Mittwoch, 30. April 2014

Kommentar 38 - Interlude 2 / Der andere Xenakis und der Traum von der kalten Fusion / Fetzen einer Poetik 9

Es ist ja wohl so, dass es, je älter man wird, immer selter und eigentlich kaum noch diese Momente gibt, wo man von den Socken gehauen wird, wenn man ein Stück das erste Mal hört. Meistens sitzt man rum und denkt die ganze Zeit: Kenn ich schon, weiss ich schon, laaaangweilig, Schrott. Und erinnert sich wehmütig an die Zeit, als man Stille und Umkehr das erste Mal gehört hat, oder das Requiem von Ligeti oder den Sacre oder oder. Aber dann gibt es manchmal doch wieder solche Augenblicke, wo man plötzlich wieder aus seiner Lethargie gerissen wird und denkt: Boah, ist das gut.
So mir vor einiger Zeit geschehen bei The Strychnine Lady von Jani Christou. Seltsamerweise bricht dieses Video, bei dem die Klangqualität ziemlich bescheiden ist, nach etwas mehr als neun Minuten ab. Es gibt zwar noch eine vollständige Audioversion (offensichtlich von der UA), bei der fehlt aber ein entscheidender Teil, nämlich der visuelle. So oder so gibt es also zur Zeit keine (jedenfalls im Internet zugängliche) vollständige (Audio- und Video-) Aufnahme von Strychnine Lady, was es zwar einerseits erschwert, sich ein Gesamtbild von dem Stück zu machen, andererseits jedoch der elementaren Wucht, die es schon in seiner teilweise amputierten Form erzeugt, keinen Abbruch tut.

Christou nennt das Stück, das irgendwie eine Art Violaperformancekonzert ist, einen "rituellen Traum". Der Begriff des Rituellen spielt eine zentrale Rolle in seinem Versuch, das klassische griechische Drama in seiner dionysischen Form wiederzubeleben, wobei es sich in Christous Fall keineswegs bloß um eine Beatmung mit Herzmassage handelt. Er holt den ganz großen Defibrillator raus und jagt ein paar wohl- oder auch unwohldosierte Stromstöße in die zweieinhalbtausendjährige Geschichte dieser Kunstform.
"I am concerned with the transformation of acoustical energies into music." schreibt er in seinem Text "A Credo for Music". Und beklagt den Einfluss von "aesthetics" und "decoration" auf einen Großteil nicht nur der zeitgenössischen Musik. Folgerichtig sind die Mittel, die er in Strychnine Lady und anderen Stücken seiner letzten Lebensjahre verwendet, nicht eben von der, sagen wir mal, subtilen Sorte. Was nicht heißen soll, dass er ein drorfeilerscher Hackebeilkomponist wäre. Im Gegenteil, formal und klanglich ist das alles sehr austariert, szenische Aktion, Musik und Sprache stehen in einem klaren und deshalb wirkungsvollen Verhältnis zueinander.
Los geht es mit einer Ansage, die behauptet, das Stück könne aus technischen Gründen nicht aufgeführt werden. Aus dem Publikum protestiert jemand laut. Zwei Männer treten auf, entfalten ein rotes Tuch, halten es hoch, falten es wieder zusammen und legen es auf ein Tischchen, gehen dann wieder ab. Die Musik setzt ein, der Ansager sagt noch was (wirklich schade, dass das alles auf griechisch ist, dessen ich leider unmächtig bin), dann tritt die Bratschistin auf. Auf einen Schlag verstummt das Orchester und die Bratschistin spielt lautlos irgendwelche mechanisch-virtuosen Figuren. Im folgenden "konzertanten" Teil wechseln Bratschistin und Orchester nach Ritornell-Art einander ab, schaukeln einander hoch bis zu einem ersten Höhepunkt bei 5'20'', an dem dieser Teil durch einen Tamtam-Schlag der Pianistin beendet wird. Über einem Liegeton der Streicher samt Solobratsche treten vier Männer auf, die irgendetwas murmeln (wieder griechisch). Sie gehen zum Klavier in der Mitte der Bühne, das Murmeln steigert sich zum Schreien, bis sie schließlich ins Klavier brüllen.
Das Erstaunliche an diesen ersten sechs Minuten ist, mit welcher Zwanglosigkeit Performance, Musik und rituelles Spiel einander ablösen und ineinandergreifen. Es gibt keine langen Überleitungen, "Erklärungen", Vorbehalte oder ähnliches. Im Grunde sind es alles Setzungen. Gibt kein Rumgetaste und Rumgefummele "am Klang" und "im Ton", das wäre in Christous Verständnis wohl sowieso "Dekoration". Es geht einfach los. Und dann weiter. Und weiter. Und endet nach 25 Minuten, die einem wesentlich kürzer vorkommen, was, wenn ich Claus-Steffen Mahnkopf mal paraphrasieren darf, immer ein gutes Zeichen ist.
Nicht unschuldig an der oder vielmehr entscheidend für die Möglichkeit, diese ganzen Elemente so nebeneinanderstellen zu können, ist nach meinem Dafürhalten die erste Ansage. Man könnte es ja als bloßen Gag abtun, jaja, Stück findet nicht statt, lustig, lustig, diese modernen Künstler. Aber es ist weit mehr als das. Es hebt das Stück von Anfang an auf eine sozusagen irreale Ebene. Denn eigentlich dürfte es ja gar nicht erklingen. Es erklingt aber doch. Natürlich, möchte man meinen, der ganze Aufbau steht ja schon auf der Bühne und welche Art "technischer" Probleme sollte ein stinknormales Orchester und ein paar Schauspieler davon abhalten, ein stinknormales Konzertstück aufzuführen. Indem aber seine Nichtaufführung angesagt wird, ist dem Stück schon von vorneherein in gewisser Weise ein Freiraum eröffnet, der nicht zuletzt auch mit dem Traumszenario, das diesem Stück zugrunde liegt (die Strychnine Lady entstammt einem von Christous Träumen, in dem er eine Frau sucht, die irgendwelchen Leuten Strychnin verabreicht), zusammenhängt. Ausserdem ist mit dieser Ansage schon klargestellt, dass dieses Stück performative Elemente einbezieht. Dass Musik erklingen wird, ist ja unübersehbar, schließlich sitzt da ein Haufen Musiker herum, aber mit der Ansage als erster Aktion und dem inszenierten Zwischenruf ist gleich klargestellt, dass es neben der Musik noch etwas anderes geben wird. Oder zumindest geben könnte. Diese Vorgehensweise ist einfacher, "natürlicher" und effektiver als zum Beispiel diejenige Schuberts in Point Ones, der ja mit dem anfängt, was man ohnehin erwartet (= der Musik) und erst nach und nach das Besondere (= die Gestensteuerung) einführt, was man machen kann (man kann ja grundsätzlich alles machen), was aber schwerwiegende formale Probleme aufwirft (siehe auch als unumgängliches Beispiel aus der Historie den Schlusssatz aus Beethovens Neunter; wer das formal elegant findet, der isst wahrscheinlich auch gern Fischstäbchen mit Nutella, beides für sich sehr lecker, aber zusammengenommen: naja, sagen wir mal gewöhnungsbedürftig). Wenn man sich als Zuhörer erstmal im Erwarteten eingerichtet hat, dann sorgt die natürliche Trägheit dafür, dass das Besondere immer als "Störung" und damit als erläuterungsbedürftig empfunden wird. Und etwas hinterher erklären zu müssen ist immer unelegant. Wer schonmal einen schlechten Witz erzählt hat, weiß, wovon ich spreche. (NB: Das gilt nur für aussergewöhnliche "Störungen", will sagen: einem Medienwechsel [unerwarteter Gesang in einer Symphonie, unerwartete szenische Aktionen in einem Ensemblestück usw.] und nicht so sehr für innermusikalische Brüche, bei denen es sich eigentlich genau umgekehrt verhält).
Das alles soll nun nicht heißen, dass man es so machen muss oder soll, oder dass ich wüßte, dass es so und so besser zu machen sei, nein, es geht eigentlich nur darum, ein Bewußtsein für solche Abläufe und die damit verbundenen Probleme zu entwickeln. Es ist ja bekannt, dass Beethoven sich der Schwierigkeiten mit dem Gesang in der Neunten in höchstem Maße bewußt war, dass er sich ewig lang mit dem Schlußsatz rumgequält hat. Und irgendwie gibt ihm der Erfolg ja letztendlich doch recht. Aber vielleicht ist das grundsätzliche Problem dabei gar kein rein musikalisches (obwohl es das sicherlich auch ist), sondern eher ein performatives. Ich meine, es ist ja so: Da spielt eine Dreiviertelstunde lang ein Orchester eine Symphonie und im Hintergrund steht der Chor rum und die Solisten sitzen neben dem Dirigenten und man fragt sich, was die da eigentlich machen. Natürlich ahnt man schon, dass sie irgendwann singen, aber die meiste Zeit sitzen sie eben doof in der Gegend rum. Gleiches Problem auch bei den später so beliebten Streichquartetten mit Gesang im letzten Satz. Es gibt irgendwie keine befriedigende szenische Lösung für das Problem, dass die meiste Zeit vier Leute spielen und irgendwann noch jemand dazu kommt und plötzlich singt. Eine solche "Störung" ist, jedenfalls glaube ich das, nicht überzeugend innermusikalisch zu motivieren. Es wirkt immer angepappt, draufgepfropft, willkürlich, unelegant. Natürlich muss man sehen, dass die Möglichkeit eines sozusagen szenischen Eingreifens zu diesen Zeiten einfach nicht gegeben war. Insofern sind diese Stücke fremd in ihrer Zeit. Im eigentlichen Sinne also unzeitgemäß. Während es heute ohne performative Elemente gar nicht mehr geht. Das Problem hat sich dabei aber nicht einfach eine Ebene nach oben verlagert, so als müßte man nun eben das Performative motivieren. Irgendwo ist eine Grenze für das, was noch motivationsbedürftig ist und was nicht. Dass Leute auf einer Bühne irgendetwas machen, kann gar nicht mehr motivationsbedürftig sein, sonst würde man nicht mehr anfangen können. Natürlich kann man thematisieren, warum denn nun überhaupt auf einer Bühne etwas passieren soll, warum es überhaupt eine Bühne, ein Konzert, ein Theater geben soll (irgendwann landet man dann bei Flash-Mob-Aktionen, was aber auch irgendwie nur ein Wechsel des Mediums ist und nicht zwangsläufig die Lösung formaler Probleme fördert). Nein, das Problem des Performativen ist ein anderes: Es führt, wenn man ihm denn freien Lauf läßt, zur Verdrängung des Musikalischen. Das kann man an vielen, vielen, vielen Stücken der letzten Jahre beobachten. Allzuoft wird einer szenischen Idee (= einem "Konzept") die musikalische Struktur geopfert. Ja noch mehr, die musikalische Faktur wird geradezu systematisch vernachlässigt. Diese ganzen Zufallsalgorithmen, die freie Verfügbarkeit von undenkbaren Sample-Massen, die Ersetzbarkeit von realen durch virtuelle Instrumente fördern letztlich eine zunehmende Verrohung dem Musikalischen gegenüber. Grobe instrumentatorische Fehler wie eine voll aufgedrehte verzerrte E-Gitarre im Zusammenspiel mit Flöte oder Klarinette oder Cello sind einfach nicht durch irgendwelche Konzepte wegzuerklären. Es sind und bleiben Fehler. Willkürliche musikalische Verläufe, die durch keinerlei innermusikalische Logik mehr zusammengehalten werden, sind nicht cool. Jaja, das hört sich jetzt schon so reaktionär an, als würde hier der Hindrichs ohne philophischen Schutzschild rumfuhrwerken. Meinetwegen. Dabei bin ich unbedingt für Konzepte. Ich bin für Performatives. Ich bin aber gegen den Logozentrismus des Neuen Konzeptualismus. Gegen die Erdrückung des Musikalischen zugunsten eines Automatismus der Bilder, Worte und Bewegungen. Isch möschte das nischt.
Was hat das alles nun mit Christou und was hat Christou eigentlich mit Slayer und was haben Slayer, Christou und die Neunte von Beethoven mit der "Transformation von Energien" und was zum Teufel hat die "Transformation von Energien" mit dem Neuen Konzeptualismus zu tun?
Nix, könnte man denken, das war alles nur ein Vorwand, um mal eine der neuerdings so beliebten Tiraden gegen die aktuelle Entwicklung in der Neuen Musik loszulassen. Zumal ich ja letzthin noch getönt hatte, mir gehe die Diskussion darum am Allerwertesten vorbei. Vielleicht habe ich mich ungenau ausgedrückt. Ich würde gerne die Sache an sich (als würde es so etwas geben) von der Diskussion darum trennen. Es ist ja wohl ziemlich offensichtlich, dass die Diskussion eigentlich ein schlecht getarnter Verteilungskampf ist und es Hindrichs, Drees, Hillberg und Konsorten gar nicht um eine Auseinandersetzung in der Sache geht. Deshalb ist der Austausch von Häßlichkeiten auch so fruchtlos.
Dabei täte eine wirkliche Beschäftigung mit der Sache wirklich not. Die Tatsache bleibt bestehen, dass der sogenannte Materialfortschritt an ein Ende gelangt ist. Die Tatsache bleibt bestehen, dass die Einbeziehung von performativen Aspekten eine wirkliche Chance bietet, aus der Kratzgeräuschüberbietungsorgie rauszukommen. Die Tatsache bleibt bestehen, dass es kein einfaches Zurück zu irgendetwas geben kann.
Und genau hier kommen Christou und Slayer ins Spiel. Wenn man den Fokus auf das richten würde, was Christou "akustische Energien" nennt und was (natürlich nicht nur, aber exemplarisch) bei Slayer als Umwandlung von akustischer Energie in körperliche Wirkung ins Werk gesetzt ist, dann wäre dieses ganze blödsinnige Hickhack um Material und Konzepte mit einem Mal überflüssig. Es ist inzwischen nunmal alles möglich. Aber dass alles möglich ist, heißt ja noch lange nicht, dass alles gleich gut ist. Oder dass alles gleich wünschenswert ist. Nimmt man die Richtgröße der "akustischen Energie", die in und durch Musik übertragen werden soll, dann hat man, denke ich, eine gute Ahnung davon, in welchem Verhältnis zueinander die verschiedenen Elemente eines Stückes stehen sollten. Der Begriff beinhaltet schon, dass das Akustische nicht sozusagen ein dünnes Mäntelchen für ein Konzept oder eine Mono-Idee abgeben kann. Denn genau seine Energie ist es ja, um die es geht. Zumindest, wenn man an einem einigermassen strengen Begriff von "Musik" festhalten will. Darüber kann man natürlich reden, wie eng man den Begriff fassen will. Darüber muss man sicherlich reden. Bei Christou und seiner Strychnine Lady jedenfalls kann man sehen, wie eine Musik, die sich nicht auf sich selbst zurückzieht, sich aber auch nicht völlig ins Szenische veräußert, aussehen kann. Wenn jetzt noch die Zuhörer von der Bühne ins Publikum hüpfen, dann haben wir die Musik der Zukunft.


