen" gezogen werden sollte, aber zu was zum Teufel sollen solche "Überlegungen" gut sein, wenn nicht zu diesem Schluss? Die "Argumentation" geht ja so: Früher (als alles noch viel, viel, viel, viel, viiiiel besser war) mussten die Menschen um ihr Überleben kämpfen (genau: kämpfen). Da hatte man noch richtige Gefühle, weil man ja täglich mit der nackten Angst ums Überleben die Füße aus dem Heuboden geschwungen hat. Dann ging es immer weiter bergauf bzw. ja eigentlich bergab und jetzt, nach unerträglich langen 70 Jahren Frieden in Europa, weiß die verweichlichte Generation der Wohlstandskinder überhaupt nicht mehr, was eigentlich so'n "richtiges" Gefühl überhaupt ist. Sprich: Sie kennt nur noch unrichtige, also wenigstens zweitklassige, wenn nicht sogar nur noch Surrogat-Gefühle. Hoppladihopp - schon simmer bei der Feststellung, dass die verweichlichte Generation von Wohlstandsschlappschwänzen im Grunde gar nix kann, weiß und fühlt und deshalb eigentlich auch gleich aufhören könnte, irgendwas zu machen. Nach derselben Logik ist es auch völlig legitim und sogar ein Gebot der Menschlichkeit, Kinder zu schlagen und sie wie den letzten Dreck zu behandeln, weil sie ja sonst gar nicht lernen, was Disziplin heißt. Und ohne Disziplin wäre das Leben ein Irrtum.
Man könnte ja auch den Gedankengang umdrehen und einfach mal behaupten, dass die Menschen früher vor lauter Angst ums Überleben gar nicht wußten, was überhaupt ein Gefühl ist. Z.B. von wegen Liebesheirat, Kinderliebe usw. Oder, und das wäre das allerbeste, man könnte einfach mal aufhören, die Gegenwart gegen die Vergangenheit auszuspielen und Unvergleichbares ständig miteinander zu vergleichen. Früher hatten wir Krieg, jetzt nicht mehr (vielleicht ja bald wieder, wer weiß, dann kommen sie wieder aus ihren Löchern gekrochen, die Verfechter der "echten" Gefühle und des Überlebenskampfes und dann dürfen sie mal zeigen, was in ihnen steckt; redet sich ja leicht von der angeblich "reinigenden" Wirkung von so'nem Krieg, wenn er nicht gerade 'nen Häuserblock weiter stattfindet).

Nun gut, jetzt habe ich also festgestellt, was ich mit meinem leidenschaftlichen Plädoyer für die Wut eben gerade nicht meine. Gleichzeitig bleibt meine Feststellung von oben bestehen, dass es nach meinem Dafürhalten zu wenig Wut gibt. Es gibt z.B. auch überhaupt keine wütende Kunst, jedenfalls nicht, dass ich davon wüßte. Vielleicht schließen sich diese beiden Begriffe gegenseitig aus, weil ja aus Wut nix Dolles entstehen kann. Hm, ich weiß nicht.
Und was macht man, wenn man argumentativ nicht mehr weiterweiß. Man wird konkret, macht mal 'n Fallbeispiel und schaut, ob man irgendwo dabei rauskommt. Vielleicht (und das wäre wohl das Beste) vergisst der Leser ja auch unterwegs das ganze Geseiere von vorher und merkt gar nicht, dass alles nur 'ne gedankliche Sackgasse war.

Also:
Zwei Anlässe haben mich in der letzten Zeit wütend gemacht: Das neue Heft der MusikTexte und der ganze Darmstädterferienkurskomplex.

