Donnerstag, 19. November 2015

Kommentar 45 - Kleiner Katechismus des Zweifels (Von der Notwendigkeit einer Utopie)

Was ist der Zweifel?

Der Zweifel ist die Methode des Denkens oder Sprechens, eine Frage nicht mit einer Aussage, sondern mit einer Gegenfrage zu beantworten, das heißt also: eine Frage nicht zu beantworten, sondern die Frage zu befragen. Der Zweifel ist also eine Art und Weise, das Gespräch in Gang zu halten. Wer zweifelt, redet. Reden heißt auch denken. Also denkt, wer zweifelt.

Wie zweifle ich richtig?

Weil der Zweifel nur eine Methode oder Art und Weise des Denkens oder Sprechens darstellt, ist er erlernbar. Um den Zweifel zu erlernen, muss man ihn einüben. Das Einüben des Zweifelns besteht darin, eine Frage nicht zu beantworten, sondern ihrerseits zu befragen. Eine Frage kann auf verschiedene Weise befragt werden: Eine Frage kann auf ihre expliziten oder impliziten Prämissen hin befragt werden (Welche Prämissen liegen der Frage zugrunde und sind die zugrundeliegenden Prämissen richtig?). Eine Frage kann auf ihre explizite oder implizite Richtung hin befragt werden (Zielt die Frage schon auf eine bestimmte Antwort ab? Ist die Frage also überhaupt eine Frage, oder doch nur eine als rhetorische Frage verkleidete Aussage?). Eine Frage kann auf ihre Sinnhaltigkeit befragt werden (Ist es sinnvoll, diese Frage so oder überhaupt zu stellen?).

Was ist das Ziel des Zweifels?

Insofern der Zweifel aus dem Erwidern einer Frage mit einer Gegenfrage und damit auch aus dem Erwidern der Gegenfrage mit einer weiteren Gegenfrage besteht, gibt es kein Ziel des Zweifels in Form einer anzustrebenden Antwort. Ziel des Zweifels ist es lediglich, das Gespräch und damit das Denken in Gang zu halten. Der Zweifel, verstanden als Gegenfrage, produziert höchstens vorläufige Antworten, indem er seinerseits Prämissen zur Voraussetzung hat, eine Richtung anzeigt und seine eigene Sinnhaftigkeit behauptet. Damit wird der Zweifel als Akt der Gegenfrage selbst zum Gegenstand des Zweifels.

Gibt es unbezweifelbare Tatsachen, also Fragen, die ein für alle Mal beantwortet werden müssen?

Nein. Alle Fragen sind immer dem Zweifel zugänglich. Weil der Zweifel Prämissen, Richtungen und Sinn sichtbar zu machen versucht, leistet er Erkenntnisarbeit in dem Sinne, dass er die Konstruktion von sogenannten letztgültigen Wahrheiten als prinzipiell unabschließbar offenlegt. Der Zweifel behauptet nicht, dass es keine letztgültigen Wahrheiten gibt, der Zweifel hält lediglich das Gespräch und das Denken darüber in Gang.

Aber was ist zum Beispiel mit Werten, die wir für universell halten, also Menschenrechten, Schutz des Lebens usw.? Sind diese Tatsachen nicht vom Zweifel ausgenommen?

Der Zweifel zwingt dazu, Begründungen für Fragen zu liefern, indem er Prämissen, Richtung und Sinn einer Frage offenlegt. Deshalb ist der Zweifel auch kein Mittel der Dekonstruktion. Der Zweifel ist konstruktiv, indem er Schwächen der bisherigen Konstruktion offenlegt und darauf beharrt, die Konstruktion zu verbessern. Wenn man bestimmte Fragen dem Zweifel entziehen will, entzieht man diese Fragen dem Denken und Sprechen darüber. Damit schwächt man aber letztendlich diese Fragen, indem man ihnen die Möglichkeit zur Begründung verweigert. Fragen, die vom Zweifel ausgenommen werden, produzieren Ideologien. Eine Ideologie ist die Antwort auf eine Frage, die nicht bezweifelt wurde.

Ist dann der Zweifel nicht selbst eine Ideologie?

Nein. Der Zweifel ist keine metaphysische Tatsache im Sinne einer Antwort auf eine unbezweifelte Frage, er ist nur eine Methode des Denkens und Sprechens. Er ist selbst dem Zweifel zugänglich.

Führt der Zweifel dann nicht in einen bodenlosen Relativismus?

Nein. Der Zweifel bietet keine Grundlage für ein anything goes. Dem Zweifel liegt vielmehr ein nothing goes zugrunde. Dem Zweifel muss jede vorläufige Erkenntnis abgerungen werden. Der Zweifel als Denkwerkzeug produziert auch keine Beliebigkeiten, da Beliebigkeiten nicht begründbar sind, der Zweifel aber immer nach der Begründbarkeit fragt. Der Zweifel verhandelt auch nicht über Dinge oder macht Dinge verhandelbar, er fragt nach Begründungen für Fragen.

Verdammt der Zweifel nicht zur Handlungsunfähigkeit?

Handlungen sind keine Fragen, sondern Antworten auf Fragen, deshalb befasst sich der Zweifel nicht mit Handlungen. Der Zweifel befasst sich mit der Frage, deren Antwort die Handlung ist. Insofern die Frage, deren Antwort die Handlung ist, nicht immer explizit gestellt wird und zeitlich eng an diese geknüpft ist, sieht es so aus, als könne sich der Zweifel mit der Handlung selbst befassen. Eine Handlung kann aber nicht bezweifelt werden, sie ist einfach da. Sobald die Handlung da ist, kommt der Zweifel zu spät. Wenn es dem Zweifel gelingt, die Frage vor der Handlung mit einer Gegenfrage zu belegen und damit also das Gespräch in Gang zu halten, verzögert der Zweifel die Handlung als Antwort auf die Frage. Dieser Fall spielt im Alltag aber keine Rolle. Der Alltag besteht aus Handlungen, die als Antworten auf nicht expliziert formulierte Fragen diesen auf dem Fuss folgen. Deshalb ist der Zweifel oder die vermehrte Anwendung des Zweifels als Methode ein utopisches Projekt.

Dann ist der Zweifler dem Nichtzweifler aber doch hilflos ausgeliefert und letztlich nur Spielball der Handlungen des Nichtzweiflers?

Der Zweifel ist keine Haltung, er ist nur eine Methode des Denkens und In-Gang-Haltens eines Gespräches. Deshalb ist auch kein Mensch ausschließlich ein Zweifler oder Nichtzweifler. Da der Alltag, verstanden als Lebenswirklichkeit des Menschen, beinahe ausschließlich aus Handlungen besteht, spielt der Zweifel für den Alltag keine Rolle. Eine Handlung setzt einen Automatismus von Gegenhandlungen in Gang. In diesem Automatismus hat der Zweifel keinen Platz. Wenn der Automatismus aus Handlungen angelaufen ist, kommt der Zweifel bereits zu spät. Die Vermehrung des Zweifels aber als utopisches Projekt ist darauf aus, zwischen Frage und Antwort zu gelangen. Ziel des utopischen Projektes der Vermehrung des Zweifels muss es sein, zwischen immer mehr Fragen und ihre Antworten in Form von Handlungen zu gelangen. Der Zweifel muss missioniert werden. Dieses Ziel ist bezweifelbar. Der Zweifel an diesem Ziel ist aber schon der erste Schritt auf dieses Ziel zu.

Warum gibt es überhaupt so wenig Zweifel?

