Dienstag, 29. April 2014

Kommentar 37 - Interlude 1 / Blutherrschaft oder: Über den Begriff musikalischer "Härte" und warum sie wünschenswert sein soll / Fetzen einer Poetik 8

Als 1986 die Platte Reign In Blood von Slayer rauskam, war damit nach vorherrschender Meinung in der einschlägigen Szene ein neuer Standard für die "Härte" von Musik gesetzt. Sie war der vorläufige (manche behaupten ja auch: endgütlige) Höhepunkt einer Entwicklung, die mit dem ersten Aufflackern des Punk Mitte der 70er in New York und der Aufspaltung in Dutzende Sub- und Subsubgenres in den frühen 80ern begonnen hatte. Irgendwie war es plötzlich wichtig, dass Musik "hart" war. Hört man sich allerdings heute frühe Punkmusik an (z.B. von den Dead Boys, Richard Hell and the Voidoids, den Ramones oder den Dead Kennedys), dann wirkt das im Vergleich zu dem, was nicht einmal zehn Jahre später von Slayer gemacht wurde, direkt niedlich.
Abgesehen von den ziemlich wirren Texten (wer's unbedingt wissen will, kann ja mal hier nachlesen, oder es sich auch sparen), die eigentlich nur Pubertierende oder zurückgebliebene entwicklungsverzögerte einfach gestrickte jung gebliebene Erwachsene als in welcher Weise auch immer "sinnvoll" wahrnehmen können (interessant ist übrigens die Parallele zu Schlagertexten mit einer ganz ähnlichen Reihung von Substantiven, die hier aber nicht dem Heile-Welt-Liebe- , sondern dem Tod-Blut-Gewalt-Konnotationsfeld entstammen), abgesehen davon also kann man der Musik eine gewisse Energie nicht absprechen. Ich meine, natürlich ist die Klangfarbenvielfalt bei einem Ensemble aus verzerrten E-Gitarren, Bass und Schlagzeug relativ eng begrenzt, da ist keine überraschende Vielfalt von fein ausgehörten Abstufungen zu erwarten. Überhaupt ist das musikalische Material, sagen wir mal, überschaubar. Es gibt immer eine Art Grundriff, durch das ein Stück mehr oder weniger zusammengehalten wird, ein paar uncharakteristische, chromatisch angerauhte Töne in etwas charakteristischerer Rhythmisierung. Auffällig ist, dass auf die Liedanfänge besonderer Wert gelegt wird. Ich glaube nicht, dass jemand, der das Album weniger als zwanzig, dreißig Mal gehört hat, auf Anhieb ein Stück aufgrund eines Ausschnitts aus der Mitte erkennen würde. Die Liedanfänge dagegen sind ganz auf Wiedererkennung abgestellt, kein Wunder, muss doch der Fan auf dem Konzert schon nach den ersten paar Sekunden wissen, woran er ist und gegebenenfalls jubeln, weil genau dieses Stück jetzt kommt. Daher eben das (jedenfalls in der Szene) berühmte Anfangsriff von Angel of Death, und das spielerisch-atmosphärische Gewittergrummeln von Raining Blood usw. Das alles sind aber im Grunde keine besonders origienellen Zutaten, das kann man so oder ähnlich bei anderen vergleichbaren Liedern vergleichbarer Bands hören.
Was macht diese Musik aber nun so "hart"? Was bedeutet es überhaupt, wenn man von Musik sagt, sie sei "hart"? Geht es nur um Lautstärke und Schnelligkeit?
Bestimmt auch, aber nicht nur. Wäre die Musik bloß laut oder bloß schnell oder auch bloß laut und schnell, hieße das noch lange nicht, dass man sie als "hart" empfinden würde. Auch die Thematik der Texte, die wohl sowieso eher dem Genre geschuldet ist als irgendwelchen künstlerischen Überlegungen, ist für sich genommen kein ausreichendes Anzeichen für Härte, genausowenig wie die Tatsache, dass Tom Araya mehr schreit als singt.