Ich fange mal mit letzterem an, weil es sich in verschiedene Ärgernisse gliedert, die irgendwie miteinander zu tun haben und jeder für sich vielleicht noch nicht wutauslösend sein müssten, es in der Summe der Dinge aber doch sind:
Kurz vor Beginn der Ferienspiele veröffentlicht der notorische Moritz Eggert auf dem sogenannten "BadBlog of Musick" eine "Satire" auf Darmstadt und den dortigen Zirkus, in der er im "Stile" eines Gangsta-Rap-Musikvideos die dort versammelte Szene "persifliert". Ich weiß gar nicht, wo ich da anfangen soll. Vielleicht ja so: Inhaltlich unter aller Sau, stilistisch unter aller Sau, handwerklich unter aller Sau. Anscheinend hat er noch nie was davon gehört, dass eine Satire von der Genauigkeit der Beobachtung lebt, vom Timing, von der Präzision. Kurz: Ich habe schon lange (vielleicht seit den Funniest HomeVideos of the World) nichts so unerträglich Unlustiges mehr gesehen.
Derart warmgewütet habe ich in der Folge versucht, mangels eigener Anwesenheit dortselbst, den Darmstädter Betrieb in der einen oder anderen Form mitzuverfolgen. Da gab es ja allerhand Bemühungen im sogenannten "Internet", Streams von den Lectures bzw. Podiumsdiskussionen, Blogartikel usw. usf. Naja, was soll ich sagen, ich habe bald schon das Interesse verloren, einem abgehackten Livestream auf VoiceRepublic folgen zu wollen, in dem ich weder wusste, wer gerade redet, noch, worum es überhaupt geht. Liebes "Internet", das muss besser werden. Schlussendlich habe ich mir das Zusammenfass-Video von der NMZ angeschaut und wurde im Verlauf desselben so wütend, dass ich selbst die achteinhalb oder was Minuten nicht fertig geschafft habe.
Erstens: Vielleicht war ich schon von Moritz Eggerts Video mies draufgebracht und bin schon mit einer Grundwut in die ganze Sache reingegangen, aber diese Wichtigkeit, mit der die Leute dort ihren gedanklichen Dünnpfiff in die Kamera gesagt haben, fand ich erst lächerlich und dann ärgerlich. Ein unerträgliches Gefasel von irgendwelchem Pseudokunstscheiß, ich dachte wirklich, das kann ja gar nicht sein. Fliegt da einer mit Drohnen über 'nen Darmstädter Platz und labert was von "Überwachungsstaat". Fliegen (warum wurde überhaupt so viel geflogen?) 'n paar Heißluftballons durch die Gegend, während ihre Gasfeuerung in irgendeinem (wahrscheinlich algorithmisch hergestellten) Rhythmus betrieben wird. Probt irgend'n Ensemble irgendwelches Tongeöde, das man beim besten Willen nicht orginell nennen darf, und schwafelt was von künstlerischer Arbeit. 'Ne Freilichtaufführung von dem großartigen "Generation Kill" von Stefan Prins (na klar, erst Donaueschingen, dann Darmstadt, ich erspare mir die schmierigen Details). Und immer mit so'nem todernsten Ausdruck auf dem Gesicht, so als ginge es jetzt und sofort um ALLES. Herrgottnochmal, ich ertrage es nicht mehr. Ich will diese ganze Scheiße nicht mehr sehen / hören / lesen. Ich will nicht, dass irgendjemand nochmal das Wort "Kunst" in den Mund nimmt. Durchfall ist und bleibt Durchfall und wird nicht dadurch schmackhafter, dass man ihn jetzt Kunst nennt (abgesehen von der in Dosen abgefüllten Kacke Manzonis). Der Gebrauch des Wortes "Kunst" sollte unter schwere Strafe gestellt werden. Es sollte überhaupt keine "Kunst" mehr geben. Das wäre das Beste für alle Beteiligten. Und für die Unbeteiligten sowieso.

