Der
Neue Konzeptualismus ist das neue große Ding in der Neuen Musik. Oder vielmehr nicht in der Neuen Musik. Die Vertreter des Neuen Konzeptualismus beharren ja darauf, die Neue Musik zu überwinden oder bereits überwunden zu haben. Sie kritisieren (vollkommen zurecht) die institutionelle Erstarrung und die damit einhergehende erschöpfte innovative Kraft der Neuen Musik. Der
Materialfortschritt, einst der Garant für die Gewißheit,
ganz vorne zu sein, verlangsame sich zusehends, wenn er nicht gar schon an sein Ende gekommen sei. Deshalb sei es höchste Zeit, sich vom Material ab- und den Gehalten zuzuwenden. Programmatisch angeregt und begleitet wird diese
Gehaltsästhetische Wende von dem Philosophen
Harry Lehmann.
Also wieder mal ein
Neues Irgendwas, nach der Neuen Einfachheit und der New Complexity jetzt halt der Neue Konzeptualismus. Neu deshalb, weil es ihn schon mal gab, den Konzeptualismus, und zwar vor etwa vierzig Jahren.
Ein Stück Konzeptkunst zu machen, ist im Grunde nicht weiter schwierig. Jeder, der Kunst macht, hat während der Arbeit zig Ideen, die gerade nicht zur aktuellen Arbeit passen. Wenn ich Konzeptkunst machen will, dann schreibe ich diese Ideen nicht mehr auf irgendeinen Notizzettel, um ihn für schlechte Zeiten aufzuheben, sondern ich veröffentliche diese nackte Idee als Konzept für ein zu realisierendes oder auch nicht zu realisierendes Kunstwerk. Vielleicht mache ich mir auch die Mühe, die Ausführung des Stückes selbst zu besorgen, etwa auf elektronischem Wege. Muss aber nicht sein. Die bloße Beschreibung einer wie auch immer gearteten (künstlerischen) Idee reicht vollkommen aus. Wenn es irgendwie geht, mache ich aus meiner einen Idee einen ganzen Konzeptzyklus, dazu brauche ich natürlich noch weitere Ideen, aber keine ganz neuen, sondern bloß Abwandlungsideen für die erste Idee, also sozusagen Ideen zweiten Grades, oder anders gesagt: Bastardideen. Das Ganze stelle ich dann auf meine Webseite (Halloooo,
Neuer Konzeptualismus!!). Fertig.
Diese Vorgehensweise hat mehrere Vorteile:
- Man ist nicht mehr auf irgendwelche Institutionen angewiesen, die für eine Aufführung und Verbreitung des eigenen Werkes sorgen.
- Man bekommt in relativ kurzer Zeit einen ziemlich beeindruckenden Werkkatalog zusammen.
- Man ist ästhetisch ganz weit vorne.
Um nicht dem Verdacht ausgesetzt zu sein, hohle Stammtischphrasen zu perpetuieren, will ich gleich mal klarstellen: Nein, Ihre dreijährige Nichte kann das nicht besser. Und nein, Konzeptkünstler sind keine arbeitsscheuen Halbexistenzen in der ohenhin schon von Arbeitsscheuigkeit und Halbexistenz durchsetzten Künstlerzunft. Sooo einfach ist es dann doch nicht.
Zugegeben, meine Schilderung des Herstellungsprozesses von Konzeptkunst ist, milde ausgedrückt, tendenziös. Das liegt aber nicht daran, dass ich Konzeptkunst nicht für Kunst hielte oder nicht zugestehen würde, dass Konzeptkunst schon irgendwie cool ist. Im Gegenteil, ich sympathisiere mit einigen der Grundgedanken der Neuen Konzeptualisten, vor allem demjenigen, dass die Ära des Materialfortschritts jetzt doch endlich mal vorbei ist und künstlerischer Fortschritt (ja genau, ich lasse hier absichtlich das böse Wort stehen, anstatt dass ich von einem bloßen Weitergehen sprechen) auf einem anderen Gebiet stattfindet (-n muss).
Was mir aber an konkreten Werken von den Neuen Konzeptualisten angeboten wird, das ist schon erschreckend dünne. Und ich rede hier gar nicht von den ratz fatz hingeschmierten Text-Konzepten oder Konzept-Texten, die ja häufig ganz nett sind und auch nicht weiter wehtun. Nein, ich rede von den "gewichtigen" Werken, also denen, die dann tatsächlich in mehr oder weniger prominentem Rahmen aufgeführt werden. Ich will mich in der nächsten Zeit mit einigen dieser Konzeptstücke beschäftigen und mache den Anfang mit einem Stück von Johannes Kreidler, dem energischsten und medial präsentesten Apologeten des Neuen Konzeptualismus.