Laut Wikipedia ist der Begriff der Härte im ursprünglichen (= physikalischen) Sinn definiert als das Mass des mechanischen Widerstandes, "den ein Werkstoff der mechanischen Eindringung eines härteren Prüfkörpers entgegensetzt". Anders gesagt: Härte heißt Undurchdringlichkeit. Und die Musik von Slayer ist in diesem Sinne tatsächlich "undurchdringlich". Die Oberfläche dieser Musik, so man denn von Oberfläche bei Musik überhaupt sprechen kann, bietet dem Ohr keine Angriffsfläche, keinen Punkt, an dem man in irgendeine Tiefe eindringen könnte. Das klingt jetzt möglicherweise etwas arg metaphorisch, wobei ich nicht glaube, dass man über Musik abseits eines technisch-analytischen Vokabulars anders als metaphorisch sprechen kann.
Wie auch immer, das Zusammenspiel der oben aufgezählten Eigenschaften dieser Musik erzeugt einen seltsam undifferenzierten Klangstrom, der eben aufgrund dieser Undifferenziertheit undurchdringlich wirkt. Die heruntergestimmten, stark verzerrten Gitarren, die jenseits der obligatorischen (im Übrigen aber angenehm sparsam verstreuten) Gitarrensoli ein Erkennen des Tonhöhenverlaufs nicht nur erschweren, sondern geradezu konterkarieren, erwecken den Eindruck einer Geräuschkulisse, deren Oberfläche nur blockhaft wechselt und die immer nur in Kopplung mit Schlagzeug und Bass ihre rhythmische Gestaltung erhält. Es gibt also keine individuellen Freiheitsgrade der einzelnen Klangfarbspender (in welcher Musik der im weitesten Sinne populären Genres gäbe es die?) Die Riffs wirken dabei wie Einkerbungen in einem Felsen, die dem Ganzen zwar eine Struktur (in diesem Falle eine zeitliche) geben, darüberhinaus aber die Oberfläche nicht durchdringen. Das Spiel der vier Musiker ist bei all dem ziemlich tight, wovon man sich nicht zuletzt anhand der Live-Mitschnitte der Konzerte überzeugen kann, die in ihrer rhythmischen Präzision den Studio-Aufnahmen nicht nachstehen. Überhaupt ist rhythmische Präzision das A und O bei der ganzen Sache. Die ganzen Stops, Breaks und Tempiwechsel würden bei der geringsten Unsauberkeit ihre Wirkung verlieren. Wer schonmal für größere Ensembles oder Orchester komponiert hat, der weiß, wie unendlich schwierig es sein kann, wenn mehr als zwei Leute zum exakt gleichen Zeitpunkt rhythmisch das exakt Gleiche machen sollen. Natürlich haben Slayer den "Vorteil", dass ihr 4/4-Takt durchläuft und sie immer einen durchgehenden Puls haben. Das gibt es selbstverständlich in Neuer Musik so nicht. Allein schon die Andeutung eines durchgehenden Pulses in drei aufeinanderfolgenden Noten gilt ja gemeinhin als verpönt und populistisch. Dennoch ist die rhythmische Genauigkeit der Jungs von Slayer bewundernswert. Eine Musik, die nicht auch rhythmisch präzise ist, kann, jedenfalls nach meinem Dafürhalten, nicht hart sein. Deshalb wirken auch die Beispiele oben aus der Gründerzeit des Punk im Vergleich zu Slayer zwar roh, aber nicht unbedingt sonderlich hart.
Ich fasse zusammen: Härte ist keine Eigenschaft, die man aus einzelnen Zutaten ableiten könnte, sie entsteht im Zusammenwirken von Geräuschhaftigkeit, Schnelligkeit, Lautstärke und präzisem Spiel und ist so etwas wie eine emergente Eigenschaft, eine Eigenschaft, die mehr ist als die Summe ihrer Bestandteile.