Vor lauter Aufregung darüber WAS alles Kunst sein kann, oder WAS Kunst alles sein kann, wird inzwischen völlig vergessen, die viel wichtigere und eigentlich alles entscheidende und einzig relevante Frage zu stellen: WIE Kunst sein kann. Die Frage nach dem Kunstfertigen wird von der Frage nach dem Kunstartigen überdeckt, zugedeckt, erstickt. Diese erstere Frage wird gerahmt von einer Aussage und einer zweiten Frage: Erstens: Es gibt Kunst und alles kann Kunst sein. Verdammtnochmal, das wissen wir jetzt (siehe allerallerspätestens Manzoni). Zweitens: Warum ist es überhaupt wichtig, dass etwas Kunst und nicht Nicht-Kunst ist? Ja genau, warum zur Hölle ist es Euch Kunstheinis denn so verflucht wichtig, dass euer Krempel Kunst ist? Geht's nicht auch 'ne Nummer kleiner? Wenn ihr den Menschen was beibringen wollt, dann werdet gottverflucht nochmal Lehrer (ich schaue ganz streng Helmut Lachenmann an). Wenn ihr philosophieren wollt, dann werdet in Gottes Namen Philosophen und schreibt unnütze Bücher wie der Hindrichs. Wenn ihr gegen den "Überwachungsstaat", gegen Krieg, gegen Kinderarbeit, gegen die Globalisierung, gegen die Startbahn West, gegen Atomkraft, gegen irgend'ne Religion, gegen den Kapitalismus, gegen Nazis, gegen Kommunismus, gegen Drohnen, gegen Aufrüstung, gegen Wasauchimmer seid, dann werdet scheißenochmal Politiker und kümmert euch endlich mal um den ganzen Dreck auf der Welt und hört auf, mir im Konzertsaal die Ohren mit eurem Gejammer vollzuschleimen. ES INTERESSIERT MICH NICHT DIE KLEINSTE BOHNE! Ich will nicht im Konzertsaal "aufgerüttelt" werden. Ich will nicht zuhören, wie dem Komponisten beim Komponieren anscheinend einer abgegangen ist, weil er seine Gedanken selbst so geil fand. Ich will nicht "neu hören lernen". Kann ich schon. Und wenn es nicht das richtige "Neu-Hören" ist, dann will ich es trotzdem nicht lernen. Lasst mich mit dieser ganzen Scheiße in Ruhe.

(ich hole tief Luft)

Jedenfalls hat mich dieses Video ziemlich geärgert. Nicht zuletzt auch und damit:
Zweitens: Die Ausschnitte aus Johannes Kreidlers neuem Musiktheater oder was auch immer das sein soll. Ich habe mich ja schon verschiedentlich mit Kreidlers Stücken auseinandergesetzt und dem ganzen Neue-Konzeptualismus-Kram und wie die Henne zum Ei kam und so. Ich möchte für mich in Anspruch nehmen, dass ich das bisher zwar subjektiv in der Aussage aber doch objektiv in dem Bemühen, zu dieser Aussage zu gelangen, getan habe. Damit ist nun Schluss. Ich will auch gar nix davon hören, dass ich doch auf Grund einiger sekundenlanger Ausschnitte nicht ein siebenstündiges Werk beurteilen könne (im Übrigen habe ich mir noch 'n Haufen Schnipsel davon auf YouTube angesehen, also mindestens eine gute Stunde von dem Zeug). Kann ich. Mach ich. Wenn die Ausschnitte so in diesem Werk zu sehen bzw. hören sind, dann will ich den Rest einfach nicht mehr kennenlernen. Was soll das? Was soll das doofe Rumgehopse auf der Bühne zu Metal-Musik? Soll das lustig sein? Inwiefern dient das, ja was eigentlich? Soll so die Beschäftigung mit populärer Musik aussehen? Soll das eine Persiflage sein? Mannmannmann...ich zitiere mich selbst:
Inhaltlich unter aller Sau, stilistisch unter aller Sau, handwerklich unter aller Sau. (siehe oben, Eggert)
Das Schöne an so'ner Wut ist ja, dass sie beinahe eins zu eins wiederkehrt, wenn man sich die Umstände ihres ersten Auftauchens so genau wie möglich ins Gedächtnis ruft. Ein unerschöpflicher Quell steter Aufwühlung.

