Die Frage war irgendwann, ob ich wirklich nur noch aufschreiben wollte, was ich scheiße finde (was, wie gesagt, nicht schwer wäre, weil es einfach, das kann ich gar nicht genug betonen, viel zu viel gibt, was total scheiße ist), oder ob ich mich nicht doch lieber mit Dingen beschäftigen will, die mir vielleicht bessere Laune machen. Und das wollte ich. Und damit hab ich natürlich doch erklärt und hinrationalisiert, warum ich ein Jahr lang nichts geschrieben habe, und mir gleich mal selbst widersprochen, aber mir hat sich sowieso noch nie erschlossen, was eigentlich genau daran verkehrt sein soll, sich von Zeit zu Zeit und auf engstem Raum selbst zu widersprechen, weil sich selbst zu widersprechen ja doch eine schöne, intime und besonders belebende Form des fortdauernden inneren Dialogs ist.
Jedenfalls habe ich tatsächlich und umgehend damit angefangen, mich mit schönen Dingen zu beschäftigen und mich also (neben der Zerstörung von mehr oder weniger wackligen Bauwerken grüner Schweine mit diversen Vögeln) mit dem Bergsteigen befaßt. Also nicht mit dem Bergsteigen als Sport - der höchste Berg, auf den ich eigenfüßig gestiegen bin, dürfte so um die 700 Meter hoch gewesen sein - nein, mit dem Bergsteigen als Phänomen. Das heißt: Ich habe in der Zeit, die meine Angry-Birds-Leben zum Aufladen benötigt haben, erstmal einen Haufen Videos geschaut.
Ganz neu war mir das alles nicht, schon als Kind war eine meiner Lieblingsgeschichten im "Grossen Buch der Entdecker" neben jener von Amundsen und Scott die von der Erstbesteigung des Mount Everest. Inzwischen ist wohl relativ klar oder gilt zumindest als sehr wahrscheinlich oder sagen wir so: es wäre cool, glauben zu dürfen, dass nicht Hillary und Norgay die Ersten auf'm Gipfel waren, sondern Mallory und Irvine. Nützt denen aber nichts, weil es ja nur zählt, wenn man es wieder runterschafft, um allen davon zu erzählen. Und runtergeschafft haben sie's halt nicht. Und trotzdem oder auch gerade deswegen ist ihre Geschichte die Bessere, wie doch eigentlich fast immer die Geschichte vom Scheitern die Bessere ist. Ich jedenfalls finde die "Sieger"-Geschichten meistens langweilig. Ich will Geschichten vom Scheitern lesen und sehen, ich will, dass jemand abkackt, dass alle seine Träume zerplatzen, dass er ganz nach unten durchgereicht wird und Alkoholiker wird und depressiv und vielleicht noch wahllos Passanten anpöbelt usw. Kurz: Ich will mich besser fühlen können, weil es jemanden gibt, der noch mehr versagt hat als ich.
Ist doch auch langweilig, dieser Amundsen mit seinen Huskys, die er als lebende Futterreserve mitgenommen hat, und mit seinen norwegischen Spezialisten, die gut Ski laufen konnten und sich überhaupt so gut in der Kälte und in der Eiswüste auskannten. Wieviel spannender dagegen dieser Scott mit seinen idiotischen Ponys, die überall eingebrochen und schlussendlich erfroren sind. Und mit seinen Motorschlitten, die genauso eingefroren, eingebrochen und versunken sind. Und mit seinen Leuten, die irgendwie nichts von ihm und seinem Führungsstil gehalten haben (und ebenfalls erfroren sind). Und er war ja trotzdem auch da, er hat den Südpol erreicht, nur eben ein paar Wochen nach Amundsen. Zurückgeschafft hat er's halt nicht. Merkwürdig, wie die Regeln so sind. Im Fall der Nordpol-Expeditionen war es ja ganz ähnlich und eigentlich noch exemplarischer: Cook war zuerst wieder von der Expedition zurück und Peary hat alles in Bewegung gesetzt, inklusive einer ausgetüftelten medialen Verleumdungskampagne, um Cook mundtot zu machen. Nur hat sich bei den Zweien dann blöderweise rausgestellt, dass wohl keiner von beiden wirklich am Nordpol war. Während man von Cook ziemlich genau weiß, dass er irgendwie wohl nur an den Inseln im äußersten Norden Kanadas entlangspaziert ist, gesteht man Peary immerhin zu, näher am Pol gewesen zu sein, ohne ihn jedoch tatsächlich erreicht zu haben. Cooks (Lebens-) Geschichte ist dabei aber doch wieder die Bessere; anscheinend hat er aus "Versehen" (kann schonmal passieren) nicht den Denali (für die Älteren: Mount McKinley), sondern irgendeinen 10 Kilometer entfernten Nebengipfel bestiegen, die Nordpol-Ersterreichung wurde ihm natürlich in allen Unehren aberkannt, und zu guter Letzt ist er auch noch wegen Aktienbetrugs oder so in den Knast gewandert. Super.
