Dienstag, 31. Dezember 2013

Kommentar 26 - Für die Helenisierung der Neuen Musik oder Was wir vom Schlager lernen können

Es ist so einfach, sich über Schlager lustig zu machen. Viel zu einfach. Noch viel einfacher, als Herrn Müller von nebenan Neue-Markt-Aktien anzudrehen (für die Jüngeren: der Neue Markt war Anfang des Jahrtausends 'ne super Möglichkeit, Geld loszuwerden, wenn man zu faul war, die Scheine in einem Mülleimer selbst anzuzünden). Auf jeden Fall sind Schlagertexte saudoof, die Musik ist, naja, noch dööfer, die Arrangements klingen immer wie jahrelang fermentierter Fisch aus der Dose, die Sängerinnen sehen immer aus wie Eigenheimbesitzerinnen, die abends 40 Kilometer zur nächsten Disko mit Schaumparty fahren und sich dafür extra neuen Kajal vom Kik geholt haben, und überhaupt sind Leute, die sowas hören, entweder auch saudoof oder noch dööfer. Damit hätte ich also schonmal ganz klar gemacht, dass dieser ganze Schrott total unter meiner Würde ist und dass also meine Würde viel größer ist als die der ganzen Idioten netten Menschen, die einen Haufen Geld für Konzertkarten und CDs von Andrea Berg, Helene Fischer und Andreas Gabalier rauswerfen.
Aber warum, warum nur hören so viele Leute Schlager. Was geben ihnen die ewiggleichen Klischeetexte von Herzschmerz und Sehnsucht, warum kennen sie jede Liedzeile auswendig, warum fängt bei ihnen die Hüfte an zu wackeln, wenn das MIDI-Schlagzeug loslegt? Schlager ist insofern nochmal was anderes als "normaler" Pop (im Übrigen eine Unterscheidung, auf die die Hörer von Popmusik sehr großen Wert legen, die aber weder textlich noch musikalisch ausreichend begründet oder auch begründbar ist), als dass Schlagerhörer unheimlich treue Fans sind. Jahre-, ja jahrzehntelang folgen sie ihrem Star, reisen ihm nach, johlen, klatschen und schunkeln bei jedem Konzert, kaufen jede neue CD, lesen jedes Fitzelchen Homestory in der Echo der Frau, verteidigen ihn mit erbitterter Entschlossenheit gegen gehässige Youtube-Kommentare. Das Pop-Business ist da wesentlich kurzlebiger, schnellwechsliger. Was natürlich auch daran liegt, dass eine wie auch immer geartete Entwicklung des "Künstlers" im Schlager ausgeschlossen ist. Von vorneherein. Sie ist ganz einfach nicht vorgesehen. Ein Lied der Flippers von vor zwanzig Jahren klingt mehr oder weniger genauso wie eines von letztem Jahr. Ein Lied von Andrea Berg wird auch in zwanzig Jahren noch genauso klingen wie heute. Würde es das nicht, wäre es ganz einfach kein Schlager mehr. Die Genregrenzen sind sehr eng gesteckt. Und die Subgenres sind ganz klar aufgeteilt und zugeordnet. Es gibt den Schmachter für die Älteren (Semino Rossi), den "Rockigen" für die etwas Jüngeren (Andreas Gabalier), die "Verruchte" für ich weiß nicht wen (Andrea Berg) und die Alleswunderbarmacherin-und-IchhättesiegernealsmeineSchwiegertochter für einfach Alle (Helene Fischer). Übergänge, Abweichungen, Entwicklungen finden höchstens in sehr genau ausgemessenen, kontrollierten Bereichen statt und sind immer gleich Anlass für eine komplette, begleitende Berichterstattung in der Regenbogenpresse ("Helene Fischer außer Rand und Band - So wild rockte sie den Saal" oder so ähnlich).
Die Mechanismen dieses offensichtlich einträglichen Marktes liegen also ziemlich offen zutage. Das Interessante ist ja, dass das die Leute kein bißchen juckt. Man könnte ihnen eine gerichtsfeste Akte zusammenstellen, sie würden sich ihren Star nicht "wegnehmen" lassen wollen. Es ist also nicht nur vollkommen überflüssig, sondern auch geradezu kontraproduktiv, immerzu am Niveau des Schlagers rumzumäkeln. Es hilft nichts. Die, die es wissen, hören sowieso keinen Schlager - die, die Schlager hören, wollen es nicht wissen, oder wissen es vielleicht, verdrängen es aber.