Johannes Kreidler - Die "sich sammelnde Erfahrung" (Benn): der Ton
Die Großform ist einigermaßen übersichtlich, nämlich dreiteilig: Musik mit/ohne Videozuspiel; Videozuspiel ohne Musik; Musik mit/ohne Videozuspiel.
Eine Ebene darunter wird es schon verworrener. Ein erster grober Überblick ergibt für den ersten Teil, der ca. 7 Minuten, also ziemlich genau die Hälfte der Gesamtspieldauer des Stückes, einnimmt, folgenden Ablauf: Da wäre zum ersten das instrumental-elektronische Gewurschtel. Mir fällt beim besten Willen keine bessere Beschreibung dafür ein. Es sind einfach klanglich wenig differenzierte Blöcke von, nun ja, Gewurschtel. Die "echten" Instrumente spielen oder spielen nicht (laut Partitur recht häufig nicht), dazu kommen elektronisch veränderte Zuspielungen ihrer selbst. Mehrmals wird optisch darauf hingewiesen, dass das Klavier ein elektronisch "erweitertes" darstellt, indem die Pianistin zu elektronischen Klavierglissandi mit den Händen über den rechten Tastaturrand hinaus streicht. Das ist vielleicht ironisch gemeint, wahrscheinlich aber eher nicht, es ist halt eines der verwendeten Mittel, die sich in ihrer optischen und klanglichen Beliebigkeit zu einer Art grauer Wand fügen. Nun gut, eine graue Wand ist ja an sich weder gut noch schlecht, es ist halt eine graue Wand. Vielleicht ist sie ja auch deshalb grau, damit die späteren Farbtupfer umso satter wirken. Ich bin also tapfer und schalte ob dieser Klangödnis geistig noch nicht ab. Irgendwann, so bei Minute 1'44'', wird der grau verhangene Tonhimmel dann zerrissen vom repetierten a'. Aha, ein Farbtupfer. Klavier, Schlagzeug, Gitarre reichen einander den Ton (Achtung! Bezug zum TITEL!!!!) weiter. Dann brummt es irgendwie. Und dann geht das instrumental-elektronische Gewurschtel (im Folgenden als IEG abgekürzt) weiter. Immer mal wieder "konzertiert" das Klavier mit einem Videozuspiel oder einem Sampleschnipsel, aber alles in allem dauert der IEG-Teil bis 3'44''. Dann wird DER TON auf b repetiert, worauf es mit IEG weitergeht. Ab 4'23 dann kleine Solo-Einlagen von Klavier und Gitarre, danach wieder IEG, kurze TONrepitition bei 5'07'', Wechselspiel von Klavier und Videozuspiel bei 5'18'', dann Klavier solo (mit Elektronik) bis 7'20''. So weit so belanglos (also nicht nur das Stück, sondern auch meine etwas grobschlächtige Nacherzählung).
Jetzt wird's interessant. Der folgende Teil besteht lediglich aus einem Videozuspiel mit dem Titel Split Screen Studies. Man hört im Hintergrund des Videos der Aufführung, dass das Publikum sich gut unterhalten fühlt. Allgemeines Gelächter ob der überraschenden Einfälle, beispielsweise die Spielanweisung "to be held for a long time" aus der Composition 1960 #7 von LaMonte Young mit zwei Uhren nachzustellen, die einen Zeitabstand von einigen Stunden zeigen, jedoch aufgrund des split-screen-Verfahrens gleichzeitig zu sehen sind. Nett. Witzig. Vielleicht nicht gerade Loriot-witzig, aber solide, sagen wir mal Urban-Priol-witzig. Man sieht auf jeden Fall gern zu. Und läßt sich von den Einfällen überraschen. Und ist man erstmal im Sich-Überraschen-Lassen-Modus, dann vergeht die Zeit wie im Flug und man merkt gar nicht, dass 6 Minuten ins Land gezogen sind. Plötzlich aber ist alles vorbei und es wird wieder geIEGt. Zum Glück nicht mehr so lange, weil nach zwei weiteren Minuten das Stück fertig ist.
