Donnerstag, 21. Januar 2016

Kommentar 48 - Wie es dazu kam, dass ich einmal den historischen Hintergrund vergaß (Confessions of a not quite as beautiful mind, as I might've hoped for)

Liebes Blog,

neulich habe ich einen schrecklichen Fehler gemacht. Ich habe den historischen Hintergrund unterschlagen. Naja, nicht aktiv unterschlagen, nur vergessen. Was es nicht besser macht. Eher schlimmer. Wie kann man nur so blöd sein und den historischen Hintergrund nicht beachten? Waren denn die ganzen Geschichtsstunden in der Schule und die Lektüre der vielen historischen Schinken völlig umsonst? Leider kann ich Dir keine zufriedenstellende Erklärung dafür liefern, warum ich den historischen Hintergrund vergessen habe, aber die Frage nach dem "Warum" ist ja sowieso keine gute Frage, wie ich neulich von Richard Feynman gelernt habe. Deshalb kann ich Dir nur erzählen, wie es dazu kam, dass ich den historischen Hintergrund vergessen konnte:

Ich hatte mich nach langer Zeit mal wieder dazu entschlossen, Analysen von aktuellen Stücken der sogenannten Neuen Musik zu schreiben. Das ist eine Arbeit, die oft keinen großen Spaß macht, weil ich mir unheimlich viel Schrott anhören muss. Natürlich steht nirgendwo, dass das Schreiben von Analysen Spaß machen muss, deshalb beklage ich mich auch nicht darüber, ich stelle lediglich fest. Viele Stücke, die ich mir anhöre, laufen einfach so durch, tun nicht weh, begeistern nicht, zünden keinen einzigen Gedanken. Andere Stücke mag ich vielleicht gerne hören, trotzdem erzeugen auch sie nicht das Bedürfnis in mir, etwas darüber zu schreiben. Und dann gibt es da noch die Stücke, die mich nerven. Das sind die ergiebigsten. Weil sie mich dazu bringen, mir selbst erklären zu müssen, warum sie mich nerven. Ich weiß auch nicht, warum ich mir ausgerechnet das Nichtgefallen nicht einfach so gestatte, wahrscheinlich liegt da irgendein auf Erziehung und / oder Genetik beruhender persönlicher Defekt vor. Selbst das Bedürfnis, Analysen zu schreiben, wird ja bei mir davon ausgelöst, dass mich andere Analysen nerven.

In diesem Fall, in dem ich dann am Ende den historischen Hintergrund vergessen habe, war es so, dass mir nach fünfzehn oder zwanzig durchgehörten Stücken ein Gedanke kam, der sich in paradigmatisch vereinfachter Form so liest: "Dieses allgegenwärtige Bedürfnis, Musiker szenische Aktionen ausführen zu lassen, ist doch eigentlich Quatsch." Dieser Gedanke war für mich umso beunruhigender, als dass ich selbst in den letzten Jahren diesem Bedürfnis nachgegeben und mich also quasi mitschuldig an dieser Modeerscheinung gemacht habe. Natürlich bilde ich mir ein, dass ich das in meinen Stücken viel besser gemacht habe als die anderen in ihren Stücken. Ist doch klar, sonst könnte ich ja gleich aufhören. Andererseits hatte ich mir auch nie so richtig darüber Rechenschaft abgelegt, warum das so sein sollte. Also warum denn jetzt die Instrumentalisten zum Beispiel irgendwas mit ihrem Körper machen sollen, für das er gar nicht trainiert ist. (sorry, da sind mir dann doch wieder "Warum"-Fragen reingerutscht). Irgendwie ist der Gedanke, die Inszenierung "Konzert" auszubauen, für mich jedenfalls zu naheliegend gewesen, um ihn als hinterfragungswürdig eingestuft zu haben ich mich befähigt gesehen hätte. Und genau an dieser Stelle habe ich dann auch  den historischen Hintergrund des ganzen Komplexes vergessen.

