Donnerstag, 3. Dezember 2015

Kommentar 46 (5.1.6) - Deutschland wird im Spätbarock verteidigt / Was ich neulich mal dachte 7 / Was ich daraufhin gemacht habe 1

Neulich dachte ich mal, dass man doch eigentlich nichts weiter als die Goldbergvariationen bräuchte. Ist doch wunderbar. Ist doch alles da. Kann gar nicht verstehen, dass sich irgendjemand danach die Mühe gemacht hat, überhaupt nochmal was Neues zu komponieren.

Und weil ich also fest daran glaube, dass man nichts außer den Goldbergvariationen braucht, habe ich beschlossen, um für den absoluten Notfall gerüstet zu sein (totaler Stromausfall, Internet lahmgelegt, Installation eines Gottesstaates mit totalem Musikverbot, Installation eines Besorgte-Bürger-Und-Schweigende-Mehrheit-Staates mit totalem Bücherverbot usw.), die Goldbergvariationen auswendig zu lernen. Quasi als Dr. B. der Musik. Die Arbeit geht auch gut voran, die ersten drei Nummern habe ich schon intus. Die Bassfiguren in der Nummer 4 (also Variation 3 / canone all'unisono) machen grade etwas Schwierigkeiten, die scheinen manchmal willkürlich, was aber natürlich nur daran liegt, dass ich ihre Sinnhaftigkeit noch nicht richtig kapiert hab. Ansonsten bin ich nach wie vor ziemlich begeistert von meinem Vorhaben und möchte behaupten, dass damit ein aktiver und nicht gerade geringer Beitrag zur Verteidung der abendländischen Werte oder doch wenigstens zu ihrer Rettung über eine eventuell bevorstehende Durststrecke geleistet ist. Nur darf halt erst in zwei oder drei Monaten etwas passieren. So lange brauche ich wohl noch.
Deutschland, halte durch!

Donnerstag, 19. November 2015

Kommentar 45 - Kleiner Katechismus des Zweifels (Von der Notwendigkeit einer Utopie)

Was ist der Zweifel?

Der Zweifel ist die Methode des Denkens oder Sprechens, eine Frage nicht mit einer Aussage, sondern mit einer Gegenfrage zu beantworten, das heißt also: eine Frage nicht zu beantworten, sondern die Frage zu befragen. Der Zweifel ist also eine Art und Weise, das Gespräch in Gang zu halten. Wer zweifelt, redet. Reden heißt auch denken. Also denkt, wer zweifelt.

Wie zweifle ich richtig?

Weil der Zweifel nur eine Methode oder Art und Weise des Denkens oder Sprechens darstellt, ist er erlernbar. Um den Zweifel zu erlernen, muss man ihn einüben. Das Einüben des Zweifelns besteht darin, eine Frage nicht zu beantworten, sondern ihrerseits zu befragen. Eine Frage kann auf verschiedene Weise befragt werden: Eine Frage kann auf ihre expliziten oder impliziten Prämissen hin befragt werden (Welche Prämissen liegen der Frage zugrunde und sind die zugrundeliegenden Prämissen richtig?). Eine Frage kann auf ihre explizite oder implizite Richtung hin befragt werden (Zielt die Frage schon auf eine bestimmte Antwort ab? Ist die Frage also überhaupt eine Frage, oder doch nur eine als rhetorische Frage verkleidete Aussage?). Eine Frage kann auf ihre Sinnhaltigkeit befragt werden (Ist es sinnvoll, diese Frage so oder überhaupt zu stellen?).

Was ist das Ziel des Zweifels?

Insofern der Zweifel aus dem Erwidern einer Frage mit einer Gegenfrage und damit auch aus dem Erwidern der Gegenfrage mit einer weiteren Gegenfrage besteht, gibt es kein Ziel des Zweifels in Form einer anzustrebenden Antwort. Ziel des Zweifels ist es lediglich, das Gespräch und damit das Denken in Gang zu halten. Der Zweifel, verstanden als Gegenfrage, produziert höchstens vorläufige Antworten, indem er seinerseits Prämissen zur Voraussetzung hat, eine Richtung anzeigt und seine eigene Sinnhaftigkeit behauptet. Damit wird der Zweifel als Akt der Gegenfrage selbst zum Gegenstand des Zweifels.

Gibt es unbezweifelbare Tatsachen, also Fragen, die ein für alle Mal beantwortet werden müssen?

Nein. Alle Fragen sind immer dem Zweifel zugänglich. Weil der Zweifel Prämissen, Richtungen und Sinn sichtbar zu machen versucht, leistet er Erkenntnisarbeit in dem Sinne, dass er die Konstruktion von sogenannten letztgültigen Wahrheiten als prinzipiell unabschließbar offenlegt. Der Zweifel behauptet nicht, dass es keine letztgültigen Wahrheiten gibt, der Zweifel hält lediglich das Gespräch und das Denken darüber in Gang.

Aber was ist zum Beispiel mit Werten, die wir für universell halten, also Menschenrechten, Schutz des Lebens usw.? Sind diese Tatsachen nicht vom Zweifel ausgenommen?

Der Zweifel zwingt dazu, Begründungen für Fragen zu liefern, indem er Prämissen, Richtung und Sinn einer Frage offenlegt. Deshalb ist der Zweifel auch kein Mittel der Dekonstruktion. Der Zweifel ist konstruktiv, indem er Schwächen der bisherigen Konstruktion offenlegt und darauf beharrt, die Konstruktion zu verbessern. Wenn man bestimmte Fragen dem Zweifel entziehen will, entzieht man diese Fragen dem Denken und Sprechen darüber. Damit schwächt man aber letztendlich diese Fragen, indem man ihnen die Möglichkeit zur Begründung verweigert. Fragen, die vom Zweifel ausgenommen werden, produzieren Ideologien. Eine Ideologie ist die Antwort auf eine Frage, die nicht bezweifelt wurde.

Ist dann der Zweifel nicht selbst eine Ideologie?

Nein. Der Zweifel ist keine metaphysische Tatsache im Sinne einer Antwort auf eine unbezweifelte Frage, er ist nur eine Methode des Denkens und Sprechens. Er ist selbst dem Zweifel zugänglich.

Führt der Zweifel dann nicht in einen bodenlosen Relativismus?

Nein. Der Zweifel bietet keine Grundlage für ein anything goes. Dem Zweifel liegt vielmehr ein nothing goes zugrunde. Dem Zweifel muss jede vorläufige Erkenntnis abgerungen werden. Der Zweifel als Denkwerkzeug produziert auch keine Beliebigkeiten, da Beliebigkeiten nicht begründbar sind, der Zweifel aber immer nach der Begründbarkeit fragt. Der Zweifel verhandelt auch nicht über Dinge oder macht Dinge verhandelbar, er fragt nach Begründungen für Fragen.

Verdammt der Zweifel nicht zur Handlungsunfähigkeit?

Handlungen sind keine Fragen, sondern Antworten auf Fragen, deshalb befasst sich der Zweifel nicht mit Handlungen. Der Zweifel befasst sich mit der Frage, deren Antwort die Handlung ist. Insofern die Frage, deren Antwort die Handlung ist, nicht immer explizit gestellt wird und zeitlich eng an diese geknüpft ist, sieht es so aus, als könne sich der Zweifel mit der Handlung selbst befassen. Eine Handlung kann aber nicht bezweifelt werden, sie ist einfach da. Sobald die Handlung da ist, kommt der Zweifel zu spät. Wenn es dem Zweifel gelingt, die Frage vor der Handlung mit einer Gegenfrage zu belegen und damit also das Gespräch in Gang zu halten, verzögert der Zweifel die Handlung als Antwort auf die Frage. Dieser Fall spielt im Alltag aber keine Rolle. Der Alltag besteht aus Handlungen, die als Antworten auf nicht expliziert formulierte Fragen diesen auf dem Fuss folgen. Deshalb ist der Zweifel oder die vermehrte Anwendung des Zweifels als Methode ein utopisches Projekt.