Die Split Screen Studies, das Herzstück des Ganzen, gab es übrigens schon vorher als eigenständige Reihe. Sie haben jetzt also mit der
"sich sammelnden Erfahrung" (Benn): der Ton einen Rahmen erhalten. Warum, frage ich mich. Ernsthaft. Ich verstehe das IEG nicht. Das mag so konzeptuell sein wie es will ("Musik mit Musik" usw.), es ist keine gute Musik. In jeder Definition des Wortes Musik. Also nicht nur in einer womöglich altmodischen, wo man bemängeln würde, dass das Ganze schlecht instrumentiert, die Harmonik vollkommen beliebig und das Material sowieso banal ist. Dagegen sind die Konzeptualisten ja gefeit, weil sie diese Kategorien ablehnen. Auch in einer erweiterten (= erneuerten) Definition, die die alten Kriterien von der Handwerklichkeit der Musik ganz aussen vor läßt und nur noch auf der nächsthöheren Ebene, also jener der
Struktur, operiert. Denn letztendlich ist genau das das Wesen des Konzeptes: In- bzw. Gehalte miteinander in Beziehung zu setzen. Also nicht mehr auf der Mikroebene zu komponieren, sondern auf der Makroebene. Wenn Cory Arcangel mit Youtube-Ausschnitten von Katzen, die auf Klaviaturen tapsen, die
Klavierstücke op. 11 von Schönberg neu "instrumentiert", dann "komponiert" er auf der nächsthöheren Ebene über den Tonbeziehungen. Die Töne sind schon da, ebenso die Youtube-Videos. Was neu ist, ist lediglich die Verbindung zwischen beiden Inhalten. Daher auch das häufig witzige Moment bei diesen Konzepten: Es gründet einfach auf dem Überraschungseffekt bei unerwarteten Verbindungen. Genau wie bei den Split Screen Studies. Überraschungsmoment ist hier die Verbindung von Titel und Video, also (z.B.) "to be held for a long time - from morning to midnight (with time paradox)" und dem Bild der beiden verschiedenen Uhrzeiten verbunden mit dem recht kurzen Ton. Diese Grundidee mit den beiden verschiedenen Uhrzeiten im Split-Screen-Verfahren generiert dann eine Anzahl Bastardideen, die letztendlich auf den gleichen Gag hinauslaufen: Der Widerspruch zwischen Titel und Video. Lustig. Beim ersten Mal vielleicht verblüffend ("Warum bin ich nicht auf diese Idee gekommen?"), beim zweiten Mal schon leicht nervend ("Okay, ich hab's verstanden.") und beim dritten Mal fragt man sich, was eigentlich neben diesem offensichtlichen Gag sonst noch so dabei 'rumkommt. Die Beziehung zwischen Titel und Inhalt ist im Grunde eindimensional, ganz auf die Pointe gerichtet. Das Konzept - in diesem Fall könnte man es mit "Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" paraphrasieren - wird gnadenlos durchgezogen. Einfach, weil es das
KONZEPT ist. Das Konzept erlöst den Komponisten von lästigen Entscheidungen, wie sie die
Alten noch zuhauf treffen mußten. Im Grunde ist es ein auf die Spitze getriebener Serialismus. War dort noch die Mathematik (= die Serie) für die Erlösung zuständig, ist es heute eben das Konzept. Die totale Unterordnung unter ein Ordnungsprinzip. Der Komponist trifft keine kleinteiligen Entscheidungen mehr, er legt das Konzept fest und delegiert sämtliche weiteren Entscheidungen nach unten. Krasseste Beispiele sind die sogenannten Sonifikationen von ganzen Büchern, also die wie auch immer technisch vollzogene Umwandlung von Buchstaben in Töne. Beispiele
hier und
hier. Keiner würde sich die gesamten mehr als drei Stunden des "Grass-Zyklus" anhören (zumindest hoffe ich das ...), was zählt, ist das Konzept. Schon nach zehn Sekunden ist ja völlig klar, worauf das Ganze hinausläuft, nämlich wiederum nur auf einen Gag: Der Begriff "Vertonung" wird einfach in einem anderen Sinn gebraucht, als man dies bisher getan hat. Fertig. Ja klar, vielleicht wird man ja dadurch angeregt, über den Sinn und Unsinn von Vertonungen insgesamt einmal feste Nachzudenken. Oder man lernt neue Techniken kennen, so wie ja auch in der Formel 1 (angeblich) neue Techniken für eine irgendwann einmal einzuleitende Serienfertigung in der Automobilindustrie getestet werden. Der Konzeptualisums als Formel 1 der Neue-Musik-Welt?
Richtig schwierig aber wird es erst da, wo der Konzeptualismus mit ernster Miene daherkommt. So wie in den IEG-Teilen in Kreidlers Stück. Da kommt der Konzeptualist auch nicht mehr so einfach mit der Negierung sämtlicher Kunstkategorien durch. Da, wo der Konzeptualist auch nur den Anschein erweckt, herkömmlich zu komponieren, und sei es angereichert mit Audio- und Videozuspiel (und mal ehrlich,
das gehört ja nun fast schon zum guten Ton), begibt er sich in die Klauen von handwerklichen Kriterien. Wenn
DAS KONZEPT durch irgendwelche Unschärfen (z.B. "richtiges" Komponieren) nicht in jeder einzelnen Sekunde im Hinterkopf mitgedacht werden kann, wenn es nicht in jeder Vierundsechzigstelnote sich äußert, dann hört man, ja was wohl: Richtig! Neue Musik! Und dann fällt das Konzeptkartenhaus schlagartig in sich zusammen. Kein einziges Verhältnis in den IEG-Teilen ist in irgendeiner perzipierbaren Weise durchdacht: Das der Instrumente untereinander (was macht eigentlich die Flöte die ganze Zeit?), das der Instrumente zu ihren elektronischen Erweiterungen / Zuspielungen (toll, toll, toll, das elektronische Klavier kann viel höher spielen als das echte), das der Kleinformteile untereinander (dicht, dünn, "konzertant": wann und warum), das der Musik zur Videozuspielung (Split Screen, Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, okay, und dazu alternierend oder begleitend 'n paar Klaviertöne??), das der Musik zur Audiozuspielung (beliebig?), das der Audiozuspielung zur Videozuspielung (auch beliebig?). Um es mit Kreidlers
eigenen Worten (5'02'') zu sagen: "Neue Musik at its worst."
In furchterregender Banalität tritt die Neue-Musik-Haftigkeit der IEG-Teile in den kurzen Solo-Parts nach 4'29'' (laut Partitur) zutage: Diese Neue-Musik-"Melodien" sind nirgendwo als Zitate markiert, weder explizit in der Partitur noch implizit durch irgendwelche musikalischen Anführungszeichen, so dass man davon ausgehen muss, dass sie den "richtigen" kompositorischen Willen Kreidlers darstellen. Wahrscheinlich sind sie aber doch aus irgendeinem Zufallsalgorithmus gewonnen, weil Kreidler das gerne macht. Also doch wieder ein Konzept. Aber ein Konzept ohne "Anleitung". Und ein Konzept ohne Anleitung ist: Erdbeerkuchen mit Spinatlasagne (natürlich gibt es immer irgendwo irgendjemanden, dem das schmeckt...). Kreidler selbst betont immer wieder die Wichtigkeit einer "Anleitung" für Konzeptkunst, die dem Stück in irgendeiner Form beigegeben sein muss (und zwar nicht a posteriori im Programmheft). Hier fehlt sie.
Was ebenso fehlt sind irgendwelche selbstreflektorischen Gedanken zum technischen Aufwand, der rund um das Stück getrieben wird. Es ist keine technische Kleinigkeit, Audio- und Videozuspiel auf die Bühne zu bringen, umso mehr erstaunt die Selbstverständlichkeit, mit der über diese
décadence hinweggegangen wird. Technische Machbarkeit ist das Eine, technische Angemessenheit das Andere. Bei mir jedenfalls läßt sich der Eindruck nicht abschütteln, der technische Overkill (es gibt noch weitaus
absurdere Missverhältnisse, aber dazu demnächst mehr) führt immer öfter zu Stücken, die mehr einer Machbarkeitsstudie ähneln als dem tatsächlichen Bau einer Umgehungsstraße (um mal im technischen Bilderfeld zu bleiben).
Mich erinnert dieses Vorgehen an die im Rückblick beinahe schon unwirklich scheinende Naivität des Fortschrittsglaubens des 19. Jahrhunderts. Man wußte es einfach noch nicht besser. Obwohl man es hätte können.
Nachtrag: Den Titel des Stückes und den Bezug des Ganzen zu Benn habe ich nicht weiter "untersucht". Ich nehme mal an, dass es irgendwie was mit dem Konzept zu tun hat.