Dienstag, 29. April 2014

Kommentar 37 - Interlude 1 / Blutherrschaft oder: Über den Begriff musikalischer "Härte" und warum sie wünschenswert sein soll / Fetzen einer Poetik 8

Als 1986 die Platte Reign In Blood von Slayer rauskam, war damit nach vorherrschender Meinung in der einschlägigen Szene ein neuer Standard für die "Härte" von Musik gesetzt. Sie war der vorläufige (manche behaupten ja auch: endgütlige) Höhepunkt einer Entwicklung, die mit dem ersten Aufflackern des Punk Mitte der 70er in New York und der Aufspaltung in Dutzende Sub- und Subsubgenres in den frühen 80ern begonnen hatte. Irgendwie war es plötzlich wichtig, dass Musik "hart" war. Hört man sich allerdings heute frühe Punkmusik an (z.B. von den Dead Boys, Richard Hell and the Voidoids, den Ramones oder den Dead Kennedys), dann wirkt das im Vergleich zu dem, was nicht einmal zehn Jahre später von Slayer gemacht wurde, direkt niedlich.
Abgesehen von den ziemlich wirren Texten (wer's unbedingt wissen will, kann ja mal hier nachlesen, oder es sich auch sparen), die eigentlich nur Pubertierende oder zurückgebliebene entwicklungsverzögerte einfach gestrickte jung gebliebene Erwachsene als in welcher Weise auch immer "sinnvoll" wahrnehmen können (interessant ist übrigens die Parallele zu Schlagertexten mit einer ganz ähnlichen Reihung von Substantiven, die hier aber nicht dem Heile-Welt-Liebe- , sondern dem Tod-Blut-Gewalt-Konnotationsfeld entstammen), abgesehen davon also kann man der Musik eine gewisse Energie nicht absprechen. Ich meine, natürlich ist die Klangfarbenvielfalt bei einem Ensemble aus verzerrten E-Gitarren, Bass und Schlagzeug relativ eng begrenzt, da ist keine überraschende Vielfalt von fein ausgehörten Abstufungen zu erwarten. Überhaupt ist das musikalische Material, sagen wir mal, überschaubar. Es gibt immer eine Art Grundriff, durch das ein Stück mehr oder weniger zusammengehalten wird, ein paar uncharakteristische, chromatisch angerauhte Töne in etwas charakteristischerer Rhythmisierung. Auffällig ist, dass auf die Liedanfänge besonderer Wert gelegt wird. Ich glaube nicht, dass jemand, der das Album weniger als zwanzig, dreißig Mal gehört hat, auf Anhieb ein Stück aufgrund eines Ausschnitts aus der Mitte erkennen würde. Die Liedanfänge dagegen sind ganz auf Wiedererkennung abgestellt, kein Wunder, muss doch der Fan auf dem Konzert schon nach den ersten paar Sekunden wissen, woran er ist und gegebenenfalls jubeln, weil genau dieses Stück jetzt kommt. Daher eben das (jedenfalls in der Szene) berühmte Anfangsriff von Angel of Death, und das spielerisch-atmosphärische Gewittergrummeln von Raining Blood usw. Das alles sind aber im Grunde keine besonders origienellen Zutaten, das kann man so oder ähnlich bei anderen vergleichbaren Liedern vergleichbarer Bands hören.
Was macht diese Musik aber nun so "hart"? Was bedeutet es überhaupt, wenn man von Musik sagt, sie sei "hart"? Geht es nur um Lautstärke und Schnelligkeit?
Bestimmt auch, aber nicht nur. Wäre die Musik bloß laut oder bloß schnell oder auch bloß laut und schnell, hieße das noch lange nicht, dass man sie als "hart" empfinden würde. Auch die Thematik der Texte, die wohl sowieso eher dem Genre geschuldet ist als irgendwelchen künstlerischen Überlegungen, ist für sich genommen kein ausreichendes Anzeichen für Härte, genausowenig wie die Tatsache, dass Tom Araya mehr schreit als singt.
Laut Wikipedia ist der Begriff der Härte im ursprünglichen (= physikalischen) Sinn definiert als das Mass des mechanischen Widerstandes, "den ein Werkstoff der mechanischen Eindringung eines härteren Prüfkörpers entgegensetzt". Anders gesagt: Härte heißt Undurchdringlichkeit. Und die Musik von Slayer ist in diesem Sinne tatsächlich "undurchdringlich". Die Oberfläche dieser Musik, so man denn von Oberfläche bei Musik überhaupt sprechen kann, bietet dem Ohr keine Angriffsfläche, keinen Punkt, an dem man in irgendeine Tiefe eindringen könnte. Das klingt jetzt möglicherweise etwas arg metaphorisch, wobei ich nicht glaube, dass man über Musik abseits eines technisch-analytischen Vokabulars anders als metaphorisch sprechen kann.
Wie auch immer, das Zusammenspiel der oben aufgezählten Eigenschaften dieser Musik erzeugt einen seltsam undifferenzierten Klangstrom, der eben aufgrund dieser Undifferenziertheit undurchdringlich wirkt. Die heruntergestimmten, stark verzerrten Gitarren, die jenseits der obligatorischen (im Übrigen aber angenehm sparsam verstreuten) Gitarrensoli ein Erkennen des Tonhöhenverlaufs nicht nur erschweren, sondern geradezu konterkarieren, erwecken den Eindruck einer Geräuschkulisse, deren Oberfläche nur blockhaft wechselt und die immer nur in Kopplung mit Schlagzeug und Bass ihre rhythmische Gestaltung erhält. Es gibt also keine individuellen Freiheitsgrade der einzelnen Klangfarbspender (in welcher Musik der im weitesten Sinne populären Genres gäbe es die?) Die Riffs wirken dabei wie Einkerbungen in einem Felsen, die dem Ganzen zwar eine Struktur (in diesem Falle eine zeitliche) geben, darüberhinaus aber die Oberfläche nicht durchdringen. Das Spiel der vier Musiker ist bei all dem ziemlich tight, wovon man sich nicht zuletzt anhand der Live-Mitschnitte der Konzerte überzeugen kann, die in ihrer rhythmischen Präzision den Studio-Aufnahmen nicht nachstehen. Überhaupt ist rhythmische Präzision das A und O bei der ganzen Sache. Die ganzen Stops, Breaks und Tempiwechsel würden bei der geringsten Unsauberkeit ihre Wirkung verlieren. Wer schonmal für größere Ensembles oder Orchester komponiert hat, der weiß, wie unendlich schwierig es sein kann, wenn mehr als zwei Leute zum exakt gleichen Zeitpunkt rhythmisch das exakt Gleiche machen sollen. Natürlich haben Slayer den "Vorteil", dass ihr 4/4-Takt durchläuft und sie immer einen durchgehenden Puls haben. Das gibt es selbstverständlich in Neuer Musik so nicht. Allein schon die Andeutung eines durchgehenden Pulses in drei aufeinanderfolgenden Noten gilt ja gemeinhin als verpönt und populistisch. Dennoch ist die rhythmische Genauigkeit der Jungs von Slayer bewundernswert. Eine Musik, die nicht auch rhythmisch präzise ist, kann, jedenfalls nach meinem Dafürhalten, nicht hart sein. Deshalb wirken auch die Beispiele oben aus der Gründerzeit des Punk im Vergleich zu Slayer zwar roh, aber nicht unbedingt sonderlich hart.
Ich fasse zusammen: Härte ist keine Eigenschaft, die man aus einzelnen Zutaten ableiten könnte, sie entsteht im Zusammenwirken von Geräuschhaftigkeit, Schnelligkeit, Lautstärke und präzisem Spiel und ist so etwas wie eine emergente Eigenschaft, eine Eigenschaft, die mehr ist als die Summe ihrer Bestandteile.
Jetzt aber, warum finden so viele Leute, dass die Musik, die sie hören, unbedingt hart sein sollte? Klar, harte Musik hat zunächst mal immer ein hohes Provokationspotential den Eltern oder anderen Erwachsenen gegenüber, die man als Jugendlicher als spießig, langweilig, erdrückend, zum Verzweifeln vernünftig empfindet. Das ist wie mit einer Einstiegsdroge, man erfährt eine Wirkung (nämlich den Widerwillen der Eltern gegenüber solchem "Geschrei", solcher "Nichtmusik"), die Wirkung läßt aber zusehends nach und kann nur durch noch höhere Dosen und schließlich nur mit noch härterem (da ist das Wort schon wieder) Stoff erzielt werden. Hinzu kommt natürlich ein Zusammengehörigkeitsgefühl der jeweiligen Szenen, man ist unter sich, man grenzt sich von anderen Genres ab (und sei es nur als Thrash-Metaller von Death-Metallern, was Aussenstehenden wohl einigermassen absurd vorkommen mag), man trägt die entsprechende Mode, geht zu den entsprechenden Festivals usw. usf. Aber all das würde wohl kaum auf Dauer funktionieren, wenn man als Hörer die Härte der Musik nicht als in irgendeiner Form angenehm empfinden würde. Und das führt mich zurück zu dem, was ich beim Schlager schon festgestellt habe: Die körperliche Wirkung von Musik. Während der Schlager für die gesetzteren Jahrgänge eine Bewegungstriebabfuhr bewirkt, leistet z.B. der Thrash-Metal selbiges für die Jüngeren. Die Texte sind leicht zu merken (irgendwas mit Tod und Verderben wird schon dabei sein), man kann sie also beim Konzert oder im Auto schön mitschreien. Man kann wunderbar headbangen, man kann im Moshpit rumhüpfen und sich auf "spielerische" Art mit anderen körperlich auseinandersetzen. Man kann klatschen, Hände in die Luft recken, stagediven (obwohl das eher in Punkkonzerten und nicht so sehr im Thrash-Metal üblich ist) und was der körperlichen Aktivitäten noch mehr sind. Man kann und muss sich sogar bewegen. Und Bewegung fördert ja bekanntlich das eigene Wohlbefinden. Kein Wunder, dass Jugendliche nicht in sogenannte klassische Konzerte gehen. Eine ödere Veranstaltung kann man ihnen wohl kaum zumuten. Man kann sein Bier nicht in den Saal mitnehmen, es gibt keine überlaufenden Dixie-Klos, man kann keine T-Shirts der Ensembles kaufen, man kann nicht von der Bühne in einen Haufen Menschen hüpfen, die einen auffangen, man darf nicht mitsingen und schon gar nicht darf man nach Beginn des Stückes johlen, weil man es wiedererkannt hat und sich darauf freut. Ich würde als Jugendlicher auch nicht hingehen.
Zuegegeben, das klingt jetzt ziemlich anti-intellektuell und irgendwie nach "Edlem Wilden" und so weiter, aber ich wiederhole mich: Ist es nicht möglich, diese rohe Energie in die aktuelle Kunstmusik aufzunehmen? Und zwar nicht auf die unerträglich herablassende, ausplündernde Weise, auf die es mit den ganzen Musiken "fremder" Kulturen geschehen ist (wenn ich noch einmal was von der Dreiviertelton-Melodik der arabischen Musik hören muss, dann trete ich wirklich noch aus der Neuen Musik aus, endgültig). Sondern vielmehr im Sinne einer radikalen Vereinfachung der musikalischen Strukturen, so dass solche körperlichen Wirkungen überhaupt erst wieder möglich werden. Noch einmal, nicht dass man mich noch mit den Heinis von der Zurück-zur-Tonalität-Bewegung oder den Langwellen-Minimalisten in einen Topf wirft: Vereinfachung heißt nicht Simplifizierung (heißt es natürlich schon, der Wortbedeutung nach, aber eben doch nicht ganz: Vereinfachung heißt für mich: mit dem geringstmöglichen Aufwand die größtmögliche Wirkung zu erzielen; Simplifizierung wäre dagegen: mit dem geringstmöglichen Aufwand die geringstmögliche Wirkung erzielen, also: dass es auch der letzte Depp noch rafft). Es kann nicht darum gehen, einzelne Elemente aus der Popmusik (ja, ihr Metaller, es ist nunmal Popmusik, da könnt ihr euch auf den langhaarigen Kopf stellen) rauszuklauben und irgendwie in ein Neue-Musik-Stück einzubauen (eine verzerrte E-Gitarre oder einen 4/4-Beat im Schlagzeug). Es geht auch nicht darum, irgendwelche formalen Vorgaben zu übernehmen, nach dem Vorbild: Intro-Verse-Chorus-Bridge-Verse-Chorus-Solo oder so.
Es geht um die Transformation von Energie. Und wie man sie bewerkstelligt.
Und genau um diese Transformation akustischer Energien geht es im zweiten Interlude morgen.