Und weil's so schön ist, und weil man sich in seiner Wut so schön behausen kann (whoo-hoo heideggoo) jetzt noch der Aufreger aus den MusikTexten:
Abgesehen davon, dass ich schon von der vorletzten Nummer enttäuscht war, weil von der großangekündigten WirmachendenneuenKonzeptualismusmalsorichtigplatt-Offensive genau gar nix kam (außer einem mehr weinerlich-beleidigten als kämpferischen Antwortbrief von Johannes Kreidler auf die unverschämten Anschuldigungen, er wisse gar nicht, dass Wagner-Tuben gar keine Tuben seien, in dem er nochmal in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen hat, dass er selbstverständlich wisse, dass Wagner-Tuben keine Tuben seien, dass aber der andere [ich vergesse die Namen so schnell wieder] offensichtlich gar nicht wisse, dass die ersten Prototypen der Wagner-Tuben, die selbstverständlich, wie er und jeder andere wisse, gar keine Tuben seien, doch tatsächlich Tuben waren oder so ähnlich), war die neue Ausgabe der allseits beliebten und komischerweise immer langweiligen MusikTexte ein wirklicher Schlag ins Gesicht. Ich erspare mir hier die Aufzählung von ermüdenden "Analysen", diesmal wurden einige Stücke von Enno Poppe irgendwie auseinandergenommen, ohne dass klar werden würde, was man denn nun mit diesem Wust von unverständlichen Tabellen (warum zum Geier wird auf einer Drittelseite die Zuordnung von "Übergeordneten Settingnummern" zu "Keyboard 1" und "Keyboard 2" abgedruckt, immer mit der Frage versehen: "Modulation On?" [weiss ich doch nicht, ob die Modulation on ist]), Notensalat und Textbausteinen aus der Verlagsbroschüre ("spätestens seit 'Thema mit 840 Variationen' komponiert Enno Poppe mit kleinsten Zellen...") eigentlich anfangen soll. Irgendwie soll damit wohl bewiesen werden, dass Enno Poppe ein gaanz gaaanz toller Komponist ist. Muss er ja sein, sonst wären die ganzen Seiten, die die MusikTexte ihm gewidmet haben, ja eigentlich bloß schlechteres Klopapier, weil nicht ganz so weich wie das dreilagige von Hakle. Ich sage weder, dass er es nicht, noch dass er es ist, halte diese Art von Apologetik aber für total schwachsinnig.