Aufschluss darüber, wieso das alles dennoch funktioniert, habe ich mir von diesem Artikel erhofft, wurde aber bitter enttäuscht. Die Diskrepanz zwischen Titel und Text ist genausogroß wie bei der Regenbogenpresse. Erklärt wird gar nix, und das Fazit ist anscheinend, dass Helene Fischer allen Schlagersängern den Arsch gerettet hat, weil sie einfach toll ist. Naja.
Tatsache ist doch aber, dass Schlager von der Musik "lebt". Man stelle sich mal vor, die Helene wäre keine Schlagersängerin, sondern würde als Dichterin Lesungen mit ihren Songtexten veranstalten. Ein Stadion bekäme sie mit Zeilen wie: "Ich schließe meine Augen, lösche jedes Tabu, Küsse auf der Haut, so wie ein Liebes-Tattoo, oho, oho." (aus: Atemlos), hinter einem Tisch sitzend, mit einer funzeligen Leselampe und im Bachmannduktus vorgetragen sicher nicht voll. Erst die Musik macht aus der Ansammlung von zum Reimen gezwungenen Worten ein transportables Ganzes, das so viele Menschen erreicht. Die "Melodie" ist so einfach wie nur irgend möglich, bei den obigen Worten besteht sie aus nur zwei Tönen im Terzabstand (dis - h). Beim ersten Halbvers ist das Ganze mit der Tonika H-Dur unterlegt, beim zweiten mit der Tonikaparallele gis-moll. Selbstverständlich läßt die Dominante nicht auf sich warten, beim ersten "oho" kommt sie schon, beim zweiten geht's wieder zurück zur Tonika. Mit Kanonen auf Spatzen geschossen, könnte mir jetzt jemand kommen, aber irgendwo muss man ja anfangen, etwas zu verstehen. Also: Die nackten Worte bekommen ein ziemlich durchsichtiges Kleid aus Tönen. Eine einzelne Liedzeile ist so klar wie geseihte Kloßbrühe strukturiert. Auch das Arrangement macht die Soße nicht klumpig, simple Bassdrum mit "pumpendem" Bass, mehr isses nicht. Isses aber doch. Das Tempo ist 128, also relativ flott, aber nicht zu flott, gerade richtig, dass man bei jedem Schlag die Knie leicht beugen und so den Körper in Schwingung versetzen kann. Zusammen mit den leicht zu merkenden Worten (Augen-Tabu-Küsse-Liebes-Tattoo) und der Zweitonmelodie entsteht ein System, das den Zuhörer in Ganzheit in Schwingung versetzt. Der Körper bewegt sich, die Stimme singt mit, vielleicht klatscht man noch. Und das mit vielleicht tausend oder zehntausend anderen im Gleichklang. Im Grunde also eine rein körperliche Angelegenheit. Und von daher auch vollkommen verständlich, warum der an sich unsägliche Text keine große Rolle spielt. Er dient ja bloß als Aufhänger für die Melodietöne, als Eselsbrücke. Dass er von irgendeiner "Atemlosigkeit" faselt, ist nebensächlich, solange er genügend Hauptworte hat und sich jede zweite Zeile reimt. Überhaupt ist es ein Kennzeichen von Schlagertexten, dass sie hauptsächlich mit Substantiven und Adjektiven arbeiten. Verben spielen gar keine Rolle, die meisten sind "sind", "macht", "ist", oder sie werden gleich ganz weggelassen, so dass eine Zeile oft nur eine Reihung von Adjek- oder Substantiven ist. Ist ja auch klar, der Text selbst soll keine Bewegung transportieren, das würde nur unnötig mit dem Bewegungsimpuls der Musik interferieren.
Der Minimalismus der Strophen ist natürlich auch Strategie, denn erst beim Chorus soll es dann so richtig abgehen. Der Rhythmus wird durch zusätzliche Synthesizer hervorgehoben, harmonisch und melodisch ist der "Satz" jetzt ausgreifender. Die Strophe baut also die Spannung auf, die sich dann beim Chorus entlädt. Wieder körperlich. Haben vorher nur ein bißchen die Knie gewackelt, so gerät nun der ganze Körper ins Wanken, die berühmte Oberkörperhinundherdrehung setzt ein. Jetzt ist das Klatschen auch nicht mehr fakultativ sondern obligatorisch, die aufgestaute Energie muss ja irgendwohin. Nach einiger Zeit ist dieser Energieimpuls verpufft und folgerichtig gibt es einen formalen Abbruch und einen Neuaufbau mit einer zweiten Strophe. Das insgesamt höhere Energielevel als bei der ersten Strophe wird durch einen zusätzlichen Synthie, der harmonisch unterstützend eingreift, aufrecht erhalten. Es folgt das gleiche Spiel von Spannungsaufbau und -entladung. Danach gibt es aber keine dritte Strophe mehr (wahrscheinlich sind die Adjektive alle gegangen), sondern nur einen kurzen sogenannten Break und nochmal den Chorus.