Aber eigentlich ging es ja nicht um die Polarexpeditionen, sondern um das Bergsteigen. Und damit natürlich um Reinhold Messner. Den Bergsteiger schlechthin. Messner, dieser Kontinent von einem Bergsteiger. Alles hat er bestiegen, was sich nicht auf drei flach auf die Erdkrümmung geschmissen hat. Und selbst das Flachmachen hat diverse Weltgegenden nicht davor bewahrt, sozusagen horizontal von Messner bestiegen zu werden. Irgendwie gehört ihm inzwischen halb Südtirol und es gibt ungefähr in jedem zweiten Dorf ein sogenanntes Messner Mountain Museum. Also auch einer von denen, die alles erreicht haben, was es zu erreichen gibt. Und wie bei vielen, die alles erreicht haben, was es zu erreichen gibt, pflastern auch aber nicht nur sprichwörtliche Leichen seinen Weg. Mit fast allen seinen Begleitern hat er sich nach den Besteigungen zerstritten, die Umstände des Verschwindens seines Bruders am Nanga Parbat sind bis heute, naja, sagen wir mal: einigermaßen unklar, und überhaupt wirkt er immer wie einer dieser autodidaktischen Ehrgeizlinge (der er ja ist), die denen in der akademischen Welt mal so richtig die Meinung geigen wollen, was ihn immer etwas gezwungen, steif und humorlos wirken läßt.
Im Grunde sind mir diese biographischen Petitessen aber auch völlig egal. Denn Reinhold Messner ist nicht nur der wahrscheinlich beste Bergsteiger aller Zeiten (sage nicht ich, sagen andere Bergsteiger), nein, er ist auch ein großer Künstler und einer der klügsten Kunstphilosophen unserer Zeit (sage jetzt ich). Richtig gelesen, Kunstphilosoph. Nee, das ist kein Witz. Echt nicht. Die Argumentation geht nämlich so:
1. Bergsteigen (in der von ihm betriebenen Form) ist für Messner eine Kunstform
Wenn man es genau betrachtet, ist der Gedanke, Messner als Extremperformer in der Nachfolge Joseph Beuys' (Schakal!) zu betrachten, gar nicht so abwegig, nein, nicht nur nicht abwegig, sondern geradezu naheliegend. Messner sagt ja, wenn er eine Bergwand anschaut, dann sieht er nicht nur den Stein und das Eis und den Schnee, sondern er sieht Linien, Spuren (Derrida!!) von eigenen und anderen Besteigungen, quasi eine synchrone psychisch-graphische Repräsentation der diachronen Geschichte der Besteigungen eines Berges (ach, wunderbar, die drei Semester Fernstudium Kulturwissenschaften zahlen sich schon aus). Das kann man natürlich metaphorisch nehmen und vielleicht eilig als eine etwas exaltierte Darstellung einer recht simplen Tätigkeit ("Ich gehe einen Berg hinauf") abtun. Man kann es aber auch für einen Moment mal ernst und wörtlich nehmen und zu der Feststellung gelangen, dass Kunst ja eigentlich genau das ist: Die Betrachtung labyrinthisch ineinander verflochtener Spuren an den Bergen menschlicher Geistestätigkeit (ja, man wird im Angesicht der majestätischen Gebirgsketten, die Gott vor sechseinhalb tausend Jahren da aus der Rippe eines Menschen oder so ähnlich geformt und hingeworfen hat, schon irgendwie pathetisch) und die Auslotung von Möglichkeiten, noch irgendwo eine eigene Spur ziehen oder notfalls auch bloß hinpissen zu können.
2. Es gibt künstlerisches und unkünstlerisches Bergsteigen
Wie im richtigen Leben, also in der richtigen Kunst, gibt es eben doch Kunst und Nichtkunst, auch wenn natürlich viele gerne hätten, dass es nur Kunst und Kunst gibt. Und während für Aussenstehende vielleicht alles gleichermaßen wie Kunst (oder auch gleichermaßen wie Nichtkunst) aussieht, gibt es doch Unterscheidungskriterien, die ganz klar Kunst von Nicht- oder Pseudo- oder Schrottkunst unterscheiden. Messner jedenfalls hat für das Bergsteigen ziemlich genaue Vorstellungen davon, wie künstlerisches (oder "echtes") Bergsteigen auszusehen hat, er nennt das Ganze "Bergsteigen im Alpinstil" im Gegensatz zum "Bergsteigen im Expeditionsstil".
Natürlich sehen die Ergebnisse der beiden Stile irgendwie ziemlich gleich aus ("Er war auf dem Gipfel"), und trotzdem ist eines davon eine Kunstform und das andere bloß (bestenfalls) Kunstgewerbe (siehe auch: Danto). Im Grunde hängt alles an einer Messner'schen Forderung:
"Benutze keinen künstlichen Sauerstoff!"
Eigentlich nicht so schwer: Pack dich warm ein, geh los und besteige den Berg. Nur mit dem Allernötigsten ausgerüstet. Und zum Allernötigsten gehört eben nicht künstlicher Sauerstoff. Oder eine Horde von Trägern, die den ganzen Kram (also auch die Sauerstoffflaschen) den Berg hochschleppen. Oder wochenlang Höhenlager (mit Sauerstoffflaschenvorräten) einrichten. Und einen womöglich noch runterholen sollen, wenn was schiefläuft (also der Sauerstoff ausgeht). Mit anderen Worten: Wenn du schon eine so zweckfreie (siehe Punkt 4 unten) Unternehmung wie auf einen sehr hohen Haufen Steine zu klettern angehst, dann mach es gefälligst richtig und so, dass das ganze Risiko nur bei dir selbst liegt.
Na gut, könnte man sagen, aber in der wirklichen Kunst geht es ja selten um Menschenleben, und das Risiko, in einem Konzertsaal biwakieren zu müssen, weil einem ein Schneesturm den Weg nach draußen abgeschnitten hat, ist auch recht überschaubar. Was also soll das?
Einfach: Man muss die Lebensgefahr rauskürzen. Es ist ja nicht so, dass man sich mit den ganzen Hilfsmitteln irgendwie weniger in Lebensgefahr begeben würde, eigentlich im Gegenteil. Siehe nur als Beispiele die beiden großen Unglücke, 1996 am Mount Everest und 2008 am K2. Das ist also nicht der Unterschied zwischen den beiden Stilen, folglich kann man es rausstreichen aus der Ungleichung. Und was dann übrigbleibt, kann man ohne weiteres eins zu eins auf die "normale" Kunst, hier also Komposition, übertragen. Das geht dann so:
Wenn du schon ein so zweckfreies (siehe Punkt 4 unten) Unternehmen wie die Anhäufung von schwarzen Punkten auf einem Blatt Papier angehst, dann mach es gefälligst richtig und so, dass das ganze Risiko nur bei dir selbst liegt.
Will heißen: Es ist eine Illusion, ein Stück mit irgendwelchen überflüssigen Mitteln (Theorien, Konstruktionen, Konzepten, Virtuosität etc.) absichern zu können. Also lass es. Je mehr unnützer Krempel am Stück dranhängt, desto weniger ist es letztendlich Kunst und desto mehr ist es Kunstgewerbe. Auch wenn es von außen den schmeichelhaften Eindruck erwecken mag, es sei doch Kunst.
3. Bergsteigen (und also Kunst) ist eine Form, sich selbst auszudrücken
Also das ist nun schon eine derartige Banalität, dass ich immer versucht bin zu sagen: im Gegenteil. Je weniger man sich selbst ausdrückt, desto mehr ist es Kunst.
Das wäre natürlich irgendwie doof und geradezu idiotisch, aus bloßem Trotz das Gegenteil zu behaupten. Klüger und langfristig effektiver ist es dann doch, wenn man den Begriff einfach mal präzisiert: "Sich selbst ausdrücken" heißt zweierlei:
a) Man weiß, was das ist: "Ich selbst".
b) Es gibt überhaupt etwas auszudrücken
Und schon fallen grob geschätzte 98 % aller Ausdruckswillensbekundungen raus und unter den Tisch und werden von herumstreunenden, räudigen Ratten aufgefressen.
4. Bergsteigen (und also Kunst) ist zweckfrei
Für mich beinahe der wichtigste Punkt. Messner meint damit die ganzen Expeditionen, die irgendeinen hehren Zweck behaupten:
"Wir machen es für's Vaterland" (Ende 19. / Anfang 20. Jahrhundert)
"Wir machen es, um auf den Klimawandel / den Raubbau an der Natur / die Auswirkungen des Massentourismus etc. etc. aufmerksam zu machen" (Ende 20. / Anfang 21. Jahrhundert)
Völlig zu recht sagt Messner, dass das alles Quatsch sei. Bergsteigen sei eben Bergsteigen. Man mache es, weil man auf einen Berg steigen wolle. Das ist eine so einfache und schöne und ehrliche Aussage, dass ich sie gar nicht mit Übersetzungsversuchen verdrecken will.
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Da haben wir sie also: die Messner'sche Kunstphilosophie. Oder Kunsttheorie. Oder auch Ästhetik. Einfach, klar, überzeugend. Und wem das alles von mir an den lockigen Wuschelhaaren herbeigezogen vorkommt, dem kann ich dann doch nur mit Baudrillard kommen:
"Das Problem mit der Realität ist, dass sie den Hypothesen entgegenkommt, die sie verneinen. Sie kapituliert bei der leisesten Aufforderung, sie beugt sich jeder begrifflichen Gewalt, ihr Kennzeichen ist die freiwillige Knechtschaft. Die Realität ist eine Hündin."
Baudrillard, Das radikale Denken
P.S.: Nur, um Amundsen nicht vollkommen unrecht zu tun: Er ist ja später in der Nordpolarregion verschollen und niemand weiß bis heute, was eigentlich passiert ist; irgendwie ist er letztendlich also doch auch gescheitert...