Donnerstag, 21. November 2013

Kommentar 8 - Märchenhaft

Der Heinrich von Ofterdingen von Novalis ist bestimmt kein hochaktueller Roman. Zu altmodisch, überholt, abgehoben, letztlich naiv wirkt dieser Versuch der (Re-?)Poetisierung der Welt. Die Landschaft ist wahlweise "reizend" oder "anmuthig", die Männer sind von "edler Gestalt", haben "klare, männliche" Gesichter, reden immer "freundlich" und "bescheiden", die Mädchen sind ausnahmslos "schön", "lieblich" und unheimlich leicht zu Tränen zu rühren. Überhaupt ist alles in dieser poetisierten Welt "mannichfaltig", "vorzüglich", "köstlich", "herrlich". Ich gebe zu, dass ich beim Lesen mehr als einmal von dieser unentwegten Flut von Adjektiven genervt war und am liebsten das Buch auf Nimmerwiedersehen zur Seite gelegt hätte.
Aber merkwürdigerweise hat mich diese beinahe schon unerträglich ideale Welt, durch die Heinrich auf seinem Weg zum Dichtertum wandert, dann doch nicht mehr losgelassen. Was ist eigentlich schlimm daran, dass die Menschen dort immer freundlich und in den ausgesuchtesten Worten miteinander sprechen? Was stört mich denn, wenn die Liebe sofort beim ersten Blick entbrennt und immer gleich eine ewige ist?
Natürlich haftet dem allem mehr als nur der Ruch des Eskapistischen an, und allzuleicht ist es, die heile (?), sorgsam von Novalis eingerichtete Welt zum Beispiel gegen die Auslotung der psychischen Abgründe beim ungleich aktueller wirkenden E.T.A. Hoffmann auszuspielen. Dabei ist die Konsequenz, mit der Novalis vorgeht, ziemlich beispiellos. Er schreibt genau den Roman, dessen Entstehungsbedingungen er mit seiner Schilderung einer idealen (= total poetisierten) Welt überhaupt erst schaffen will. Einen Roman, der sich gleichsam selbst schreibt, indem er geschrieben wird. Einen Roman, der mehrfach in sich selbst vorkommt. Ich würde mich sogar dazu versteigen, den Heinrich von Ofterdingen ein fraktales Gebilde zu nennen, das aus lauter selbstähnlichen, ineinandergeschachtelten Teilen besteht. Jedes im Roman erzählte Märchen und jede Lebensgeschichte, die Heinrich von seinen Bekanntschaften erzählt wird, enthält immer schon die (zum größten Teil ja unausgeführte) Gesamtanlage des Romans: den Weg zur Poesie, zur Totalpoesie. Im Grunde hochmodern, diese selbstähnlichen Strukturen, die ja sogar über den Buchkorpus sozusagen hinausreichen, indem der Roman selbst nur wieder auf seine nächsthöhere Schicht, nämlich das Leben verweist. Ein ideales Leben, selbstverständlich, ein unerreichbar ideales Leben. So wie der Roman als Fragment auch auf die Unerreichbarkeit seines eigenen Ideals verweist, so legt er in seiner bis zur Unerträglichkeit konsequenten Idealisierung die Differenz, nein, die Kluft zwischen Poesie und Leben offen. Darin ist er eigentlich fortschrittlicher als so mancher Roman aus dem nachfolgenden Realismus, der uns rein sprachlich vielleicht näher steht.
Ich habe mich jedenfalls mehrmals bei dem Gedanken ertappt, dass es doch wirklich schön wäre, wenn unsere Welt nur ein wenig mehr wie die des Heinrich von Ofterdingen sich anfühlte.

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