Mittwoch, 9. April 2014

Kommentar 36 - Wir müssen den Joy-Faktor erhöhen / Fetzen einer Poetik 7

Demnächst geht es weiter mit der Reihe Filloßofy für Dumä, dann unter anderem mit Richard Wollheims Objekten der Kunst, Niklas Luhmanns Die Kunst der Gesellschaft und dem Sammelband Musikalischer Sinn, in dem (es ist eine traurige Angelegenheit, soviel kann ich schon mal verraten) Musikwissenschaftler über den, jep richtig: musikalischen Sinn "nachdenken".

Inzwischen werde ich mich aber mal wieder mit dem Eigentlichen beschäftigen, nämlich mit der Kunst an und für sich. Also mit aktuellen Stücken, die nicht notwendigerweise dem Neuen Konzeptualismus angehören. Genauer gesagt, ist es mir inzwischen eigentlich völlig schnuppe, welchem Ismus oder welcher Keit wer angehört. Noch genauer gesagt nervt mich die Diskussion um den Neuen Konzeptualismus inzwischen sogar. Ich bin zwar gespannt auf die nächsten MusikTexte und darauf, ob tatsächlich und ernsthaft Stücke besprochen werden, befürchte aber, dass doch nur wieder diese pubertären Schwanzvergleiche abgezogen werden ("Höhö, der Kreidler weiß ja noch nicht mal, dass 'ne Wagnertuba gar keine Tuba ist" - "Höhö, der Nyffeler ist ja so was von doof, mit dem rede ich doch gar nicht"). Und ganz arg genau gesagt ist ein Notenkopf eiförmig und ein Stück Neue Musik dauert zwischen 12 und 20 Minuten, und am Ende gewinnt immer Wofgang Rihm.

Wo war ich? Ach so. Schubert. Point Ones:

Alexander Schubert: Point Ones, gespielt vom Nadar Ensemble.

Eigentlich wollte ich zuerst Lucky Dip vom selben Komponisten besprechen, musste aber das Ansehen des Videos wegen akuter Epilepsie-Gefahr abbrechen.

Also, Point Ones. Alexander Schubert verkabelt gern Menschen. In Point Ones ist der Dirigent verkabelt, beziehungsweise mit irgendwelchen Bewegungssensoren ausgestattet oder wird von ebensolchen irgendwie registriert. Angeblich kann er damit irgendwelche Klänge auslösen. In den Programmnotizen steht dazu Folgendes:
Über diese technischen Faktoren hinaus soll sich das Stück auch mit dem Vokabular des Dirigenten und der Erwartungshaltung, die mit diesen Gesten verbunden sind auseinandersetzen. Nicht immer ist vorhersehbar, welche Bewegung zu welchem Resultat führen wird.
Man merkt schon, wir sind in der Moderne. Alle naselang wird sich mit irgendeiner Erwartungshaltung auseinandergesetzt. "Kritisch", das denke ich jetzt einfach mal mit. Mit der Rolle des Dirigenten wurde und wird sich besonders intensiv schon seit Jahrzehnten auseinandergesetzt, widerspricht er doch als Quasi-Diktator so vollkommen den neuzeitlichen Idealen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Also muss er ohne Orchester dirigieren, gegen das Orchester dirigieren, irgendwelche sinnfreien Gesten vollführen, singen, tanzen und was der Einfälle noch mehr sind. Bei Alexander Schubert dirigiert er nun nicht nur, sondern ist gleichzeitig eine Art Instrumentalist, indem er die Live-Elektronik steuert. Um das Ganze noch zu verkomplizieren, ist "nicht immer vorhersehbar, welche Bewegung zu welchem Resultat führen wird". In der Praxis sieht das dann so aus, dass Daan Janssens, der das Nadar Ensemble dirigiert, Handkantenschläge oder Handgirlanden vollführt, woraufhin irgendein elektronischer oder elektronisch verfremdeter Klang gespielt wird. Dass nicht vorhersehbar sei, welche Bewegung zu welchem Klangresultat führt, ist gelinde gesagt eine Untertreibung, man weiß eigentlich nie vorher, welcher Klang jetzt an der Reihe ist. Es gibt Klicks wie von einem elektronischen Metronom, es gibt körnige Glissandi aus der Tiefe, MIDI-Chöre, Synthesizer-Klänge, das übliche Max/MSP-Sample-Gescratche usw. usf. Ein bunter Strauss an Möglichkeiten, der in scheinbarer Beliebigkeit abgefeuert wird. Passend dazu, bzw. in schöner Korrespondenz sind die Gesten auch von der eher beliebigen Sorte. Im weitesten Sinne sind es Dirigat-Gesten, denn das Ensemble muss ja auch noch irgendwie zusammengehalten werden. Diese unscharfe Trennung von Dirigat und elektronisch-instrumentaler Aktion führt bereits nach wenigen Minuten dazu, dass man dann halt gar nichts mehr erwartet und geistig abschaltet. Ist ja ohnehin aussichtslos. Zumal der recht undifferenzierte Ensemble-Satz auch nicht gerade dazu angetan ist, die Spannung über immerhin knapp 14 Minuten Musik hochzuhalten.

Um dieser leicht subjektiv gefärbten, möglicherweise schlechtgelaunt erscheinenden Kritik einen Anstrich von Objektivität zu geben, will ich hier eine Art Erwartungshaltungsprotokoll bis zu dem Punkt, an dem ich aus dem geistigen Mitvollzug ausgestiegen bin, aufschreiben.

0'00''-0'14''   Das Stück geht los. Wir nehmen mal an, ich hätte den Programmtext mit der Erläuterung der dirigentischen Verkabelung nicht gelesen. Dann sehe ich zunächst mal ein stinknormales Neue-Musik-Ensemble mit einem Dirigenten.
Erwartungshaltung 1: Irgendein Neue-Musik-Kram.
Folgerichtig fängt das Ensemble schön ordentlich an zu spielen und spielt: Irgendeinen Neue-Musik-Kram. Der Dirigent dirigiert. Dass er irgendetwas anderes auslöst als das Spiel der Instrumentalisten, ist nicht erkennbar.
Erwartungshaltung 2: Naja, das Ensemble fängt relativ dicht an, also wird es wohl (auf die Großform bezogen) entweder:
a) noch dichter, bevor es dünner wird
b) immer nur dünner
c) zusätzlich oder parallel von kontrastierenden Blöcken unterbrochen.
0'14'' - 0'19''  Erster Einschnitt. Erwartungshaltung c) wurde erfüllt. Ein kontrastierender Block. Der Dirigent schlägt ab, das Ensemble verstummt. Der Dirigent haut mit der Linken zur Seite. Es piept. Man bringt das Piepen mit den Handschlägen in Verbindung. Am Schluss gibt es eine abweichende Bewegung, es ertönt ein abweichendes Piepen. Jetzt wird klar, dass der Dirigent noch was anderes macht als dirigieren. Er macht Töne.
Erwartungshaltung 3: Entwicklung dieser Tonhervorbringungsmasche. Also:
a) Überlappung mit Ensembledirigat
b) weitere, vorzugsweise spezifischere und / oder komplexere Bewegungsmuster
c) parallele Entwicklung der hervorgebrachten Töne, weil Piepsen ja auf Dauer irgendwie ziemlich unspektakulär ist.
0'19'' - 0'26''   Aus der Tonerzeugungsgeste heraus gibt der Dirigent den Einsatz für einen Flöten-Schwellton. Danach rechtshändige Aktion mit anderem Piepen. Dann Einsatz für Ensemblespiel.
Die Erfüllung von Erwartungshaltung 3a) und b) wurde zumindest angekündigt, allerdings auf eine Weise, die Platz läßt für mehr.
0'26'' - 0'34''   Die Ensembletextur vom Anfang wird aufgegriffen. Allerdings gemischt mit einem elektronischen Klang, dessen Hervorbringung nicht verortbar ist. Der Dirigent dirigiert mit rechts das Ensemble, die Linke bleibt in der zuletzt erreichten Stellung. Verwirrung macht sich breit. Gibt es einen elektronischen Part, der nicht vom Dirigenten ausgelöst wird? Wenn ja, warum? Wenn nicht, wie steht er mit dem Piepsen von vorher und der statischen Gestik der linken Hand in Zusammenhang.
Erwartungshaltung 4: Einerseits klar: Es gibt eine formale Dynamik zwischen Ensembleblöcken und Dirigenten-Elektronik-Aktion. Also wird:
a) diese Dynamik weiterverfolgt, möglicherweise in Form einer immer stärkeren Durchdringung dieser beiden formalen Elemente.
b) die Eigendynamik der beiden Elemente weiterverfolgt, das heißt also, sie werden in sich weiterentwickelt nach Erwartungshaltung 2 und 3.
Andererseits taucht eine neue Erwartungshaltung auf, nämlich diese:
Erwartungshaltung 5: Klärung des Zusammenhangs zwischen Gesten des Dirigenten und elektronischen Klängen.
0'34'' - 0'41''   Erstmal ist wieder der Dirigent dran. Wir kennen das Piepen ja schon. Dann aber verharrt die Linke in gewisser Höhe und das Piepen geht in einen Liegeklang über. Erwartungshaltung 3c) scheint sich zu erfüllen. Gleichzeitig rückt Erwartungshaltung 5 in den Hintergrund, weil jetzt der Zusammenhang wieder ganz klar ist. Ausserdem spielt das Klavier zu dem Liegeton eine schnelle Repetition uind sorgt so für eine Überlagerung von Elektronik und Ensemble (Erwartungshaltung 4a) und b)).
0'42'' - 0'52''   Einsatz für einen neuen Ensembleblock in leichter Variation. Erkennbar ist das Klaviermotiv vom Anfang, das übrigens im zweiten Ensembleblock gefehlt hatte. Wieder gibt es eine elektronische Komponente (ein hohes Sirren oder Zirpen oder wie man es nennen will), von der man nicht zuordnen kann, ob sie vom Dirigenten ausgelöst und / oder beeinflußt wird. Es scheint so zu sein, dass während geballtem Ensemblespiel die Elektronik weitgehend frei von dirigentischer Kontrolle sich entfaltet. Das ist eine Arbeitshypothese, die aber die Frage aufwirft, was das eigentlich soll. Ich bin ja noch mit einer ganzen Menge anderer Erwartungshaltungen beschäftigt, deren Einlösung ich nachverfolge, aber über alle legt sich diese Unsicherheit, was denn nun mit diesen anderen elektronischen Klängen los ist.
Erwartungshaltung 6: Alle bisherigen Erwartungshaltungen gelten weiterhin, wobei sich Erwartungshaltung 5 in den Vordergrund drängt.
0'52'' - 1'16''   Elektronikfreies Ensemblespiel. Irgendwie verwandt mit dem vorherigen Material. Ich verbuche es unter Erfüllung von Erwartungshaltung 4b). Gegen Ende dieses Abschnitts tut sich was beim Dirigenten, ganz langsam hebt er den linken Arm. Inzwischen darauf geeicht, auf diese Bewegungen zu achten, versuche ich, irgendeinen elektronischen Klang rauszuhören. Es gelingt mir nicht. Erneute Verwirrung. Manchmal also löst der Dirigent gar nichts aus. Inzwischen haben wir alle drei möglichen Verbindungen von Dirigat und Elektronik durch:
1) Dirigat und Elektronik stehen in einem klaren Verhältnis zueinander (Piepen)
2) Elektronik ohne erkennbare Gesten
3) Gesten ohne erkennbare Elektronik
Weiterhin wurden folgenden musikalischen Elemente vorgestellt:
1) Ensemblesatz
2) Elektronisches Piepen
3) Einzelinstrument mit Elektronik
4) Ensemblesatz mit Elektronik
Erwartungshaltung 7: Schwer zu sagen. Alle Optionen liegen auf dem Tisch. Also muss irgendetwas damit passieren. Grundsätzlich gibt es folgende Möglichkeiten:
a) Variation
b) Kontrast
c) Vermischung
d) immer Neues
e) Wiederholung
Weil das Stück bis dahin noch keinen Anhaltspunkt dafür geliefert hat, wie es denn nun die ganzen formalen Einheiten handhaben will, muss ich mit allem rechnen. Ich habe also grob geschätzt 3x4x5 = 60 verschiedene mehr oder weniger gleichwahrscheinlich erwartbare Fortführungen in diesem Augenblick. Mit anderen Worten, ich kann eigentlich erstmal gar nichts mehr erwarten, weil die Anzahl der Möglichkeiten schlicht zu groß ist. Aber was bleibt mir übrig, ich höre weiter.
1'16'' - 2'01''   Alexander Schubert entscheidet sich dafür, erstmal das Ensemble-Element weiterzuentwickeln. Okay. Hätte man ja erwarten können. Oder auch nicht. Es gibt also diese Sforzato-Einwürfe, die sich allmählich auseinanderziehen zu einem kleinen Motiv der E-Gitarre. Zwischendurch gibt es auch mal wieder eine Elektronik-Aktion (1'33''). Der elektronische Klang steht eindeutig mit der Geste in Zusammenhang, ist aber nicht mit dem Piepen von vorher verwandt. Irgendwie wirkt er wie eine blosse Klangfarbe, hat aber eine retardierende formale Funktion, indem er die Ensemble-Sforzati nochmal staut. Erneut wird jegliche Erwartungshaltung unterlaufen, denn dass eine eindeutige Geste-Klang-Korrelation nun plötzlich mit einem völlig anderen Klang ausgestattet wird, ist neu und nicht erwartbar gewesen. Der Klang schwillt also ab und wieder an, schön mit der Handbewegung korrespondierend. Das Schlagzeug setzt mit einem 08/15-Beat ein, dann entlädt sich die angestaute Energie in einem ersten Höhepunkt des Ensembles. Dieser dauert dann eine ganze Zeit lang, allerdings passiert bei
2'02'' wieder was Neues, denn das entfesselte Ensemble wird von einer sogenannten Wasserschöpf-Geste des Dirigenten unterbrochen. Der ausgelöste Klang ist eine Art 8-Bit-80er-Jahre-Spielekonsole-Glissando. Das entbehrt nicht eines gewissen Humors. Erfüllt auch Erwartungshaltung 3b) und c). Während das Ensemble in der Folge weiter einen draufmacht, ungefähr bis
2'42''   kommt eine weitere Geste zum Repertoire hinzu, die sogenannte schnelle Regalgreifgeste der Rechten bei 2'08''-2'10''. Ihr korrespondiert ein elektronischer Klang, der sich nach einer gestutterten E-Gitarre anhört, wofür ich aber bei dem ihn umgebenden Ensemble-Lärm (vielleicht auch der Audioqualität des Videos geschuldet) nicht die Hand ins Feuer legen würde. Auf jeden Fall ist es wieder ein neuartiger Klang, den man notgedrungen als Klangfarbe ablegen muss, weil man ihn aufgrund seiner Vereinzelung nicht strukturell einordnen kann. Musikalisch wirkt dieser ganze Höhepunkt (zumindest ist er das lautstärketechnisch) irgendwie hilflos, er funktioniert ziemlich geradlinig nach dem klassischen Prinzip der Motivverkürzung, ohne diesem Topos eine neue Seite abzugewinnen. Aus den Instrumenten wird halt rausgeholt, was rauszuholen ist, wobei naturgemäß E-Gitarre und Schlagzeug alles andere zudecken. Der Cellist beispielsweise rödelt die ganze Zeit über die Seiten, ohne dass man ein nennenswertes Klangergebnis ausmachen könnte. Das ist instrumentatorisch zumindest fragwürdig. Oder sieht nach Verlegenheit aus, den Cellisten auch irgendwie beschäftigen zu müssen, weil er halt da ist.
2'24''   bringt mit dramatischer Seinodernichtsein-Geste einen MIDI-Chor. Ich habe es an dieser Stelle schon längst aufgegeben, irgendwelche Erwartungshaltungen aufzustellen, was die Logik oder Entwicklung des ganzen Dirigenten-Elektronik-Komplexes angeht. Es kommt halt manchmal eine neue Geste und manchmal ein neuer Klang und manchmal (obwohl seltener) ein alter Klang mit alter Geste. Die Punkte, an denen Neues eingeführt wird, sind manchmal formale Einschnitte, manchmal aber auch nicht. Übrig bleibt eigentlich nur noch:
Erwartungshaltung 8: Dass es jetzt bald mal wieder leiser wird.
Dann aber, bei
2'30''   stutze ich kurz. Der Dirigent hat mit der rechten Hand diesen Stutter-Klang gesteuert, dann läßt er seine Hand sinken und der Klang geht weiter. Ich werde misstrauisch. Entweder, die Gestensteuerung ist reiner Humbug und die Klänge werden von irgendwem hinter oder neben der Bühne einfach an den passenden Stellen abgefahren. Oder die Gestensteuerung funktioniert nur teilweise, nämlich indem an den entsprechenden Punkten einfach Samples von den Bewegungen ausgelöst werden. Zumindest aber scheint es so zu sein, dass die Möglichkeit für gewisse Klänge zu bestimmten Zeiten an- und ausgeschaltet wird. Es ist also in keinem Fall so, dass der Dirigent die alleinige Kontrolle über sein Spiel hätte. Dieser Aspekt wiederum wird überhaupt nicht im Stück thematisiert. Es wird verzweifelt an der Illusion festgehalten, der Dirigent steuere per Gesten Klänge.