Wie dem auch sei, eigentlich wollte ich auf das "Prunkstück" dieser Ausgabe hinaus, und das ist diesmal eindeutig und weit vor allem anderen die Seite 20 (Ausgabe 142). Ein halbseitiges Photo unseres geliebten Helmut Lachenmann, mit Che-Guevara-artig verfremdetem eigenen Konterfei auf dem Tshirt und Schlandfahne in der Hand, die Augen irre aufgerissen, die Haare irre in die Stirn gekämmt oder gelegt, was weiß ich denn. Titel: "WM-Tagebuch eines geschüttelten Komponisten". Unter dem Photo ein Haufen Schüttelreime, thematisch auf die Fussball-WM bezogen. Na gut, könnte man sagen, meinetwegen, jede Zeitung hat ihre Witz-Seite, warum nicht auch mal die MusikTexte. So ein humoristisches Schmankerl, zumal vom großen Neuhörenlernen-Guru der Nation. Ist doch nett. Da treffen sich auf schmunzelnde Weise Hoch- und Tiefkultur. Warum denn also nicht? Ganz einfach: Weil es doof ist. Nein, es ist nicht nur doof, es ist peinlich. Nein, noch mehr, es ist direkt beschämend. Ich fange mal mit der Frage an, wie der Abdruck dieser Texte eigentlich in die Wege geleitet wurde: Hat irgendein Redakteur bei sich gedacht: Mensch, wäre doch nett, wenn wir irgendwas zur WM im Heft drinne hätten, sind ja auch Weltmeister geworden, das wär doch schön. Irgendwas Lustiges, nicht zu ernst, weil ist ja nur Fussball und so. Wart mal, ich ruf mal den Helmut an, der macht doch immer so lustige Sachen. Der hat bestimmt was. Ja, Helmut, du, sach mal, haste vielleicht irgendwas Lustiges zur Fussball-WM? Ja, genau, für die neuen MusikTexte. Naja, so 'ne Seite oder so. Nee, ehrlich, haste? Ach was, Schüttelreime? Ist ja großartig. Kannste mir mal einen... ja, hol ma aus'm Komponierhäusel, ich warte [dumm-di-dumm, di-di-di-di-di-dumm], ja, ich bin noch dran. Lies ma vor. Hahahahaha, super, Helmut, nee ehrlich super, du weißt, ich würd's sagen, wenn's anders wär. Hahahaha, großartig Müller kniet - Knüller mied, du kommst auf Sachen, Helmut, weiste was, fax mir die Sachen ma rüber, das machen wir. Ach so, nur ne halbe Druckseite...hm...na denn machen wir noch ein Photo dazu, lass dir noch was einfallen, vielleicht was Politisches oder so. Ja, ruhig mit Deutschlandfahne und irgend'ner ironischen Brechung dazu, was aus'n 68ern oder so, ja, genau, Che und so, mach ma, wir bringen das, super, tschö Helmut.
Oder, was eigentlich auch nicht besser wäre: Lachenmann selbst ist an einen der Redakteure herangetreten mit dem Hinweis, er habe da einige Parerga und Paralipomena (höhö) zur Fussball-WM, ob man die nicht mal, und so weiter.

Der Punkt ist ja der: Die Dinger sind von Lachenmann. Meinetwegen, jeder hat ja so ein kleines Poesiealbum unter'm Kopfkissen, wo er seine Geistesblitzchen reinkritzelt. Aber deswegen sind sie ja noch lange nicht gut. Oder lustig. Oder von Interesse. Im Grunde ist diese Seite auch nix anderes als eine Homestory aus der inStyle, nur halt für Kulturidioten. Wenn diese Kulturidioten einfach mal zugäben, dass sie ja auch nur Menschen sind mit dem Bedürfnis nach Tratsch und einer gesunden Portion Neugier, die Nase in das Leben anderer Leute zu stecken, wäre das alles halb so schlimm. Aber das tun sie ja nicht. Sie tun so, als hätten diese bestenfalls albernen Schüttelreime durch den Namen Lachenmann den Odor des Hochkulturellen und des irgendwie Subversiven und als sei es daher in Ordnung, sie direkt vor ein Interview zu drucken, das mit den Worten beginnt: "Sie sprechen häufig von Impetus. Können Sie diese Initialzündung beschreiben?" Man hätte einfach beides lassen sollen, die Schüttelreime und das Interview. Im Grunde das ganze Heft. Jedenfalls war die ganze Sache zu einem gut: Während ich beim Eggert und Darmstadt usw. hilflos vor meinem Computermonitor gesessen habe, konnte ich die MusikTexte mit Verve in die Ecke pfeffern. Herrlich. Und konnte damit den endgültigen Beweis für die Tatsache liefern, dass so ein Computermonitor eigentlich ein Rückschritt und ein Kulturvernichter ist, weil man ihn nicht ohne größere Einbußen einfach so in die Ecke pfeffern kann, wenn einem mal danach sein sollte.
Nun sind wir also durch die Fallbeispiele durch. Und, worauf wollte ich jetzt eigentlich hinaus?
Mehr Wut wagen. Wut macht müde Männer munter. Wut macht mobil. Vorsprung durch Wut. Schluckst du noch oder wütest du schon? Créateurs de Wut. Nicht nur ärgerlich sondern wütend. Auf diese Wut können Sie bauen.
Also: Wut.