Der Zweifel erfordert die Möglichkeit, eine Frage im Raum stehen zu lassen, ohne sie sofort zu beantworten oder beantworten zu müssen. Nur im handlungsfreien Raum kann der Zweifel sich entfalten. Dieser Raum besteht im Alltag nicht, wo Handlung nahtlos auf Handlung folgt. Die Automatismen des Handelns, also: des Beantwortens von Fragen, kennen keinen Raum des Zweifels. Weil der Zweifel Handlungen nicht betrifft, dient die Reihung von Handlungen, also Antworten, auch der Ausübung von Macht. Macht wird durch die enge Reihung von Handlungen, also Antworten,  ausgeübt, zwischen die der Zweifel nicht gelangen kann. Ziel der Ausübung von Macht ist es, den Zweifel weiter zu verdrängen und letztendlich auszuschalten. Deshalb dient das utopische Projekt der Vermehrung des Zweifels auch der Freiheit.

Ach komm schon, ist das wirklich dein Ernst?

Der Zweifel als Methode des Denkens und Sprechens ist kein Allheilmittel. Er ist überhaupt kein Heilmittel. Er ist nur eine Methode. Die Anwendung der Methode des Zweifels zeitigt aber gewisse Folgen. Ohne Zweifel kein Sprechen und Denken. Ohne Zweifel keine Wissenschaft. Ohne Zweifel keine Kunst. Ohne Zweifel keine Demokratie, keine Menschenrechte, keine Rechtsstaatlichkeit. Während diese Dinge wie Antworten aussehen, müssen sie doch als Fragen und Gegenfragen im Prozeß der Anwendung der Methode des Zweifels verstanden werden.

Oh je, jetzt wird's aber doch sehr pathetisch...

Versteht man diese Konzepte als Antworten, also als metaphysische Dinge, die in irgendeinem Sinne da sind und also gefunden (entdeckt) werden können, dann sind diese Antworten naiv und damit pathetisch. Versteht man aber diese Konzepte als Fragen und Gegenfragen im Prozeß des Zweifelns, dann bekommen sie einen rein pragmatischen Sinn, weil der Zweifel dazu zwingt, Begründungen für diese Konzepte zu liefern. Das ist das Gegenteil von naivem Pathos.

Ich weiß nicht, irgendwie finde ich diese Art von abstraktem, sophistischem Gelaber ziemlich doof. Hilft doch keinem weiter, schon gar nicht in der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Situation.

Der Begriff "weiterhelfen" ist nicht klar definiert. In welchem Sinne soll wem überhaupt weitergeholfen werden? Wohin soll ihm weitergeholfen werden? Was soll das Ziel des Weiterhelfens sein? Worin besteht die aktuelle gesellschaftliche und politische Situation genau? Gibt es überhaupt soetwas wie "eine" Situation, oder sind es mehrere, wenn auch vielleicht miteinander verknüpfte Situationen, also mehrere Fragen und nicht nur eine? Ruft diese Aussage in dieser Form nicht einfach nur nach Handlungen? Impliziert die Formulierung nicht, dass es einer ganz bestimmten Art von Handlungen bedarf, um "weiterzuhelfen"? Ist die Forderung nach schnellen Antworten, also Handlungen, immer und auf allen Seiten ein Teil des Problems? Wird mit solchen Aussagen die zivilisatorische Wirkung des Zweifels zu unrecht verkleinert?

Naja, letztlich ist das natürlich doch eine äußerst bequeme Position, über die man leicht im kuschelig beheizten Wohnzimmer parlieren kann. Währenddessen werden draußen in der Welt in wahnsinniger Geschwindigkeit Fakten geschaffen, ziemlich beunruhigende Fakten.


Wenn wir das Gespräch und damit das Denken einstellen, weil es angeblich einfach nur bequem ist und keinem "weiterhilft", dann bleibt nichts anderes übrig, als in den Automatismus der Handlungen einzusteigen, mit allen Konsequenzen. Ansonsten ist es nicht meine Schuld und auch nicht mein Verdienst, dass ich in einem kuschelig beheizten Wohnzimmer sitze.

Du hast wohl auf alles eine Antwort?

Ja.

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