Dann ist der Zweifler dem Nichtzweifler aber doch hilflos ausgeliefert und letztlich nur Spielball der Handlungen des Nichtzweiflers?

Der Zweifel ist keine Haltung, er ist nur eine Methode des Denkens und In-Gang-Haltens eines Gespräches. Deshalb ist auch kein Mensch ausschließlich ein Zweifler oder Nichtzweifler. Da der Alltag, verstanden als Lebenswirklichkeit des Menschen, beinahe ausschließlich aus Handlungen besteht, spielt der Zweifel für den Alltag keine Rolle. Eine Handlung setzt einen Automatismus von Gegenhandlungen in Gang. In diesem Automatismus hat der Zweifel keinen Platz. Wenn der Automatismus aus Handlungen angelaufen ist, kommt der Zweifel bereits zu spät. Die Vermehrung des Zweifels aber als utopisches Projekt ist darauf aus, zwischen Frage und Antwort zu gelangen. Ziel des utopischen Projektes der Vermehrung des Zweifels muss es sein, zwischen immer mehr Fragen und ihre Antworten in Form von Handlungen zu gelangen. Der Zweifel muss missioniert werden. Dieses Ziel ist bezweifelbar. Der Zweifel an diesem Ziel ist aber schon der erste Schritt auf dieses Ziel zu.

Warum gibt es überhaupt so wenig Zweifel?

Der Zweifel erfordert die Möglichkeit, eine Frage im Raum stehen zu lassen, ohne sie sofort zu beantworten oder beantworten zu müssen. Nur im handlungsfreien Raum kann der Zweifel sich entfalten. Dieser Raum besteht im Alltag nicht, wo Handlung nahtlos auf Handlung folgt. Die Automatismen des Handelns, also: des Beantwortens von Fragen, kennen keinen Raum des Zweifels. Weil der Zweifel Handlungen nicht betrifft, dient die Reihung von Handlungen, also Antworten, auch der Ausübung von Macht. Macht wird durch die enge Reihung von Handlungen, also Antworten,  ausgeübt, zwischen die der Zweifel nicht gelangen kann. Ziel der Ausübung von Macht ist es, den Zweifel weiter zu verdrängen und letztendlich auszuschalten. Deshalb dient das utopische Projekt der Vermehrung des Zweifels auch der Freiheit.

Ach komm schon, ist das wirklich dein Ernst?

Der Zweifel als Methode des Denkens und Sprechens ist kein Allheilmittel. Er ist überhaupt kein Heilmittel. Er ist nur eine Methode. Die Anwendung der Methode des Zweifels zeitigt aber gewisse Folgen. Ohne Zweifel kein Sprechen und Denken. Ohne Zweifel keine Wissenschaft. Ohne Zweifel keine Kunst. Ohne Zweifel keine Demokratie, keine Menschenrechte, keine Rechtsstaatlichkeit. Während diese Dinge wie Antworten aussehen, müssen sie doch als Fragen und Gegenfragen im Prozeß der Anwendung der Methode des Zweifels verstanden werden.

Oh je, jetzt wird's aber doch sehr pathetisch...

Versteht man diese Konzepte als Antworten, also als metaphysische Dinge, die in irgendeinem Sinne da sind und also gefunden (entdeckt) werden können, dann sind diese Antworten naiv und damit pathetisch. Versteht man aber diese Konzepte als Fragen und Gegenfragen im Prozeß des Zweifelns, dann bekommen sie einen rein pragmatischen Sinn, weil der Zweifel dazu zwingt, Begründungen für diese Konzepte zu liefern. Das ist das Gegenteil von naivem Pathos.

Ich weiß nicht, irgendwie finde ich diese Art von abstraktem, sophistischem Gelaber ziemlich doof. Hilft doch keinem weiter, schon gar nicht in der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Situation.