Ich habe einfach nicht daran gedacht, dass die aktuelle Entwicklung natürlich Vorläufer hat, die letztendlich bis in die Antike reichen, jedenfalls wenn man den Ausführungen von Thrasybulos Georgiades (aah, dieser Name!) in "Musik und Sprache" folgt:
Aus der ursprünglichen Einheit [von Musik und Sprache im Altgriechischen] ist eine Zweiheit geworden; aus der μoυσιχέ sind Dichtung und Musik entstanden. Erst jetzt, erst innerhalb der abendländischen Geschichte ist es möglich geworden, Musik und Sprache streng voneinander zu trennen. Von jetzt ab besteht aber auch, gleichsam als Erinnerung an den gemeinsamen historischen Ursprung, die Sehnsucht der einen nach der anderen, die Neigung, sich gegenseitig zu ergänzen.
 Thrasybulos Georgiades, Musik und Sprache, S. 7
Was Georgiades hier in leicht anthropomorpher Verklärung den beiden Medien Musik und Sprache zuschreibt ("Sehnsucht"; dass er damit im Handstreich die sogenannte absolute Musik mehr oder weniger zum Mangelwesen erklärt, wäre eine lange, ausführliche, gesonderte Darstellung wert), läßt sich leicht auf die Trinität von Szene, Text und Musik erweitern, siehe die vermeintliche Restituierung antiker Vorbilder in der Renaissance-Oper oder Wagners Zeug. Immer schon und immer mal wieder ist dieses Bedürfnis dagewesen, alles wieder zusammenzufassen, was man als ursprünglich zusammengehörig und "künstlich"(?) auseinandergerissen begriffen hat.

Tja, das hätte ich natürlich bedenken müssen. Ich hätte selbstverständlich all die Versuche in der Musikgeschichte präsent haben müssen, zusammenzuführen, was (vielleicht) zusammengehört. Ich hätte klaro die aktuelle Entwicklung in ihrem historischen Kontext verorten müssen, nämlich jenen, nach einer ziemlich langen Phase, in der es vorwiegend um absolut-musikalische Dinge ging (Zwölfton, Serialismus, Spektralismus, Neue Einfachheit, Minimalismus, Komplexismus usw.), endlich wieder den vernachlässigten, inzwischen als außermusikalisch, früher aber als innermusikalisch verstanden zu wissen wollen seienden Ausdrucksformen zu ihrem Recht zu verhelfen, wenn nicht gar zum Eigentlichen zu erklären. Ich hätte logo auch die ganzen gelungenen Beispiele der Musikgeschichte im Hinterkopf haben müssen, und seien es nur diejenigen aus dem letzten Jahrhundert, als da wären zum Beispiel Ekklesiastische Aktion von Zimmermann aus der eher seriösen Ecke und zum Beispiel Pas de Cinq von Kagel aus der eher heiter-absurden Fraktion. Ich hätte gottverflucht nochmal erklären müssen, dass ich das alles im Prinzip gar nicht verkehrt finde, sondern im Gegenteil absolut richtig, und nur die Art und Weise, wie im Augenblick häufig damit hantiert wird, grauenhaft.

Ja, liebes Blog, derart sind meine zahlreichen Verfehlungen. Kaum tröstlich ist daran die Tatsache, dass ich mir selbst damit am meisten geschadet habe. Selbstverständlich werde ich diese Versäumnisse aufzuarbeiten haben, gleich nachdem ich zu Mittag gegessen habe (in Butter angebratene Salzkartoffeln vom Vortag).

Bleibt mir nur noch, mich zu bedanken, bei der Freien und Hansestadt Hamburg für viele weitere Inspirationen, beim Badischen Intellekt für korrektives Wirken und nicht zuletzt bei Google für die Verfügbarmachung von allem.
Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen,
und das Leben den betrübten Herzen [...]?
Well, Feynman, how's that for a why-question?

Dein

Erich S.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen