Freitag, 29. November 2013

Kommentar 9 - Schon wieder Geld, aber diesmal keine Kunst

Gestern lese ich diesen Artikel in Spiegel Online. Interessant, denke ich, es gibt tatsächlich einen Verein, der "Bürger für Beethoven" heißt. Und dieser Verein will, dass Beethoven als immaterielles UNESCO-Weltkulturerbe geschützt wird. Aha. Und im Koalitionsvertrag der neuen schwarz-roten Regierung steht offensichtlich drin, dass die Beethoven-Festspiele zum 250. Geburtstag eine "nationale Aufgabe" sein sollen. Im KOALITIONSVERTRAG !!!! Nie was drüber in der Tagesschau gehört. Wurde anscheinend in langwierigen Geheimverhandlungen auf höchster Ebene beschlossen. Wahrscheinlich will man die SPD-Basis nicht noch vor dem Votum aufschrecken. Und hat das Ganze deshalb so niedrig gehängt. Na gut, das ist ja kein politischer Blog hier, ich bin sicher, von diesem Passus im Koalitionsvertrag werden wir später noch gaaanz viel hören ...
Aber dieser Verein in Bonn, der läßt mir keine Ruhe. "Bürger für Beethoven", das klingt, als würden in der ganzen Republik Beethoven-Konterfeis geschändet, Beethoven-Büsten zertrümmert, Henkel von Beethoven-Tassen abgeschlagen und Beethoven-Jutetaschen verbrannt. Steht es wirklich so schlimm um einen unserer nationalen Heroen? Muss Beethoven geschützt werden? Und wenn ja, vor wem?
Mein Puls ist schon bei hundertachzig, mit brennender Sorge über die zunehmende Missachtung unseres Weltgenies lese ich weiter. Beethoven soll als "Bestandteil lebendiger Alltagskultur der Menschen in Deutschland und in der Welt" erhalten bleiben. Okay. Finde ich gut. Die "Ode an die Freude" kann ich gar nicht oft genug hören. Vielleicht bekommt der Verein durch verstärktes Lobbying ja noch einen Satz in den Koalitionsvertrag, in dem die Aufführung des vierten Satzes der Neunten Symphonie in jedem Konzert mit klassischer oder auch zeitgenössischer Musik gefordert wird. Wobei der Status der zeitgenössischen "Musik" als Musik eventuell durch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss geklärt werden müßte. Aber auch für den Fall, dass der Abschlussbericht des PU's trotz prominenter Zeugen ("Herr Rihm, äußern Sie sich zu den vorgebrachten Anschuldigungen!") abschlägig ausfällt, kann es ja nicht schaden, die "Ode" trotzdem in den Konzerten mit zeitgenössischem Quatsch zu spielen. Dann gibt es wenigstens ein Stück ordentliche Musik zu hören. Nö, also da kann ich wirklich nichts dagegen sagen, "lebendige Alltagskultur" finde ich toll, genauso "Menschen"; und auch "Deutschland" und "die Welt" sind schöne Wörter.
Ich überlege schon, dem Verein beizutreten, ich bin schließlich "Bürger" und "für Beethoven". Dann lese ich aber noch weiter und folgendes:
Nach Eisels [dem Vorsitzenden des Vereins] Ansicht könnte das "nationale Beethoven-Signal im Koalitionsvertrag" auch dem Bauprojekt eines Beethoven-Festspielhauses in Bonn einen Schub geben. Der Bund will für den Betrieb eines solchen Festspielhauses 39 Millionen Euro zur Verfügung stellen. (Spiegel Online vom 28.11.2013)
Moment mal, denke ich, das kann ja gar nicht sein. Diese Spiegel-Schreiberlinge sind doch wirklich perfide. Stellen einen Zusammenhang zwischen dem Bemühen eines ehrenwerten Vereins in Bonn um das ehrende Angedenken eines Nationalheiligtums und der schnöden Finanzierung eines unnötigen großartigen Festspielhauses her. So geht es ja nun nicht, liebe Spiegel-Redakteure. Ich will mir ein eigenes Bild machen. Eilig gehe ich auf die Internet-Präsenz meines Vereins. Tolle Seite übrigens. Oben als Banner ein schönes Autograph vom Meister himself (natürlich die "Mondscheinsonate", das schönste aller schönen Stücke) und davor ein Violinkorpus. Mit wunderschöner Handwriting-Schrift darüber der Name des Vereins. Ich bin schonmal begeistert. Meine Begeisterung wächst mit dem schönen Artikel zum Weltkulturerbe-Anliegen. Wasserdichte Argumentation. Beethovens Kopf ist ein vielbenutztes Motiv. Die 9. und das Anfangsmotiv der 5. Symphonie sind allgegenwärtig. Viele Straßen wurden und werden nach dem Genie benannt. Und Richard von Weizsäcker ist auch dafür. Unter dem Artikel hunderte Beweisphotos von Beethoven als "Bestandteil der Alltagskultur". Also wenn dieser Antrag nicht durchgeht, dann hat sich die Welterbe-Kommission nur selbst lächerlich gemacht.
Neben dem Artikel ein kleiner, verschämter Hinweis auf die Spendenaktion für das neue Festspielhaus (übrigens mit einem tollen Bild, das Beethoven Zieharmonika spielend vor irgendeinem Sockel sitzend zeigt). Natürlich klicke ich drauf. Gleich oben auf der Spendenseite der Hinweis, dass Spenden an den Verein steuerlich abzugsfähig sind. Gut zu wissen! Unten ist der Beethoven-Taler abgebildet, aus dessen Lizenzeinnahmen ein Teil der Kosten für das Festspielhaus bestritten werden soll. Gelungenes Design, muss ich sagen. Und man kann draufklicken. Wunder der modernen Technik. Ach so, es ist ein Schokotaler. Ich dachte, es sei eine Silbermünze. Aber klar, Schokolade und Beethoven, das gab's noch nicht in der "Alltagskultur", und so bleibt der Verein seinem Anliegen konsequent treu. Schmeckt bestimmt super, zumal es ganz unterschiedliche Geschmacksrichtungen gibt. Keine Frage für mich, da mache ich mit. Unschlüssig bin ich nur noch, ob ich nun das kleine "Goldtaler"-Lizenzpaket für 10.000 € im Jahr nehme, oder doch gleich das "Platintaler"-Paket für 25.000 €.
Wieder zurück auf der Vereins-Seite lese ich, dass nicht nur der Bund bereits 39 Mio. Euro zugesichert hat, sondern dass die "DAX-Unternehmen" (nicht etwa irgendwelche popeligen ausserbörslich notierten Klitschen) DHL, Postbank, und Telekom 75 - 100 Mio. Euro beisteuern wollen. Und dass die "Bürger für Beethoven" auch alle Mitglied bei den "Fest.Spiel.Haus.Freunden" sind (also den Festspiel Hausfreunden). Halt, halt, halt, denke ich, nochmal der Reihe nach. Es ging doch darum, dass wir wieder mehr Beethoven-Kopf-Bilder in deutschen Fussgängerzonen und mehr Teilaufführungen der 5. Symphonie brauchen. Was sollen wir denn da mit einem Festspielhaus? Ich bin ja wirklich Beethoven-begeistert, aber ein 100 Mio. teures Haus, um darin das Anfangsmotiv der 5. und den Schlussatz der 9. aufzuführen und im Foyer Beethoven-Büsten aufzustellen, das kommt mir dann doch etwas aus der Relation geraten vor. Auch wenn die DAX-Konzerne (also nicht irgendwelche kleinen Klitschen) Postbank, DHL und Telekom einen Riesenhaufen Geld zuschießen, der Bund muss ja trotzdem die 39 Mio. liefern. Vielleicht könnte er ja bloß 34 Mio. nach Bonn transferieren und dem unheimlich klammen SWR 5 Mio für den Erhalt des Baden-Badener und Freiburger Orchesters rüberschieben. Ach nein, da fällt mir ein, dass die ja gar keinen Beethoven spielen. Oder nur ganz selten. Die machen diesen Neue-Musik-Quatsch. Neee, dann lass mal. 39 Mio. nach Bonn für die Schokotaler und gut is. Also ich bin dafür! Und rufe hiermit zur Gründung des Vereins "Bürger für 'Bürger für Beethoven'" auf.

Freitag, 22. November 2013

Kommentar 5.3 - Also Krieg, ne, Krieg, ich sach mal so, so 'n Krieg, das is' wirklich 'ne schlimme, schlimme Sache / Fetzen einer Poetik 3

Weiter geht es mit meiner Reihe der Verrisse Analysen von Werken des Neuen Konzeptualismus. Heute:

Stefan Prins - Generation Kill

Ich war da. Höchstpersönlich. Bei der Uraufführung von Generation Kill von Stefan Prins bei den Donaueschinger Musiktagen letztes Jahr. Und ich muss sagen, das "Erlebnis" kommt in dem Youtube-Video nicht einmal annähernd rüber. Es war laut. Unheimlich laut. Und lang. Unheimlich lang. Fünfundzwanzig Minuten können sich wirklich ziehen, wenn man beinahe ununterbrochen mit Klang im eher unangenehmen Frequenzspektrum beschallt, nein, was sage ich, angeschrieen wird.

Um was geht's also in dem Stück? Stefan Prins läßt uns glücklicherweise nicht im Unklaren darüber. Ich paraphrasiere mal aus dem Programmhefttext: Der Arabische Frühling hatte viel von seiner Wucht den sozialen Netzwerken (für diejenigen, die mit diesem recht neuartigen Begriff nichts anfangen können: zum Beispiel Facebook und Twitter) zu verdanken. Stefan Prins hat das aufmerksam verfolgt. Dann hat er sich im Internet (wo denn bitte sonst?) umgesehen und einen Trailer für eine Fernsehserie gefunden, die Verfilumg eines Buches, in dem es um die Erlebnisse eines "embedded reporters" während des zweiten Irak-Krieges geht. Darin (also in dem Buch) hat er ein Zitat eines Soldaten aufgegabelt, in dem dieser berichtet, stets mit einem "good song in the background" in die Schlacht zu ziehen. Außerdem, so Evan Wright, der Autor des Buches zur Fernsehserie, sei dieser Krieg der erste der "Generation Playstation" gewesen, und diese Generation habe einen sehr guten Job im Krieg gemacht. Stefan Prins ist zurecht entsetzt. Und beschließt, ein Stück über sein Entsetzen zu machen.
Da sitzen also vier Spieler mit Gamecontrollern mit dem Rücken zum Publikum vor der Bühne. Auf der Bühne sitzen vier Instrumentalisten (Geige, Cello, Schlagzeug, E-Gitarre) hinter halbdurchsichtigen Leinwänden. Auf die Leinwände werden Videoaufnahmen der Instrumentalisten projiziert, so dass sie sich mit den dahinter sitzenden echten Instrumentalisten überlagern. Die Aufnahmen werden von den vier Gamepad-Spielern gesteuert.
Klanglich bewegt sich das Ganze in eher glitchigen Sphären, wobei die Spannweite von sehr glitchig bis total glitchig reicht. Die Instrumente werden mit allem, was das Arsenal der erweiterten Spieltechniken hergibt, malträtiert bedient, eine Differenz zur elektronisch veränderten Zuspielung ist größtenteils nicht mehr auszumachen (ist ja auch klar, es geht immerhin irgendwie um Krieg in dem Stück und da kann man nicht erwarten, einen schönen, warmen Celloton zu hören). Die elektronischen Verfremdungseffekte werden durchwegs (zumindest im ersten Teil bis Minute 11) durch seeeeeehr laaaangsaaaames Aaaabspieeeeeel oderdurchsehrschnellesabspiel vorwärts oder sträwkcür erreicht. Das geht also mal mehr, mal weniger mehr dicht ungefähr elf Minuten lang in dieser spannungslos aufgeregten Art, dann stehen die Gamepad-Spieler auf und wechseln die Plätze. Das sieht (auf dem Video und in echt) irgendwie unbeholfen aus und wirkt völlig unmotiviert. Einziger Effekt ist, dass man während der folgenden sechs Minuten ständig versucht herauszufinden, warum die jetzt die Plätze gewechselt haben. Es ist nämlich keineswegs so, dass nun irgendwelche Über-Kreuz-Aktionen stattfinden. Das heißt: Vielleicht finden sie statt, vielleicht steuert also jetzt der Spieler auf Platz drei den Instrumentalisten (bzw. dessen Video- und / oder Audiozuspiel) auf Platz vier oder so. Aber man hat keine Möglichkeit herauszufinden, ob und wenn ja wie das geschieht. Man sieht nur eine Änderung in den Videoprojektionen, die nun nicht mehr frontal den Instrumentalisten zeigen, sondern live-Aufnahmen von links oben, die offensichtlich ebenso live gesampelt werden und forthin als Videozuspiel dienen. Außerdem sind nun Klang und Video voneinander entkoppelt, während sie in den ersten elf Minuten streng aneinandergebunden waren. Ob das alles etwas mit dem Sitzplatzwechsel zu tun hat, entzieht sich der Herausfindbarkeit.
Klanglich tut sich nichts, es ist und bleibt für die nächsten sechs Minuten glitchig, selbst wenn die echten Instrumente gespielt werden (siehe erweiterte Spieltechniken).
Dann, bei Minute 17 und ein paar, hören plötzlich alle auf zu spielen und wir sehen knapp zwei Minuten lang Videos von echten Drohnenangriffen. Also diese grünlichen Bilder, die wir aus den Nachrichten kennen, wenn mal wieder wahlweise ein Terrorist in seinem Unterschlupf oder eine Hochzeitsgesellschaft mit chirurgischer Präzision eliminiert wird. Mich überkommt ein leichtes Unwohlsein: Kann es wirklich sein, dass Stefan Prins den im Programmheft zusammengezimmerten Zusammenhang zwischen Computerspiel und echtem Krieg eins zu eins umgesetzt hat? Ich zweifle noch, nehme ihn innerlich vor mir selbst in Schutz. Aber dann geht das Stück weiter und wir sehen die Gamepad-Spieler selbst auf den Videoleinwänden, wie sie die Klänge steuern. Aha!! Damit wir nicht vergessen, was sie eigentlich steuern, sind immer mal wieder die grünlichen Bilder von den Drohnenangriffen dazwischengeschnitten. Und damit wirklich überhaupt gar kein Zweifel mehr aufkommt, lösen sich die Videozuspielungen der Instrumentalisten nach und nach in grüne (!) Pixel auf. Nur klanglich werden wir nicht weiter mit irgendwelchen Bezügen behelligt, das geht so in einem fort wie es vorher aufgehört hat, vielleicht ein bisschen dichter jetzt. Ganz am Schluss tauschen, weil das ja bei den Gamepad-Spielern schon so ein super Effekt war, nochmal die Instrumentalisten die Plätze und mit elektronischem Geknattere hört das Stück dann auf.

Ich muss zugeben, dass ich mich spätestens ab der Stelle mit den Drohnenvideos ein klitzekleines bisschen fremdgeschämt habe. Zu offensichtlich und eindeutig (= eindimensional) ist der Zusammenhang, den Prins herstellen will: Unsere Generation ist von der virtuellen Realität versaut und kann deshalb gar nicht mehr unterscheiden, wer oder was mit den Gamepads überhaupt gesteuert wird. Diese Aussage ist nicht nur von keinerlei Selbstreflexion angekränkelt, sie ist letztendlich auch wieder nur ein Gag, wenn auch ein unlustiger: Gamepad -> Klang- /Videosteuerung wird umgedeutet zu Gamepad -> Drohnensteuerung. Für einen bloßen Gag aber finde ich die Einspielung von Videos, in denen echte Menschen getötet werden, reichlich unangemessen, um nicht zu sagen: zynisch. Die Funktionalisierung von echten Todesopfern zum Wohle eines Konzeptes. Und nur das Konzept ist wichtig. Nicht irgendeine doofe Realität, die andauernd mit irgendwelchen Schattierungen daherkommt. Dass zum Beispiel irgendwelche alten Säcke älteren Herren, die mit einer Playstation bestimmt nichts am Hut haben, in irgendeinem Büro die Entscheidungen für bestimmte Einsätze oder Kriege treffen und schon lange darauf hinarbeiten, dass demnächst nicht mehr Menschen, sondern künstliche "Intelligenzen" die einzelnen Tötungsentscheidungen treffen, das würde die Prins'sche Gleichung nur unnötig verkomplizieren und wird daher ausgeblendet.
Wenn ich konkrete Aussagen über die Welt machen will, dann kann ich mich nicht einfach mit einer zurechtgestutzten Version der Welt abgeben. Damit mache ich ja genau das, was ich eigentlich "kritisieren" will: nämlich nicht die Welt (= die Menschen in ihr) als solche zur Kenntnis zu nehmen, sondern eine bloß virtuelle, vorgestellte, auf Linie gebrachte Version von ihr (von ihnen).

Stefan Prins wollte nach eigener Aussage ein Stück machen, das "on a society which is more and more monitored, on the increasing importance of internet, networks and social media, which are fuelled by video's taken with webcams and smartphones, on video-games and on wars fought like video-games, on the line between reality and virtuality which gets thinner by the day" reflektiert. Das ist eine ganze Menge Inhalt, selbst für ein 25minütiges Ensemblestück. Oder vielleicht auch nicht. Denn im Grunde stehen in diesem Text recht unverbunden einige ziemlich neumodische Schlagworte beieinander und treten sich gegenseitig auf die Füße. Wirklich etwas bedeuten (in dem Sinne, dass diesem Haufen von Signifikanten auch eine entsprechende Anzahl von Signifikaten entgegenstünde) tut das alles nichts. Genauso ist dann auch das dazugehörige Stück: ein Haufen Bedeutungsträger, die auf nichts verweisen, außer auf die ziemlich lahme Aussage, dass technisch heute so einiges möglich aber vielleicht nicht wünschenswert ist. Wenn ich mir den gigantischen Max/MSP-Patch vorstelle, der auf den Laptops der Gamepad-Spieler wahrscheinlich läuft, dann kann ich dieser Aussage nur zustimmen. Immerhin.


Donnerstag, 21. November 2013

Kommentar 8 - Märchenhaft

Der Heinrich von Ofterdingen von Novalis ist bestimmt kein hochaktueller Roman. Zu altmodisch, überholt, abgehoben, letztlich naiv wirkt dieser Versuch der (Re-?)Poetisierung der Welt. Die Landschaft ist wahlweise "reizend" oder "anmuthig", die Männer sind von "edler Gestalt", haben "klare, männliche" Gesichter, reden immer "freundlich" und "bescheiden", die Mädchen sind ausnahmslos "schön", "lieblich" und unheimlich leicht zu Tränen zu rühren. Überhaupt ist alles in dieser poetisierten Welt "mannichfaltig", "vorzüglich", "köstlich", "herrlich". Ich gebe zu, dass ich beim Lesen mehr als einmal von dieser unentwegten Flut von Adjektiven genervt war und am liebsten das Buch auf Nimmerwiedersehen zur Seite gelegt hätte.
Aber merkwürdigerweise hat mich diese beinahe schon unerträglich ideale Welt, durch die Heinrich auf seinem Weg zum Dichtertum wandert, dann doch nicht mehr losgelassen. Was ist eigentlich schlimm daran, dass die Menschen dort immer freundlich und in den ausgesuchtesten Worten miteinander sprechen? Was stört mich denn, wenn die Liebe sofort beim ersten Blick entbrennt und immer gleich eine ewige ist?
Natürlich haftet dem allem mehr als nur der Ruch des Eskapistischen an, und allzuleicht ist es, die heile (?), sorgsam von Novalis eingerichtete Welt zum Beispiel gegen die Auslotung der psychischen Abgründe beim ungleich aktueller wirkenden E.T.A. Hoffmann auszuspielen. Dabei ist die Konsequenz, mit der Novalis vorgeht, ziemlich beispiellos. Er schreibt genau den Roman, dessen Entstehungsbedingungen er mit seiner Schilderung einer idealen (= total poetisierten) Welt überhaupt erst schaffen will. Einen Roman, der sich gleichsam selbst schreibt, indem er geschrieben wird. Einen Roman, der mehrfach in sich selbst vorkommt. Ich würde mich sogar dazu versteigen, den Heinrich von Ofterdingen ein fraktales Gebilde zu nennen, das aus lauter selbstähnlichen, ineinandergeschachtelten Teilen besteht. Jedes im Roman erzählte Märchen und jede Lebensgeschichte, die Heinrich von seinen Bekanntschaften erzählt wird, enthält immer schon die (zum größten Teil ja unausgeführte) Gesamtanlage des Romans: den Weg zur Poesie, zur Totalpoesie. Im Grunde hochmodern, diese selbstähnlichen Strukturen, die ja sogar über den Buchkorpus sozusagen hinausreichen, indem der Roman selbst nur wieder auf seine nächsthöhere Schicht, nämlich das Leben verweist. Ein ideales Leben, selbstverständlich, ein unerreichbar ideales Leben. So wie der Roman als Fragment auch auf die Unerreichbarkeit seines eigenen Ideals verweist, so legt er in seiner bis zur Unerträglichkeit konsequenten Idealisierung die Differenz, nein, die Kluft zwischen Poesie und Leben offen. Darin ist er eigentlich fortschrittlicher als so mancher Roman aus dem nachfolgenden Realismus, der uns rein sprachlich vielleicht näher steht.
Ich habe mich jedenfalls mehrmals bei dem Gedanken ertappt, dass es doch wirklich schön wäre, wenn unsere Welt nur ein wenig mehr wie die des Heinrich von Ofterdingen sich anfühlte.

Mittwoch, 20. November 2013

Kommentar 7 (5.1.1) - the answer, my friend / Was ich neulich mal dachte 2

Neulich mal dachte ich, dass Kunst nicht immer nur Fragen stellen sollte. Kunst sollte Antworten geben: Welches IKEA-Sofa soll ich mir kaufen, welches Smartphone soll ich mir zulegen, brauche ich wirklich eine mobile Internet-Flatrate oder reicht eventuell eine Begrenzung auf 300MB, soll ich Winter- oder lieber Ganzjahresreifen draufmachen, mir einen Apple- oder Windows-Rechner kaufen oder endlich mal komplett auf Linux umsteigen, soll ich Salatdressing mit Honig oder mit Zucker machen, meine Bücher alphabetisch oder chronologisch sortieren, soll ich riestern oder lieber gleich eine Kapitallebensversicherung abschließen,eine Mütze aufziehen oder doch nur eine Kapuze, den Dreck auf dem Boden aufkehren oder aufsaugen, mich endlich mal bei Facebook anmelden, fertig geschnittenes Brot kaufen oder zuhause selbst schneiden, fettarme Milch oder Vollmilch (entrahmte Milch ist indiskutabel) einkaufen, Lätta oder Rama, Nutella oder "Schokocreme", Kuschelweich oder Dussy, den SPIEGEL oder FOCUS lesen oder keinen von beiden, soll ich die dreißig Meter zum Briefkasten schnell mit dem Auto fahren (es regnet immerhin ein wenig) oder mit dem Fahrrad oder vielleicht doch laufen, soll ich den Heizkörper auf "2" oder doch auf "3" aufdrehen, soll ich ARD und ZDF in HD schauen oder in SD, soll ich mir endlich mal einen Bleistift mit auswechselbaren Minen kaufen oder stattdessen einen elektrischen Bleistiftanspitzer, und braucht meine Geschirrspülmaschine überhaupt extra Reinigungssalz oder ist das schon in den Tabs drinne.
Ich habe genügend Fragen. Und warte auf eine Kunst, die sie mir beantwortet. Wer denn sonst?

Dienstag, 19. November 2013

Kommentar 6 (4a) - Noch mehr Geld für noch weniger Kunst

Als hätte ich es geahnt, lese ich in der ZEIT vom 14. November einen Kommentar von Hanno Rauterberg zum aktuellen Rekordpreis für ein Werk von Jeff Koons. Im Gegensatz zu Bacon lebt Koons ja noch, und das offensichtlich nicht schlecht. Jetzt hat also sein Balloon Dog (Orange) den hübschen Preis von 43,46 Millionen Euro erzielt. Für Hanno Rauterberg ein Anlaß, einmal über das Verhältnis von Kunst und Geld nachzudenken.
Naja, ich schreibe "nachdenken", meine aber eher "schwadronieren". Denn besonders erhellend sind Rauterbergs Einlassungen nicht. Da gibt es zum einen den berühmten "Künstlerkönig" Jeff Koons, den "immer bestens gelaunten Amerikaner", der "großformatige Nichtigkeiten" herstellt. Seine Arbeiten sind "nicht sonderlich originell, nicht radikal, nicht tiefsinnig oder gar provozierend". Weiter gibt es den heutigen Kunstmarkt als "globales Geschäft, oft oberflächlich, ortlos, ohne einen Hallraum, in dem ihr [der Kunst] Funke gewaltig zünden könnte". Dagegen war früher, in den good ol' times, alles besser, als Kunst noch Provokation war, als Künstler noch nicht ihre Werke zu Auktionen schleppten, sondern "den Traum von einer anderen, besseren Welt" träumten. Und zu guter Letzt gibt es die geistig hohlen Superreichen, die sich Kunstwerke als "Insignien der Macht" anschaffen, in denen sie ihren "eigenen Reichtum [...] feiern".
Rauterberg steht nach eigener Aussage ob dieser gezahlten Riesensumme für ein offensichtlich wertloses "Kunst"objekt vor einem Rätsel: "Was nur macht diesen Pudel so wertvoll?" Seine Antwort am Ende seines Ausfluges in das Reich des bösen Kunstmarktes: "Erst das Geld rettet das Ballon-Tierchen aus seiner Banalität und verleiht ihm einen scheinbar überzeitlichen Rang."
Man spürt förmlich, wenn man den Artikel liest, wie Rauterberg sich am liebsten permanent übergeben würde, wie er sich ekelt vor diesem Kunstzirkus, vor dem ganzen Geld, vor den Menschen, die darin eine Rolle spielen. Nur ist so ein starkes Gefühl wie Ekel kein guter Begleiter beim Denken. Und so kommt es, dass Rauterberg eigentlich komplett danebenliegt. Er verfällt den Mechanismen, die er vorgibt, so sehr zu verabscheuen. Nur weil irgendwer behauptet, dieser Zirkus sei ein Kunstmarkt, in dem Kunstobjekte gehandelt würden, heißt das noch lange nicht, daß dem so ist. Und doch versucht Rauterberg die ganze Zeit über, den Pudel irgendwie als Kunstwerk zu verstehen. Dabei ist die Sache doch ganz einfach: Es ist keine Kunst. Rätsel gelöst. Man muss nicht über den Niedergang der Kunst jammern, man muss nicht wieder und wieder erzählen, wie toll und provokant die Kunst früher mal war und es heute nicht mehr ist. Es gibt auch heute noch tolle, provokante Kunst, für die keine Horrorpreise gezahlt werden. Nur gibt es sie eben nicht mehr im Kunstmarkt. Alles, was dort gehandelt wird, verliert seinen Status als Kunstwerk. Ganz einfach deshalb, weil der Batzen Geld, der mit dem jeweiligen Objekt verküpft wird, den Kunstcharakter unterminiert. Ich kann mir ein solches Stück nicht mehr ansehen, ohne das Geld mitzudenken. Das Geld wird zu einem essentiellen Bestandteil der Rezeption. Alles Kunsthafte wird nur noch unter dem einen Blickwinkel betrachtet: Ist es sein Geld wert. Leider, leider gilt dies auch für die Werke der alten Meister, denen man ja ohne weiteres zugestehen muss, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Entstehung Kunstwerke waren. Geraten sie aber in den aktuellen Kunstmarkt, verlieren sie diesen Status. Und werden zu Aktienpapieren. Der Taschenspielertrick, einfach das Geld selbst zur Kunst zu erklären, wie Rauterberg das versucht ("In den funkelnden Oberflächen der Koons-Skulpturen erscheint das Geld selbst als große Kunst. Der materielle wandelt sich in einen ideellen Wert."), mag naheliegen, ist aber eigentlich eine Kapitulation vor den Mechanismen des Marktes: Als könne der Markt bestimmen, was Kunst ist und was nicht. Und wir müßten hinterherhecheln und die entsprechenden Begründungen liefern. Nein. Der Markt ist eine Kunstvernichtungsmaschine. Dass er Kunstmarkt heißt, ist eigentlich eine Niederträchtigkeit.
Rauterberg ist ja der Meinung, dass ein Kunstwerk keine "vernünftige Investition" sei. Ein Betrag wie der für den Koons'schen Pudel gezahlte lasse sich "kaum deutlich vermehren". Aber verkauft der Besitzer des Pudels ihn in einigen Jahren für 48 Millionen Euro (absolut gesehen kein großer Sprung), dann hat er eine Rendite von über 10% eingefahren. Und das mit einer relativ großen Sicherheit. Keine andere Anlageform bietet diese Möglichkeiten bei vergleichsweise geringem Risiko.
Leute, kauft Kunst!

Montag, 18. November 2013

Kommentar 5.2 - Konzeptskonzept / Fetzen einer Poetik 2

Der Neue Konzeptualismus ist das neue große Ding in der Neuen Musik. Oder vielmehr nicht in der Neuen Musik. Die Vertreter des Neuen Konzeptualismus beharren ja darauf, die Neue Musik zu überwinden oder bereits überwunden zu haben. Sie kritisieren (vollkommen zurecht) die institutionelle Erstarrung und die damit einhergehende erschöpfte innovative Kraft der Neuen Musik. Der Materialfortschritt, einst der Garant für die Gewißheit, ganz vorne zu sein, verlangsame sich zusehends, wenn er nicht gar schon an sein Ende gekommen sei. Deshalb sei es höchste Zeit, sich vom Material ab- und den Gehalten zuzuwenden. Programmatisch angeregt und begleitet wird diese Gehaltsästhetische Wende von dem Philosophen Harry Lehmann.
Also wieder mal ein Neues Irgendwas, nach der Neuen Einfachheit und der New Complexity jetzt halt der Neue Konzeptualismus. Neu deshalb, weil es ihn schon mal gab, den Konzeptualismus, und zwar vor etwa vierzig Jahren.
Ein Stück Konzeptkunst zu machen, ist im Grunde nicht weiter schwierig. Jeder, der Kunst macht, hat während der Arbeit zig Ideen, die gerade nicht zur aktuellen Arbeit passen. Wenn ich Konzeptkunst machen will, dann schreibe ich diese Ideen nicht mehr auf irgendeinen Notizzettel, um ihn für schlechte Zeiten aufzuheben, sondern ich veröffentliche diese nackte Idee als Konzept für ein zu realisierendes oder auch nicht zu realisierendes Kunstwerk. Vielleicht mache ich mir auch die Mühe, die Ausführung des Stückes selbst zu besorgen, etwa auf elektronischem Wege. Muss aber nicht sein. Die bloße Beschreibung einer wie auch immer gearteten (künstlerischen) Idee reicht vollkommen aus. Wenn es irgendwie geht, mache ich aus meiner einen Idee einen ganzen Konzeptzyklus, dazu brauche ich natürlich noch weitere Ideen, aber keine ganz neuen, sondern bloß Abwandlungsideen für die erste Idee, also sozusagen Ideen zweiten Grades, oder anders gesagt: Bastardideen. Das Ganze stelle ich dann auf meine Webseite (Halloooo, Neuer Konzeptualismus!!). Fertig.
Diese Vorgehensweise hat mehrere Vorteile:
  1. Man ist nicht mehr auf irgendwelche Institutionen angewiesen, die für eine Aufführung und Verbreitung des eigenen Werkes sorgen.
  2. Man bekommt in relativ kurzer Zeit einen ziemlich beeindruckenden Werkkatalog zusammen.
  3. Man ist ästhetisch ganz weit vorne.
Um nicht dem Verdacht ausgesetzt zu sein, hohle Stammtischphrasen zu perpetuieren, will ich gleich mal klarstellen: Nein, Ihre dreijährige Nichte kann das nicht besser. Und nein, Konzeptkünstler sind keine arbeitsscheuen Halbexistenzen in der ohenhin schon von Arbeitsscheuigkeit und Halbexistenz durchsetzten Künstlerzunft. Sooo einfach ist es dann doch nicht.
Zugegeben, meine Schilderung des Herstellungsprozesses von Konzeptkunst ist, milde ausgedrückt, tendenziös. Das liegt aber nicht daran, dass ich Konzeptkunst nicht für Kunst hielte oder nicht zugestehen würde, dass Konzeptkunst schon irgendwie cool ist. Im Gegenteil, ich sympathisiere mit einigen der Grundgedanken der Neuen Konzeptualisten, vor allem demjenigen, dass die Ära des Materialfortschritts jetzt doch endlich mal vorbei ist und künstlerischer Fortschritt (ja genau, ich lasse hier absichtlich das böse Wort stehen, anstatt dass ich von einem bloßen Weitergehen sprechen) auf einem anderen Gebiet stattfindet (-n muss).
Was mir aber an konkreten Werken von den Neuen Konzeptualisten angeboten wird, das ist schon erschreckend dünne. Und ich rede hier gar nicht von den ratz fatz hingeschmierten Text-Konzepten oder Konzept-Texten, die ja häufig ganz nett sind und auch nicht weiter wehtun. Nein, ich rede von den "gewichtigen" Werken, also denen, die dann tatsächlich in mehr oder weniger prominentem Rahmen aufgeführt werden. Ich will mich in der nächsten Zeit mit einigen dieser Konzeptstücke beschäftigen und mache den Anfang mit einem Stück von Johannes Kreidler, dem energischsten und medial präsentesten Apologeten des Neuen Konzeptualismus.

Johannes Kreidler - Die "sich sammelnde Erfahrung" (Benn): der Ton

Die Großform ist einigermaßen übersichtlich, nämlich dreiteilig: Musik mit/ohne Videozuspiel; Videozuspiel ohne Musik; Musik mit/ohne Videozuspiel.
Eine Ebene darunter wird es schon verworrener. Ein erster grober Überblick ergibt für den ersten Teil, der ca. 7 Minuten, also ziemlich genau die Hälfte der Gesamtspieldauer des Stückes, einnimmt, folgenden Ablauf: Da wäre zum ersten das instrumental-elektronische Gewurschtel. Mir fällt beim besten Willen keine bessere Beschreibung dafür ein. Es sind einfach klanglich wenig differenzierte Blöcke von, nun ja, Gewurschtel. Die "echten" Instrumente spielen oder spielen nicht (laut Partitur recht häufig nicht), dazu kommen elektronisch veränderte Zuspielungen ihrer selbst. Mehrmals wird optisch darauf hingewiesen, dass das Klavier ein elektronisch "erweitertes" darstellt, indem die Pianistin zu elektronischen Klavierglissandi mit den Händen über den rechten Tastaturrand hinaus streicht. Das ist vielleicht ironisch gemeint, wahrscheinlich aber eher nicht, es ist halt eines der verwendeten Mittel, die sich in ihrer optischen und klanglichen Beliebigkeit zu einer Art grauer Wand fügen. Nun gut, eine graue Wand ist ja an sich weder gut noch schlecht, es ist halt eine graue Wand. Vielleicht ist sie ja auch deshalb grau, damit die späteren Farbtupfer umso satter wirken. Ich bin also tapfer und schalte ob dieser Klangödnis geistig noch nicht ab. Irgendwann, so bei Minute 1'44'', wird der grau verhangene Tonhimmel dann zerrissen vom repetierten a'. Aha, ein Farbtupfer. Klavier, Schlagzeug, Gitarre reichen einander den Ton (Achtung! Bezug zum TITEL!!!!) weiter. Dann brummt es irgendwie. Und dann geht das instrumental-elektronische Gewurschtel (im Folgenden als IEG abgekürzt) weiter. Immer mal wieder "konzertiert" das Klavier mit einem Videozuspiel oder einem Sampleschnipsel, aber alles in allem dauert der IEG-Teil bis 3'44''. Dann wird DER TON auf b repetiert, worauf es mit IEG weitergeht. Ab 4'23 dann kleine Solo-Einlagen von Klavier und Gitarre, danach wieder IEG, kurze TONrepitition bei 5'07'', Wechselspiel von Klavier und Videozuspiel bei 5'18'', dann Klavier solo (mit Elektronik) bis 7'20''. So weit so belanglos (also nicht nur das Stück, sondern auch meine etwas grobschlächtige Nacherzählung).
Jetzt wird's interessant. Der folgende Teil besteht lediglich aus einem Videozuspiel mit dem Titel Split Screen Studies. Man hört im Hintergrund des Videos der Aufführung, dass das Publikum sich gut unterhalten fühlt. Allgemeines Gelächter ob der überraschenden Einfälle, beispielsweise die Spielanweisung "to be held for a long time" aus der Composition 1960 #7 von LaMonte Young mit zwei Uhren nachzustellen, die einen Zeitabstand von einigen Stunden zeigen, jedoch aufgrund des split-screen-Verfahrens gleichzeitig zu sehen sind. Nett. Witzig. Vielleicht nicht gerade Loriot-witzig, aber solide, sagen wir mal Urban-Priol-witzig. Man sieht auf jeden Fall gern zu. Und läßt sich von den Einfällen überraschen. Und ist man erstmal im Sich-Überraschen-Lassen-Modus, dann vergeht die Zeit wie im Flug und man merkt gar nicht, dass 6 Minuten ins Land gezogen sind. Plötzlich aber ist alles vorbei und es wird wieder geIEGt. Zum Glück nicht mehr so lange, weil nach zwei weiteren Minuten das Stück fertig ist.
Die Split Screen Studies, das Herzstück des Ganzen, gab es übrigens schon vorher als eigenständige Reihe. Sie haben jetzt also mit der "sich sammelnden Erfahrung" (Benn): der Ton einen Rahmen erhalten. Warum, frage ich mich. Ernsthaft. Ich verstehe das IEG nicht. Das mag so konzeptuell sein wie es will ("Musik mit Musik" usw.), es ist keine gute Musik. In jeder Definition des Wortes Musik. Also nicht nur in einer womöglich altmodischen, wo man bemängeln würde, dass das Ganze schlecht instrumentiert, die Harmonik vollkommen beliebig und das Material sowieso banal ist. Dagegen sind die Konzeptualisten ja gefeit, weil sie diese Kategorien ablehnen. Auch in einer erweiterten (= erneuerten) Definition, die die alten Kriterien von der Handwerklichkeit der Musik ganz aussen vor läßt und nur noch auf der nächsthöheren Ebene, also jener der Struktur, operiert. Denn letztendlich ist genau das das Wesen des Konzeptes: In- bzw. Gehalte miteinander in Beziehung zu setzen. Also nicht mehr auf der Mikroebene zu komponieren, sondern auf der Makroebene. Wenn Cory Arcangel mit Youtube-Ausschnitten von Katzen, die auf Klaviaturen tapsen, die Klavierstücke op. 11 von Schönberg neu "instrumentiert", dann "komponiert" er auf der nächsthöheren Ebene über den Tonbeziehungen. Die Töne sind schon da, ebenso die Youtube-Videos. Was neu ist, ist lediglich die Verbindung zwischen beiden Inhalten. Daher auch das häufig witzige Moment bei diesen Konzepten: Es gründet einfach auf dem Überraschungseffekt bei unerwarteten Verbindungen. Genau wie bei den Split Screen Studies. Überraschungsmoment ist hier die Verbindung von Titel und Video, also (z.B.) "to be held for a long time - from morning to midnight (with time paradox)" und dem Bild der beiden verschiedenen Uhrzeiten verbunden mit dem recht kurzen Ton. Diese Grundidee mit den beiden verschiedenen Uhrzeiten im Split-Screen-Verfahren generiert dann eine Anzahl Bastardideen, die letztendlich auf den gleichen Gag hinauslaufen: Der Widerspruch zwischen Titel und Video. Lustig. Beim ersten Mal vielleicht verblüffend ("Warum bin ich nicht auf diese Idee gekommen?"), beim zweiten Mal schon leicht nervend ("Okay, ich hab's verstanden.") und beim dritten Mal fragt man sich, was eigentlich neben diesem offensichtlichen Gag sonst noch so dabei 'rumkommt. Die Beziehung zwischen Titel und Inhalt ist im Grunde eindimensional, ganz auf die Pointe gerichtet. Das Konzept - in diesem Fall könnte man es mit "Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" paraphrasieren - wird gnadenlos durchgezogen. Einfach, weil es das KONZEPT ist. Das Konzept erlöst den Komponisten von lästigen Entscheidungen, wie sie die Alten noch zuhauf treffen mußten. Im Grunde ist es ein auf die Spitze getriebener Serialismus. War dort noch die Mathematik (= die Serie) für die Erlösung zuständig, ist es heute eben das Konzept. Die totale Unterordnung unter ein Ordnungsprinzip. Der Komponist trifft keine kleinteiligen Entscheidungen mehr, er legt das Konzept fest und delegiert sämtliche weiteren Entscheidungen nach unten. Krasseste Beispiele sind die sogenannten Sonifikationen von ganzen Büchern, also die wie auch immer technisch vollzogene Umwandlung von Buchstaben in Töne. Beispiele hier und hier. Keiner würde sich die gesamten mehr als drei Stunden des "Grass-Zyklus" anhören (zumindest hoffe ich das ...), was zählt, ist das Konzept. Schon nach zehn Sekunden ist ja völlig klar, worauf das Ganze hinausläuft, nämlich wiederum nur auf einen Gag: Der Begriff "Vertonung" wird einfach in einem anderen Sinn gebraucht, als man dies bisher getan hat. Fertig. Ja klar, vielleicht wird man ja dadurch angeregt, über den Sinn und Unsinn von Vertonungen insgesamt einmal feste Nachzudenken. Oder man lernt neue Techniken kennen, so wie ja auch in der Formel 1 (angeblich) neue Techniken für eine irgendwann einmal einzuleitende Serienfertigung in der Automobilindustrie getestet werden. Der Konzeptualisums als Formel 1 der Neue-Musik-Welt?
Richtig schwierig aber wird es erst da, wo der Konzeptualismus mit ernster Miene daherkommt. So wie in den IEG-Teilen in Kreidlers Stück. Da kommt der Konzeptualist auch nicht mehr so einfach mit der Negierung sämtlicher Kunstkategorien durch. Da, wo der Konzeptualist auch nur den Anschein erweckt, herkömmlich zu komponieren, und sei es angereichert mit Audio- und Videozuspiel (und mal ehrlich, das gehört ja nun fast schon zum guten Ton), begibt er sich in die Klauen von handwerklichen Kriterien. Wenn DAS KONZEPT durch irgendwelche Unschärfen (z.B. "richtiges" Komponieren) nicht in jeder einzelnen Sekunde im Hinterkopf mitgedacht werden kann, wenn es nicht in jeder Vierundsechzigstelnote sich äußert, dann hört man, ja was wohl: Richtig! Neue Musik! Und dann fällt das Konzeptkartenhaus schlagartig in sich zusammen. Kein einziges Verhältnis in den IEG-Teilen ist in irgendeiner perzipierbaren Weise durchdacht: Das der Instrumente untereinander (was macht eigentlich die Flöte die ganze Zeit?), das der Instrumente zu ihren elektronischen Erweiterungen / Zuspielungen (toll, toll, toll, das elektronische Klavier kann viel höher spielen als das echte), das der Kleinformteile untereinander (dicht, dünn, "konzertant": wann und warum), das der Musik zur Videozuspielung (Split Screen, Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, okay, und dazu alternierend oder begleitend 'n paar Klaviertöne??), das der Musik zur Audiozuspielung (beliebig?), das der Audiozuspielung zur Videozuspielung (auch beliebig?). Um es mit Kreidlers eigenen Worten (5'02'') zu sagen: "Neue Musik at its worst."
In furchterregender Banalität tritt die Neue-Musik-Haftigkeit der IEG-Teile in den kurzen Solo-Parts nach 4'29'' (laut Partitur) zutage: Diese Neue-Musik-"Melodien" sind nirgendwo als Zitate markiert, weder explizit in der Partitur noch implizit durch irgendwelche musikalischen Anführungszeichen, so dass man davon ausgehen muss, dass sie den "richtigen" kompositorischen Willen Kreidlers darstellen. Wahrscheinlich sind sie aber doch aus irgendeinem Zufallsalgorithmus gewonnen, weil Kreidler das gerne macht. Also doch wieder ein Konzept. Aber ein Konzept ohne "Anleitung". Und ein Konzept ohne Anleitung ist: Erdbeerkuchen mit Spinatlasagne (natürlich gibt es immer irgendwo irgendjemanden, dem das schmeckt...). Kreidler selbst betont immer wieder die Wichtigkeit einer "Anleitung" für Konzeptkunst, die dem Stück in irgendeiner Form beigegeben sein muss (und zwar nicht a posteriori im Programmheft). Hier fehlt sie.
Was ebenso fehlt sind irgendwelche selbstreflektorischen Gedanken zum technischen Aufwand, der rund um das Stück getrieben wird. Es ist keine technische Kleinigkeit, Audio- und Videozuspiel auf die Bühne zu bringen, umso mehr erstaunt die Selbstverständlichkeit, mit der über diese décadence hinweggegangen wird. Technische Machbarkeit ist das Eine, technische Angemessenheit das Andere. Bei mir jedenfalls läßt sich der Eindruck nicht abschütteln, der technische Overkill (es gibt noch weitaus absurdere Missverhältnisse, aber dazu demnächst mehr) führt immer öfter zu Stücken, die mehr einer Machbarkeitsstudie ähneln als dem tatsächlichen Bau einer Umgehungsstraße (um mal im technischen Bilderfeld zu bleiben).
Mich erinnert dieses Vorgehen an die im Rückblick beinahe schon unwirklich scheinende Naivität des Fortschrittsglaubens des 19. Jahrhunderts. Man wußte es einfach noch nicht besser. Obwohl man es hätte können.

Nachtrag: Den Titel des Stückes und den Bezug des Ganzen zu Benn habe ich nicht weiter "untersucht". Ich nehme mal an, dass es irgendwie was mit dem Konzept zu tun hat.



Donnerstag, 14. November 2013

Kommentar 5.1 - Was ich neulich mal dachte / Fetzen einer Poetik 1

Neulich einmal dachte ich, dass es doch möglich sein müßte, ein Stück zu komponieren, das sich nicht entwickelt. Also ein Stück, das zwar fortschreitet, in dem etwas geschieht, in dem das Material selbst aber nicht entwickelt wird. Die Entwicklung der entwickelnden Variation ist ja inzwischen so weit gelangt, dass sogar das Material selbst am Anfang des Stückes erstmal entwickelt wird, was natürlich bloß eine Pseudo-Entwicklung ist, weil der Komponist (hoffentlich) schon am Anfang des Stückes weiß, wie es später mal weitergehen soll. Ich kann sie nicht mehr hören, die ganzen tastenden und suchenden Gesten in Stückanfängen, die ja ein Tasten und Suchen bloß vorschützen und deshalb verlogen sind.
Warum nicht mal wieder etwas setzen. Etwas behaupten. Einfach so. Ohne Rückversicherung. Und im weiteren Verlauf des Stückes dann über diese Behauptung reden. Einen Dialog schaffen. Zwischen Rede und Gegenrede. Einwürfen. Abschweifungen. Explikationen. Eine Behauptung kann man nicht entwickeln. Eine Behauptung kann man nur umrunden. Man kann Gründe dafür und Gründe dagegen suchen und vielleicht finden. Man kann die Behauptung verneinen oder bejahen. Man kann sie aus diesem und jenem Blickwinkel betrachten. Aber man kann sie nicht variieren, verändern, anpassen. Ansonsten würde sich im Nachhinein herausstellen, dass es gar keine Behauptung war, sondern bloß eine strategische Aussage. Die Behauptung muss intakt bleiben, sie darf als semantische Einheit nicht in Frage gestellt werden. Ihre Unversehrtheit muss gewährleistet bleiben. No matter what. Die Behauptung darf blöd-, un- oder scharfsinnig sein. Nur eins darf sie nicht sein: die Behauptung einer Behauptung. Sie darf in sich selbst nicht ironisch gebrochen sein.
Ein Stück also konkret als Abfolge von semantisch unversehrbaren Einheiten (=Formteilen) begreifen. Die Großform aus kleinen formalen Einheiten, die in sich selbst stabil sind, zusammenzimmern. Man könnte an einen imaginierten Sampler denken, der die einzelnen formalen Morpheme abfeuert. Die Morpheme erzeugen den Rhythmus des Stückes. Seine Dynamik. Das Material innerhalb der Morpheme kann alles mögliche sein, Selbstkomponiertes, zitierte Musik, Gesten, Szenisches usw. Die Einheit des Stückes wird gewährleistet durch das Prinzip des Dialogs: Die Morpheme "reden" miteinander. Deshalb ist ihr Inhalt auch immer aufeinander bezogen, selbst da, wo er offensichtlich oder vermeintlich bezugslos daherkommt. Im Grunde ist das dann keine "reine" Musik mehr, sondern eine Performance.

Mittwoch, 13. November 2013

Kommentar 4 - Die Kunst und das liebe Geld

Heute konnte man lesen, dass die Three Studies of Lucian Freud von Francis Bacon bei einer Auktion in New York einen Rekordpreis von 142,4 Millionen Dollar erzielt haben.
Nochmal zum Mitlesen: einhundertzweiundvierzig Millionen und vierhunderttausend  Dollar.
Oder, beim aktuellen Wechselkurs: 106 127 729 Euro.
Ich kann mir solche Geldbeträge nur schlecht vorstellen, irgendwie taucht vor meinem inneren Auge dann immer der Geldspeicher von Onkel Dagobert auf. Es ist auf jeden Fall eine ganze Menge Kohle. Eine groteske Menge Kohle. "Unmoralisch viel" müßte ich eigentlich gleich noch hinzufügen, damit sofort klar ist, dass ich mich hier eines politisch korrekten Umgangstons befleißige. Ich distanziere mich also hiermit von diesem gigantischen Haufen Geld. Und nenne ihn "unmoralisch". Soviel dazu.

Immer mal wieder tauchen diese Rekordmeldungen in der Presse auf und jedesmal spürt man beim Lesen eine gewisse Begeisterung der Autoren für diese absurden Rekorde. Ist ja auch verständlich, wir lieben es, unsere Welt schön ordentlich zu sortieren, es muss nun mal einen größten Menschen der Welt geben und einen kleinsten, das schnellste Serienauto der Welt, das höchste Haus der Welt, die größte Stadt der Welt, das reichste Land der Welt und eben auch das teuerste Kunstwerk der Welt. Der Superlativ garantiert Stabilität, weil er absolut ist. Kein relativistisches Wischi-waschi wie beim Komparativ, bei dem immer noch ein Zweites als Bezugspunkt herangezogen werden muss. Nein, im Superlativ ist man einsam an der Spitze. Von was auch immer. Aber man ist oben.
Da man nun den ästhetischen Wert eines Kunstwerkes und damit seine Position in der Bestenliste nicht in Zahlen festmachen kann, rechnet man ihn kurzerhand in Geld um. Das funktioniert wie alles im Geldmarkt durch den Rechenfaktor Glauben. Wenn ich daran glaube, dass die Aktie eines Unternehmens irgendwann mehr wert ist als jetzt, dann kaufe ich sie. Vielleicht finde ich hier und da ein rationales (Schein-)Argument, das meinen Glauben stützt, aber Glaube bleibt Glaube, und es wird auch mit zehntausend Wirtschaftstheologen keine Wissenschaft draus (als bedürfte es noch eines Beispiels erwähne ich nur nebenher den kürzlichen, höchst erfolgreichen Börsengang von Twitter, einem Unternehmen, das noch keinen einzigen Cent Gewinn gemacht hat). Dass also solch eine Gemäldeaktie ausserdem noch ein Kunstwerk ist, spielt eigentlich nur insofern eine Rolle, als sie wie ein schön gestaltetes Aktienpapier einen gewissen überschüssigen Wert hat, den man noch obendrauf bekommt, der aber eigentlich gar nichts kostet: den ästhetischen. Ansonsten ist sie als Handelsprodukt eingebettet in einen Markt, der genauso funktioniert wie der stinknormale Markt der Industriegüter. Wenn viele Leute etwas wollen, was es nicht in entsprechender Menge gibt, dann wird es teuer. Und da das Angebot an Werken von Bacon oder Munch oder van Gogh eben sehr begrenzt ist und die Nachfrage offensichtlich sehr groß, sind die Preise auch entsprechend.
Als Komponist kann man über diesen Kunstmarkt nur staunen. Wie bei einem schlimmen Unfall kann man gar nicht wegsehen, voller Neugierde, was da eigentlich los ist und gleichzeitig froh, nicht selbst drinzustecken. Und - hier verlasse ich das Bild des Unfalls - mit etwas wehmütigem Neid ob der wunderschönen Summen, die man dort, auch als Künstler, verdienen kann. Hätte man doch nur auch so ein handfestes Produkt wie die Bildenden, das man verkaufen könnte.

Oh Musik, Du flüchtiges Danaergeschenk!

Dienstag, 12. November 2013

Kommentar 3 - Claus-Steffen Mahnkopf hört sich ein Streichquartett von Wolfgang Rihm an und schreibt nachher was drüber

In der aktuellen Musik&Ästhetik (Heft 68, Oktober 2103) ist eine Rezension von Claus-Steffen Mahnkopf über Wolgang Rihms neues Streichquintett Epilog erschienen. Das Streichquintett wurde, so erzählt es Mahnkopf, beim diesjährigen Eclat-Festival zu Ehren dessen scheidenden Leiters Hans-Peter Jahn vom Arditti Quartett und Jean-Guihen Queyras uraufgeführt. Die Rezension ist ebenfalls Jahn zugeeignet. So weit so gut.

In scheinbar lockerem Plauderton berichtet Mahnkopf, was ihm so beim Hören des Quintetts durch den Kopf gegangen ist ("Wenn jetzt noch ein zweiter Satz kommt, bringe ich Wolfgang nachher um"), und beschreibt den Verlauf des Stückes, immer wieder durchsetzt mit lobenden Bemerkungen über das Stück, wie es genau die richtige Länge habe, wie es genau richtig das Material entwickle, wie es in seiner Instrumentation das Material widerspiegele usw. Spätestens zwei Sätze nach jedem Lob jedoch wird mit einem großen Aber das ganze Lob wertlos gemacht. Schlimmer noch: Durch das Lob wird erst die Höhe für Rihm eingerichtet, die ihn durch die spätere Kritik umso tiefer fallen läßt. Dabei bezieht sich das Lob auf das besprochene Quintett, die Kritik auf Rihms gesamtkompositorische Erscheinung. Beispiel gefällig?

Dieser Schluss hat Größe. [...] Manchmal reicht eine kleine Entscheidung für oder wider etwas, um ein Werk auf eine höhere Rangstufe zu setzen [...] Ich kann es nicht beweisen, würde aber wetten, dass der Komponist das Werk ohne präkompositorische Planung niederschrieb. Das verlangt Respekt. S. 11 - 12
Hört sich doch gut an? Jetzt aber:
Nun, er hat in seinem Leben viel, vielleicht zu viel komponiert, Routine und Erfahrung sammeln sich an [...] S. 12
Zack, mit der flachen Hand nochmal eins über den Hinterkopf gewischt. Das endgültig tödliche Lob aber hebt Mahnkopf sich für den Schlussabsatz auf. Darin berichtet er von der Reaktion einer Sitznachbarin, die vollkommen überflüssigerweise ausladend als "ausgewiesene Interpretin neuer Musik, welche die anspruchsvollsten und avanciertes Werke darbietet" charakterisiert wird, die also nun nach der Aufführung zu ihm, Mahnkopf, gesagt hätte, dass endlich mal jemand den Mut hat, "etwas für das Herz zu komponieren". Und dann kommt der Todesstoß:
In der Tat, das tut Rihm, und das kann er. S. 12
Um zu verstehen, warum dieser für sich genommen harmlose Satz so zerstörerisch wirkt, muss man zum Anfang zurückblättern und dort lesen, was Rihm als Komponist nach Mahnkopfs Eindruck ausmacht:
Rihm schreibt in der Regel keine komplexe Musik, er ist kein Philosoph unter den Komponisten, eher ein Philanthrop, [...] ein Tondichter [...] S. 5
Immer noch nicht verstanden? Zur besseren Einordnung muss man vielleicht noch wissen, dass Mahnkopf laut eigener Aussage, wäre er nicht Komponist geworden, Philosoph geworden wäre und auch tatsächlich (unter vielem anderem) Philosophie und Soziologie studiert hat. Dann geht der Vorhang auf und man kann den obigen Satz aus dem Mahnkopfischen ins Deutsche übersetzen: "Rihm ist ein einfacher Geist, der einfache Musik für einfache Geister macht, ganz anders als Mahnkopf, der Philosoph unter den Komponisten."
Und jetzt wird mir auch klar, warum mich während der gesamten Lektüre der Rezension ein so merkwürdiges Gefühl begleitet hat, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Oberflächlich betrachtet bespricht Mahnkopf ein Streichquintett von Wolfgang Rihm, und das recht wohlwollend. Untergründig redet Mahnkopf ununterbrochen von sich selbst und unterminiert permanent Rihms Musik und seine Persönlichkeit. Das finde ich dann doch irgendwie nicht so okay ...
 
Zitate aus: Musik&Ästhetik, 17. Jahrgang, Heft 68, Oktober 2013, Klett-Cotta Stuttgart

Kommentar 2 - Neue Musik und die Ritter der Tonalität

Es gibt wichtigere Dinge auf der Welt als Neue Musik. Andererseits bietet das Theorem der Komplexitätsreduktion die Chance, alle Dinge als gleich wichtig zu betrachten, bringen doch Gewichtungen nur wieder Unruhe in ein ansonsten stabiles (= einfaches) System des absoluten Relativismus.

Ich bin ein Fan der Neuen Musik. Das hört sich von einem Komponisten nach einer überflüssigen Aussage an, ist jedoch nicht selbstverständlich. Ich kenne eine Reihe Komponisten, die das gesamte 20. Jahrhundert gerne zurücknehmen und wieder bei Quartvorhalten anfangen würden. Ich nicht. Ich begrüße ausdrücklich sämtliche (jawoll: sämtliche) Entwicklungen des letzten Jahrhunderts. Auch solche, mit denen ich so gar nichts anfangen kann wie zum Beispiel den Serialismus oder den Spektralismus. Es gibt so großartige Musik in den 1900ern und 2000ern, angefangen bei den Orchesterstücken der zweiten Wiener (fünfe von Schönberg und dreie von Berg, erst sechs und dann nochmal fünf von Webern) bis hin zu den Klavieretüden und dem Hornkonzert von Ligeti und dem Theater der Wiederholungen von Bernhard Lang. Wer dahinter zurückwill, ist entweder nicht ganz dicht oder bösartig. Schon klar, es wurde und wird viel Quatsch gemacht, aber gehört das nicht dazu? War das früher anders? Wer das wirklich bejahen zu können glaubt, den verpflichte ich hiermit, sich sämtliche Streichquar- und -quintette von Boccherini anzuhören, dann alles von Draeseke und danach jedes kleine Fitzelchen von Pfitzner. Dann soll er mir in die Augen sehen und sagen, früher sei alles besser gewesen.
Die Sache ist ja die, dass bedeutende Auslöser für Neues in der Kunst schon immer irgendwelche zurück zu - Bewegungen waren, meist zurück zur Antike. Die früheren Zeiten waren allerdings insofern gesegnet, als sie von der Antike eigentlich kaum etwas wußten. Also haben sie sich ihre eigene Antike zurechtgezimmert, und diese Form des produktiven Missverständnisses hat die Sache dann ins Rollen gebracht.
Wir hingegen wissen zu viel. Von allen Zeiten. Die gesamte Vergangenheit ist uns jederzeit ständig in vollem Umfang präsent (jedenfalls die letzten dreihundert Jahre, auf die es hier ankommt). Es gibt kein Schlupfloch für die Phantasie. Es gibt nichts misszuverstehen. Wir kennen nicht nur die zweitrangigen Autoren der letzten dreihundert Jahre, sondern auch noch die dritt- bis siebtrangigen. Auf jedem Quadratmillimeter der Vergangenheit stehen ein Literatur-, ein Musik-, ein Kunst-, ein Geschichts-, ein Gesellschafts- und vielleicht noch ein paar Wirtschaftsgeschichts-, Wissenschaftsgeschichts- und Geschichtsgeschichtswissenschaftler.
"Zurück zur Tonalität" hört man immer mal wieder, in letzter Zeit vielleicht mal wieder etwas lauter, schreien. "Zu welcher" müßte man erstmal zurückschreien. Wenn dann noch irgendeine Antwort käme, zum Beispiel "Zur Brahms'schen", dann müßte man zurückfragen "Warum zu der". Genau das ist das Problem. Würden wir aus den letzten dreihundert Jahren nur die Brahms'sche Musik, und auch diese nur ganz fragmentarisch kennen, dann wäre ein solches Unterfangen vielleicht sogar ganz interessant. Es bliebe Raum drumherum. Man könnte Brahms total missverstehen. Und es würde (möglicherweise) etwas Neues entstehen. Es gibt aber in der wirklichen Welt keinen Raum um Brahms herum, den man irgendwie mit Leben füllen könnte. Auch nicht um irgendeinen der anderen tonalen Notanker in der Vergangenheit. Der Rückweg ist uns verbaut. Mit einem riesigen Haufen Wissen.
Das alles ficht die zurück-zur-Tonalität-Leute aber gar nicht an. Sie wollen zurück. Um jeden Preis. Dabei ist es wohl gar nicht so sehr die Einsicht, dass in der Neuen Musik etwas falsch läuft (was es tatsächlich tuten tut), die sie so überzeugt sein läßt, sondern eher das psychologische Phänomen, dass man sich umso vehementer verteidigt, je dünner die Grundlage ist, auf der man argumentiert. Hinzu kommt, dass ich bei vielen den Eindruck habe, dass sie schlicht zu faul oder sich selbst zu schade sind, sich mit der wirklichen aktuellen Produktion zu beschäftigen. Dass sie sich nicht die Mühe machen (wollen), sich ausserhalb der zugegebenermassen größtenteils öden Leuchtturmveranstaltungen Donaueschingen, Darmstadt, Wergo-Portrait-CDs und Verlagsprogramme umzusehen. Ausserhalb der brav sich selbst etikettierenden Neue-Musik-Szene. Dass sie sich eben nicht einen eigenen Gedanken machen wollen. Weil das natürlich anstrengend ist. Weil man sich natürlich mit einem ganzen Wust von unausgegorener, peinlicher, hypertropher, unterwältigender Musik auseinandersetzen muss. Manchmal sogar mit - Gott behüte - Popmusik.
Aber weil Tonalitäts-Kreationisten vor diesen Dingen einen Ekel haben, schütten sie das ganze schmutzige Kind mit dem vielleicht noch für eine zweite Wäsche zu gebrauchenden Badewasser aus und wollen die Wanne mit Kirschlikör neu füllen.
Mir keine Illusionen darüber machend, dass dieses leidige Thema ein für alle mal erschöpfend behandelt und damit aus der Welt wäre, habe ich dennoch keine Lust mehr, mich damit zu befassen.
Es führt einfach zu nichts.

Montag, 11. November 2013

Kommentar 1 - Komplexitätsreduktion / Manifest

Die Welt ist viel zu groß. Und viel zu unübersichtlich. Ich plädiere für eine kleinere, übersichtlichere Welt. Eine Welt mit drei oder vier Ländern und höchstens zehn Städten. Eine Welt mit zwei Sorten Brötchen, eine mit und eine ohne Körner. Eine Welt mit drei Buchveröffentlichungen im Jahr, jedes Buch mit nicht mehr als zwanzig Seiten. Eine Welt mit einer Sorte Shampoo und einem Fernsehkanal, der nur vier verschiedene Sendungen zeigt (Täglicher Talk, Interview des Tages, Aktuelles Gespräch und Nachgefragt am Abend). Eine Welt mit höchstens drei verschiedenen subatomaren Teilchen, höchstens vier verschiedenen Tierarten und maximal fünf Pflanzenarten. Ich plädiere für die Abschaffung des Mondes und für die Verpflichtung der Sonne, nachts einfach etwas schwächer zu leuchten. Weiterhin setze ich mich hiermit ein für die Reduktion der Sternenanzahl auf eins (Polarstern), die Reduktion der möglichen Wellenlängen von Licht auf zwei (blau, rot), sowie die Reduktion von möglichen Akkorden in Musikstücken auf drei (C-F-G). Ich wünsche, nein, ich fordere eine Welt mit einer Währung (Eurollar) und zwei Sprachen. Eine Sprache für die im linken Teil der Welt Lebenden und eine Sprache für die im rechten Teil. Etwas Vielfalt braucht es immerhin. Zur Vereinfachung bedienen sich beide Sprachgruppen des exakt gleichen Wortschatzes, während ihre Selbstbezeichnungen höchst unterschiedlich sind: Die Linksteiligen nennen sich selbst die "Lefters" und die anderen die "Righters", während die Rechtsteiligen sich selbst die "Hoppers" und die anderen die "Stumblers" nennen. Da die Kugelgestalt der Erde bloß einen vollkommen überflüssigen erhöhten Komplexitätsgrad erzeugt (wo ist oben, wo ist unten, die Frage der Zeitverschiebung, die Jahreszeiten, Mondphasen usw. usw.), plädiere ich für eine flache, drachenförmige Erde mit Ausrichtung des stumpfen Winkels am Kopfende hin zur Sonne. Notwendig wären außerdem die Abschaffung sämtlicher Sportarten bis auf professionelles MauMau (verringerte Gefahr von Dopingdelikten), die Abschaffung sämtlicher historischer Epochen bis auf das 19. Jahrhundert, einhergehend mit der Abschaffung aller Kunstepochen bis auf die Romantik. Grundlegendes und einziges philosophisches System in meiner EinWelt wäre eine Art heruntergebrochene Hegelsche Dialektik: These - These - These.

Dieser Blog versteht sich als Inzentiv dieser neuen, einfachen Welt. Nach und nach werden hier sämtliche Erzeugnisse des menschlichen Geistes einer Komplexitätsanalyse und anschließenden komplexitätsreduktorischen Resynthese unterzogen.

Friede der Einfachheit! Krieg der Schwierigkeit!