Der Begriff "weiterhelfen" ist nicht klar definiert. In welchem Sinne soll wem überhaupt weitergeholfen werden? Wohin soll ihm weitergeholfen werden? Was soll das Ziel des Weiterhelfens sein? Worin besteht die aktuelle gesellschaftliche und politische Situation genau? Gibt es überhaupt soetwas wie "eine" Situation, oder sind es mehrere, wenn auch vielleicht miteinander verknüpfte Situationen, also mehrere Fragen und nicht nur eine? Ruft diese Aussage in dieser Form nicht einfach nur nach Handlungen? Impliziert die Formulierung nicht, dass es einer ganz bestimmten Art von Handlungen bedarf, um "weiterzuhelfen"? Ist die Forderung nach schnellen Antworten, also Handlungen, immer und auf allen Seiten ein Teil des Problems? Wird mit solchen Aussagen die zivilisatorische Wirkung des Zweifels zu unrecht verkleinert?

Naja, letztlich ist das natürlich doch eine äußerst bequeme Position, über die man leicht im kuschelig beheizten Wohnzimmer parlieren kann. Währenddessen werden draußen in der Welt in wahnsinniger Geschwindigkeit Fakten geschaffen, ziemlich beunruhigende Fakten.


Wenn wir das Gespräch und damit das Denken einstellen, weil es angeblich einfach nur bequem ist und keinem "weiterhilft", dann bleibt nichts anderes übrig, als in den Automatismus der Handlungen einzusteigen, mit allen Konsequenzen. Ansonsten ist es nicht meine Schuld und auch nicht mein Verdienst, dass ich in einem kuschelig beheizten Wohnzimmer sitze.

Du hast wohl auf alles eine Antwort?

Ja.

Donnerstag, 12. November 2015

Kommentar 44 - Radikaler Objektivismus (Kleinstgeistigkeit)

Fehler in:

Markus Gabriel: Ich ist nicht Gehirn. Ullstein, 2015

-S. 46: "Meine positive Hauptthese beläuft sich darauf, dass es sich bei diesen Begriffen um Elemente eines Bildes handelt, dass sich der menschliche Geist von sich selbst macht." Es muss aber heißen: "[...] dass es sich bei diesen Begriffen um Elemente eines Bildes handelt, das sich der menschliche Geist von sich selbst macht."

- S. 213: "Frauen wären dann auf ihr artspezifisches Gehirn festgelegt. Das dem so ist, brauche ich hier wohl nicht weiter auszuführen." Es muss aber heißen: "Dass dem so ist [...]".

- S. 258: "Er [Richard Dawkins] meint, das dasjenige, was den Egoismus antreibt, nicht das Individuum sei (also nicht Ich oder Sie), sondern ein bestimmtes Gen, das wir repräsentieren." Es muss aber heißen: "[...], dass dasjenige, was den Egoismus antreibt [...]".

- S. 294: "Wir würden normalerweise sagen, Romeo sei frei gewesen, dies zu tun - es sei denn, wir erführen, dass er unter dem Einfluss einer Droge steht, die seine Freiheit einschränkt oder Ähnliches Hier sind einige Bedingungen dafür, dass wir dieses Ereignis als Ausdruck von Freiheit einstufen." Es muss aber heißen: "[...] oder Ähnliches. Hier sind einige Bedingungen dafür [...]".

Alles andere ist korrekt.

Kommentar 43 - Radikaler Subjektivismus (Selbstüberredung)

Ich mochte den Artikel von Frank Hilberg über die Donaueschinger Musiktage "Das Festival als Kindergeburtstag" in den Musiktexten 147 [November 2015].