Der ganze Aufbau des Liedes ist bis in die kleinsten Ritzen auf körperliche Reaktion hin berechnet. Nicht direkt auf's Tanzen hin, das wäre dann schon zu viel. Nein, man soll schon am Platz stehenbleiben (nicht umsonst finden viele Konzerte in bestuhlten Hallen statt), da aber soll die Musik möglichst körperlich wirken. Warum? Körperliche Bewegung ist ja eine angenehme Sache. Auf jeden Fall angenehmer als das Rumgekauere auf einem unbequemen Stuhl, wie in der klassischen und also auch der Neuen Musik üblich. Ständig versucht man, möglichst lautlos auf der Sitzfläche rumzurutschen und die Beine auszustrecken oder anzuwinkeln oder übereinanderzuschlagen, und immer gibt es diesen elendigen Hustenreiz, der garantiert an den ganz leisen Stellen im Konzert am allerschlimmsten ist. Von solchen zivilisatorischen Zwängen ist man beim Schlagerkonzert befreit. Niemand muss stillsitzen, keinen stört es, wenn man hustet. Im Gegenteil, man bewegt sich noch ein bißchen und verbrennt die Stückchen vom Kaffeetrinken. Und das auch noch gemeinsam mit so vielen anderen.
Während es also beim Schlager so ist, dass der Körper im Mittelpunkt steht und die, ähem, intellektuelle Erfahrung sich sehr in Grenzen hält, ist es bei der Neuen Musik genau andersrum. Der Körper ist eine total unerwünschte Begleitgabe zum hörenden Geist. Ich kenne kein einziges Stück Neue Musik, wo ich in Versuchung gewesen wäre, mitzuschunkeln. Nichtmal mitsingen kann man, das wäre ja noch ein Mindestmaß an körperlicher Aktivität. Beim klassisch-romantischen Repertoire geht das ja noch in großen Teilen. Beim Gefangenenchor oder der Ode an die Freude stellt sich durchaus so ein seltsam schlagereskes Gefühl ein, mitmachen zu müssen. Selbst bei der Großen Fuge. Bei der man vielleicht nicht grade die Hüfte kreisen lassen will, aber man doch bei den punktierten Rhythmen eine gewisse Körperlichkeit der Musik nicht absprechen kann.
Ich vermisse bei der Neuen Musik diese Einbeziehung des Körpers. Die Mitansprache meines Körpers. Denn der Körper ist ja nicht ein bloß nervendes, ewig krankes Anhängsel an den tollen Geist. Ohne Körper gäbe es gar keinen Geist. Jegliches Bewußtsein, jegliches Subjektgefühl beginnt mit der geistigen Repräsentation des eigenen Körpers (vgl. Thomas Metzinger). Auf ihre Weise ist die Neue Musik genauso einseitig und blind wie der Schlager. Nee, ich will nicht wieder Melodien, die jeder mitsingen kann. Nee, ich will keine Stampfrhythmen in der Kunstmusik etablieren. Es müßte doch aber möglich sein, eine Musik zu machen, die den Geist nicht einschläfert und dennoch auch dem Körper sein Recht läßt. Eine Art angeschlagerte Neue Musik. Dann werden wir auch wieder die Hallen füllen, wir werden Autogrammkarten haben und die Presse wird Homestories mit uns machen: "Sein süßes Geheimnis: So lebt und liebt der Neuemusikkomponist ZX".

1 Kommentar:

  1. @Erich: Sehr guter Text, vielen Dank. Meiner Meinung nach gibt es diese angeschlagerte Neue Musik seit den 1960er Jahren: Es ist die Minimal music Terry Rileys, Philip Glass' und Steve Reichs. Ich selber - aber das weißt du ja vermutlich bereits - sehe mich ganz aus dieser Tradition kommend (was - in Deutschland - ziemlich selten ist, wie ich mittlerweile weiß), versuche aber, sie in Richtung Neue Musik zu, äh, überwinden, weswegen ich mich auch immer als Post-Minimalist bezeichne. Zu all dem gibt's auch ein viertelstündiges Video-Interview mit Musikbeispiel im Eingang: http://vimeo.com/69253862

    Entspräche dieser Ansatz in etwa deinen Vorstellungen - oder liege ich da komplett falsch?

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