Dann dämmert es mir langsam: Es ist nicht nur nicht klar, wer oder was letztendlich die elektronischen Klänge auslöst oder sie kontrolliert, es ist sogar vollkommen wurscht. Es ist keineswegs notwendig, dass sie vom Dirigenten gesteuert werden. Der umgekehrte Fall wäre genauso logisch (= würde der Logik des Stückes nicht widersprechen): Der Dirigent wird von den fremdgesteuerten Klängen zu seinen Bewegungen veranlasst. Das Stück würde aber auch ohne die Bewegungen des Dirigenten denselben Eindruck machen wie mit. Die Bewegungen sind dem Stück selbst vollkommen äußerlich. Also ein Gimmick. Also Quatsch. Daher auch die ständige Unsicherheit darüber, was denn nun Sache ist. Irgendwie scheint Alexander Schubert das selbst nicht so genau gewußt zu haben. Der Dirigent sollte halt per Gesten Klänge steuern. Anstatt aber das Stück konsequent darauf auszurichten und darum herumzubauen, so dass es wirklich notwendig ist, dass der Dirigent so rumfuchtelt, wird diese Idee halbherzig und eigentlich als bloße Show inszeniert. Die Klänge haben untereinander keinen Zusammenhalt, die Gesten haben keinen Zusammenhalt, den Kram vom Ensemble hat man nun auch schon mehr als einmal in ähnlicher Mache gehört. Spätestens an diesem Punkt, also bei
2'34''  lehne ich mich zurück und lasse die restlichen 11 Minuten ohne nennenswerte weitere geistige Tätigkeit über mich ergehen.