Sonntag, 25. Oktober 2015

Kommentar 42 - Komponieren ohne Sauerstoff

Ich werde mal nicht so tun, als gäbe es für mein einjähriges Verstummen irgendeine vernünftige Erklärung. Gibt's nicht. Im Grunde war mir von einem Tag auf den anderen ganz fürchterlich langweilig, mit diesen ganzen nutzlosen Diskussionen um die Neue Musik, den ganzen nutzlosen "Kunst"-"Philosophien", der ganzen nutzlosen "Blogosphäre" (überhaupt, was für'n hässlicher Name) und eigentlich und ganz hauptsächlich vor allem mit mir selbst und dem ewigen Weitergemache, das ja letztendlich nur darauf hinauslief, alles mögliche scheiße zu finden, was wiederum nicht weiter schwer ist, weil es einfach viel zu viel gibt, was einfach auch scheiße ist. Man kann das dann selbstverständlich "Langen Atem" nennen, wenn man auf Teufel komm raus weitermacht, obwohl es nichts gibt, womit man weitermachen sollte, aber diese Art von faulig riechendem, wenn auch langem Atem fand ich dann doch irgendwie eklig.

Die Frage war irgendwann, ob ich wirklich nur noch aufschreiben wollte, was ich scheiße finde (was, wie gesagt, nicht schwer wäre, weil es einfach, das kann ich gar nicht genug betonen, viel zu viel gibt, was total scheiße ist), oder ob ich mich nicht doch lieber mit Dingen beschäftigen will, die mir vielleicht bessere Laune machen. Und das wollte ich. Und damit hab ich natürlich doch erklärt und hinrationalisiert, warum ich ein Jahr lang nichts geschrieben habe, und mir gleich mal selbst widersprochen, aber mir hat sich sowieso noch nie erschlossen, was eigentlich genau daran verkehrt sein soll, sich von Zeit zu Zeit und auf engstem Raum selbst zu widersprechen, weil sich selbst zu widersprechen ja doch eine schöne, intime und besonders belebende Form des fortdauernden inneren Dialogs ist.

Jedenfalls habe ich tatsächlich und umgehend damit angefangen, mich mit schönen Dingen zu beschäftigen und mich also (neben der Zerstörung von mehr oder weniger wackligen Bauwerken grüner Schweine mit diversen Vögeln) mit dem Bergsteigen befaßt. Also nicht mit dem Bergsteigen als Sport - der höchste Berg, auf den ich eigenfüßig gestiegen bin, dürfte so um die 700 Meter hoch gewesen sein - nein, mit dem Bergsteigen als Phänomen. Das heißt: Ich habe in der Zeit, die meine Angry-Birds-Leben zum Aufladen benötigt haben, erstmal einen Haufen Videos geschaut.

Ganz neu war mir das alles nicht, schon als Kind war eine meiner Lieblingsgeschichten im "Grossen Buch der Entdecker" neben jener von Amundsen und Scott die von der Erstbesteigung des Mount Everest. Inzwischen ist wohl relativ klar oder gilt zumindest als sehr wahrscheinlich oder sagen wir so: es wäre cool, glauben zu dürfen, dass nicht Hillary und Norgay die Ersten auf'm Gipfel waren, sondern Mallory und Irvine. Nützt denen aber nichts, weil es ja nur zählt, wenn man es wieder runterschafft, um allen davon zu erzählen. Und runtergeschafft haben sie's halt nicht. Und trotzdem oder auch gerade deswegen ist ihre Geschichte die Bessere, wie doch eigentlich fast immer die Geschichte vom Scheitern die Bessere ist. Ich jedenfalls finde die "Sieger"-Geschichten meistens langweilig. Ich will Geschichten vom Scheitern lesen und sehen, ich will, dass jemand abkackt, dass alle seine Träume zerplatzen, dass er ganz nach unten durchgereicht wird und Alkoholiker wird und depressiv und vielleicht noch wahllos Passanten anpöbelt usw. Kurz: Ich will mich besser fühlen können, weil es jemanden gibt, der noch mehr versagt hat als ich.

Ist doch auch langweilig, dieser Amundsen mit seinen Huskys, die er als lebende Futterreserve mitgenommen hat, und mit seinen norwegischen Spezialisten, die gut Ski laufen konnten und sich überhaupt so gut in der Kälte und in der Eiswüste auskannten. Wieviel spannender dagegen dieser Scott mit seinen idiotischen Ponys, die überall eingebrochen und schlussendlich erfroren sind. Und mit seinen Motorschlitten, die genauso eingefroren, eingebrochen und versunken sind. Und mit seinen Leuten, die irgendwie nichts von ihm und seinem Führungsstil gehalten haben (und ebenfalls erfroren sind). Und er war ja trotzdem auch da, er hat den Südpol erreicht, nur eben ein paar Wochen nach Amundsen. Zurückgeschafft hat er's halt nicht. Merkwürdig, wie die Regeln so sind. Im Fall der Nordpol-Expeditionen war es ja ganz ähnlich und eigentlich noch exemplarischer: Cook war zuerst wieder von der Expedition zurück und Peary hat alles in Bewegung gesetzt, inklusive einer ausgetüftelten medialen Verleumdungskampagne, um Cook mundtot zu machen. Nur hat sich bei den Zweien dann blöderweise rausgestellt, dass wohl keiner von beiden wirklich am Nordpol war. Während man von Cook ziemlich genau weiß, dass er irgendwie wohl nur an den Inseln im äußersten Norden Kanadas entlangspaziert ist, gesteht man Peary immerhin zu, näher am Pol gewesen zu sein, ohne ihn jedoch tatsächlich erreicht zu haben. Cooks (Lebens-) Geschichte ist dabei aber doch wieder die Bessere; anscheinend hat er aus "Versehen" (kann schonmal passieren) nicht den Denali (für die Älteren: Mount McKinley), sondern irgendeinen 10 Kilometer entfernten Nebengipfel bestiegen, die Nordpol-Ersterreichung wurde ihm natürlich in allen Unehren aberkannt, und zu guter Letzt ist er auch noch wegen Aktienbetrugs oder so in den Knast gewandert. Super.

Aber eigentlich ging es ja nicht um die Polarexpeditionen, sondern um das Bergsteigen. Und damit natürlich um Reinhold Messner. Den Bergsteiger schlechthin. Messner, dieser Kontinent von einem Bergsteiger. Alles hat er bestiegen, was sich nicht auf drei flach auf die Erdkrümmung geschmissen hat. Und selbst das Flachmachen hat diverse Weltgegenden nicht davor bewahrt, sozusagen horizontal von Messner bestiegen zu werden. Irgendwie gehört ihm inzwischen halb Südtirol und es gibt ungefähr in jedem zweiten Dorf ein sogenanntes Messner Mountain Museum. Also auch einer von denen, die alles erreicht haben, was es zu erreichen gibt. Und wie bei vielen, die alles erreicht haben, was es zu erreichen gibt, pflastern auch aber nicht nur sprichwörtliche Leichen seinen Weg. Mit fast allen seinen Begleitern hat er sich nach den Besteigungen zerstritten, die Umstände des Verschwindens seines Bruders am Nanga Parbat sind bis heute, naja, sagen wir mal: einigermaßen unklar, und überhaupt wirkt er immer wie einer dieser autodidaktischen Ehrgeizlinge (der er ja ist), die denen in der akademischen Welt mal so richtig die Meinung geigen wollen, was ihn immer etwas gezwungen, steif und humorlos wirken läßt.

Im Grunde sind mir diese biographischen Petitessen aber auch völlig egal. Denn Reinhold Messner ist nicht nur der wahrscheinlich beste Bergsteiger aller Zeiten (sage nicht ich, sagen andere Bergsteiger), nein, er ist auch ein großer Künstler und einer der klügsten Kunstphilosophen unserer Zeit (sage jetzt ich). Richtig gelesen, Kunstphilosoph. Nee, das ist kein Witz. Echt nicht. Die Argumentation geht nämlich so:


1. Bergsteigen (in der von ihm betriebenen Form) ist für Messner eine Kunstform

Wenn man es genau betrachtet, ist der Gedanke, Messner als Extremperformer in der Nachfolge Joseph Beuys' (Schakal!) zu betrachten, gar nicht so abwegig, nein, nicht nur nicht abwegig, sondern geradezu naheliegend. Messner sagt ja, wenn er eine Bergwand anschaut, dann sieht er nicht nur den Stein und das Eis und den Schnee, sondern er sieht Linien, Spuren (Derrida!!) von eigenen und anderen Besteigungen, quasi eine synchrone psychisch-graphische Repräsentation der diachronen Geschichte der Besteigungen eines Berges (ach, wunderbar, die drei Semester Fernstudium Kulturwissenschaften zahlen sich schon aus). Das kann man natürlich metaphorisch nehmen und vielleicht eilig als eine etwas exaltierte Darstellung einer recht simplen Tätigkeit ("Ich gehe einen Berg hinauf") abtun. Man kann es aber auch für einen Moment mal ernst und wörtlich nehmen und zu der Feststellung gelangen, dass Kunst ja eigentlich genau das ist: Die Betrachtung labyrinthisch ineinander verflochtener Spuren an den Bergen menschlicher Geistestätigkeit (ja, man wird im Angesicht der majestätischen Gebirgsketten, die Gott vor sechseinhalb tausend Jahren da aus der Rippe eines Menschen oder so ähnlich geformt und hingeworfen hat, schon irgendwie pathetisch) und die Auslotung von Möglichkeiten, noch irgendwo eine eigene Spur ziehen oder notfalls auch bloß hinpissen zu können.


2. Es gibt künstlerisches und unkünstlerisches Bergsteigen

Wie im richtigen Leben, also in der richtigen Kunst, gibt es eben doch Kunst und Nichtkunst, auch wenn natürlich viele gerne hätten, dass es nur Kunst und Kunst gibt. Und während für Aussenstehende vielleicht alles gleichermaßen wie Kunst (oder auch gleichermaßen wie Nichtkunst) aussieht, gibt es doch Unterscheidungskriterien, die ganz klar Kunst von Nicht- oder Pseudo- oder Schrottkunst unterscheiden. Messner jedenfalls hat für das Bergsteigen ziemlich genaue Vorstellungen davon, wie künstlerisches (oder "echtes") Bergsteigen auszusehen hat, er nennt das Ganze "Bergsteigen im Alpinstil" im Gegensatz zum "Bergsteigen im Expeditionsstil".
Natürlich sehen die Ergebnisse der beiden Stile irgendwie ziemlich gleich aus ("Er war auf dem Gipfel"), und trotzdem ist eines davon eine Kunstform und das andere bloß (bestenfalls)  Kunstgewerbe (siehe auch: Danto). Im Grunde hängt alles an einer Messner'schen Forderung:
 "Benutze keinen künstlichen Sauerstoff!"

Eigentlich nicht so schwer: Pack dich warm ein, geh los und besteige den Berg. Nur mit dem Allernötigsten ausgerüstet. Und zum Allernötigsten gehört eben nicht künstlicher Sauerstoff. Oder eine Horde von Trägern, die den ganzen Kram (also auch die Sauerstoffflaschen) den Berg hochschleppen. Oder wochenlang Höhenlager (mit Sauerstoffflaschenvorräten) einrichten. Und einen womöglich noch runterholen sollen, wenn was schiefläuft (also der Sauerstoff ausgeht). Mit anderen Worten: Wenn du schon eine so zweckfreie (siehe Punkt 4 unten) Unternehmung wie auf einen sehr hohen Haufen Steine zu klettern angehst, dann mach es gefälligst richtig und so, dass das ganze Risiko nur bei dir selbst liegt.
Na gut, könnte man sagen, aber in der wirklichen Kunst geht es ja selten um Menschenleben, und das Risiko, in einem Konzertsaal biwakieren zu müssen, weil einem ein Schneesturm den Weg nach draußen abgeschnitten hat, ist auch recht überschaubar. Was also soll das?
Einfach: Man muss die Lebensgefahr rauskürzen. Es ist ja nicht so, dass man sich mit den ganzen Hilfsmitteln irgendwie weniger in Lebensgefahr begeben würde, eigentlich im Gegenteil. Siehe nur als Beispiele die beiden großen Unglücke, 1996 am Mount Everest und 2008 am K2. Das ist also nicht der Unterschied zwischen den beiden Stilen, folglich kann man es rausstreichen aus der Ungleichung. Und was dann übrigbleibt, kann man ohne weiteres eins zu eins auf die "normale" Kunst, hier also Komposition, übertragen. Das geht dann so:

Wenn du schon ein so zweckfreies (siehe Punkt 4 unten) Unternehmen wie die Anhäufung von schwarzen Punkten auf einem Blatt Papier angehst, dann mach es gefälligst richtig und so, dass das ganze Risiko nur bei dir selbst liegt.
Will heißen: Es ist eine Illusion, ein Stück mit irgendwelchen überflüssigen Mitteln (Theorien, Konstruktionen, Konzepten, Virtuosität etc.) absichern zu können. Also lass es. Je mehr unnützer Krempel am Stück dranhängt, desto weniger ist es letztendlich Kunst und desto mehr ist es Kunstgewerbe. Auch wenn es von außen den schmeichelhaften Eindruck erwecken mag, es sei doch Kunst.



3. Bergsteigen (und also Kunst) ist eine Form, sich selbst auszudrücken

Also das ist nun schon eine derartige Banalität, dass ich immer versucht bin zu sagen: im Gegenteil. Je weniger man sich selbst ausdrückt, desto mehr ist es Kunst. 
Das wäre natürlich irgendwie doof und geradezu idiotisch, aus bloßem Trotz das Gegenteil zu behaupten. Klüger und langfristig effektiver ist es dann doch, wenn man den Begriff einfach mal präzisiert: "Sich selbst ausdrücken" heißt zweierlei:
a) Man weiß, was das ist: "Ich selbst".
b) Es gibt überhaupt etwas auszudrücken
Und schon fallen grob geschätzte 98 % aller Ausdruckswillensbekundungen raus und unter den Tisch und werden von herumstreunenden, räudigen Ratten aufgefressen.


4. Bergsteigen (und also Kunst) ist zweckfrei

Für mich beinahe der wichtigste Punkt. Messner meint damit die ganzen Expeditionen, die irgendeinen hehren Zweck behaupten:
"Wir machen es für's Vaterland" (Ende 19. / Anfang 20. Jahrhundert)
"Wir machen es, um auf den Klimawandel / den Raubbau an der Natur / die Auswirkungen des Massentourismus etc. etc. aufmerksam zu machen" (Ende 20. / Anfang 21. Jahrhundert)

Völlig zu recht sagt Messner, dass das alles Quatsch sei. Bergsteigen sei eben Bergsteigen. Man mache es, weil man auf einen Berg steigen wolle. Das ist eine so einfache und schöne und ehrliche Aussage, dass ich sie gar nicht mit Übersetzungsversuchen verdrecken will.

_______



Da haben wir sie also: die Messner'sche Kunstphilosophie. Oder Kunsttheorie. Oder auch Ästhetik. Einfach, klar, überzeugend. Und wem das alles von mir an den lockigen Wuschelhaaren herbeigezogen vorkommt, dem kann ich dann doch nur mit Baudrillard kommen:
 "Das Problem mit der Realität ist, dass sie den Hypothesen entgegenkommt, die sie verneinen. Sie kapituliert bei der leisesten Aufforderung, sie beugt sich jeder begrifflichen Gewalt, ihr Kennzeichen ist die freiwillige Knechtschaft. Die Realität ist eine Hündin."
Baudrillard, Das radikale Denken


P.S.: Nur, um Amundsen nicht vollkommen unrecht zu tun: Er ist ja später in der Nordpolarregion verschollen und niemand weiß bis heute, was eigentlich passiert ist; irgendwie ist er letztendlich also doch auch gescheitert...