Jetzt aber, warum finden so viele Leute, dass die Musik, die sie hören, unbedingt hart sein sollte? Klar, harte Musik hat zunächst mal immer ein hohes Provokationspotential den Eltern oder anderen Erwachsenen gegenüber, die man als Jugendlicher als spießig, langweilig, erdrückend, zum Verzweifeln vernünftig empfindet. Das ist wie mit einer Einstiegsdroge, man erfährt eine Wirkung (nämlich den Widerwillen der Eltern gegenüber solchem "Geschrei", solcher "Nichtmusik"), die Wirkung läßt aber zusehends nach und kann nur durch noch höhere Dosen und schließlich nur mit noch härterem (da ist das Wort schon wieder) Stoff erzielt werden. Hinzu kommt natürlich ein Zusammengehörigkeitsgefühl der jeweiligen Szenen, man ist unter sich, man grenzt sich von anderen Genres ab (und sei es nur als Thrash-Metaller von Death-Metallern, was Aussenstehenden wohl einigermassen absurd vorkommen mag), man trägt die entsprechende Mode, geht zu den entsprechenden Festivals usw. usf. Aber all das würde wohl kaum auf Dauer funktionieren, wenn man als Hörer die Härte der Musik nicht als in irgendeiner Form angenehm empfinden würde. Und das führt mich zurück zu dem, was ich beim Schlager schon festgestellt habe: Die körperliche Wirkung von Musik. Während der Schlager für die gesetzteren Jahrgänge eine Bewegungstriebabfuhr bewirkt, leistet z.B. der Thrash-Metal selbiges für die Jüngeren. Die Texte sind leicht zu merken (irgendwas mit Tod und Verderben wird schon dabei sein), man kann sie also beim Konzert oder im Auto schön mitschreien. Man kann wunderbar headbangen, man kann im Moshpit rumhüpfen und sich auf "spielerische" Art mit anderen körperlich auseinandersetzen. Man kann klatschen, Hände in die Luft recken, stagediven (obwohl das eher in Punkkonzerten und nicht so sehr im Thrash-Metal üblich ist) und was der körperlichen Aktivitäten noch mehr sind. Man kann und muss sich sogar bewegen. Und Bewegung fördert ja bekanntlich das eigene Wohlbefinden. Kein Wunder, dass Jugendliche nicht in sogenannte klassische Konzerte gehen. Eine ödere Veranstaltung kann man ihnen wohl kaum zumuten. Man kann sein Bier nicht in den Saal mitnehmen, es gibt keine überlaufenden Dixie-Klos, man kann keine T-Shirts der Ensembles kaufen, man kann nicht von der Bühne in einen Haufen Menschen hüpfen, die einen auffangen, man darf nicht mitsingen und schon gar nicht darf man nach Beginn des Stückes johlen, weil man es wiedererkannt hat und sich darauf freut. Ich würde als Jugendlicher auch nicht hingehen.
Zuegegeben, das klingt jetzt ziemlich anti-intellektuell und irgendwie nach "Edlem Wilden" und so weiter, aber ich wiederhole mich: Ist es nicht möglich, diese rohe Energie in die aktuelle Kunstmusik aufzunehmen? Und zwar nicht auf die unerträglich herablassende, ausplündernde Weise, auf die es mit den ganzen Musiken "fremder" Kulturen geschehen ist (wenn ich noch einmal was von der Dreiviertelton-Melodik der arabischen Musik hören muss, dann trete ich wirklich noch aus der Neuen Musik aus, endgültig). Sondern vielmehr im Sinne einer radikalen Vereinfachung der musikalischen Strukturen, so dass solche körperlichen Wirkungen überhaupt erst wieder möglich werden. Noch einmal, nicht dass man mich noch mit den Heinis von der Zurück-zur-Tonalität-Bewegung oder den Langwellen-Minimalisten in einen Topf wirft: Vereinfachung heißt nicht Simplifizierung (heißt es natürlich schon, der Wortbedeutung nach, aber eben doch nicht ganz: Vereinfachung heißt für mich: mit dem geringstmöglichen Aufwand die größtmögliche Wirkung zu erzielen; Simplifizierung wäre dagegen: mit dem geringstmöglichen Aufwand die geringstmögliche Wirkung erzielen, also: dass es auch der letzte Depp noch rafft). Es kann nicht darum gehen, einzelne Elemente aus der Popmusik (ja, ihr Metaller, es ist nunmal Popmusik, da könnt ihr euch auf den langhaarigen Kopf stellen) rauszuklauben und irgendwie in ein Neue-Musik-Stück einzubauen (eine verzerrte E-Gitarre oder einen 4/4-Beat im Schlagzeug). Es geht auch nicht darum, irgendwelche formalen Vorgaben zu übernehmen, nach dem Vorbild: Intro-Verse-Chorus-Bridge-Verse-Chorus-Solo oder so.
Es geht um die Transformation von Energie. Und wie man sie bewerkstelligt.
Und genau um diese Transformation akustischer Energien geht es im zweiten Interlude morgen.



2 Kommentare:

  1. @Erich: Sehr anregender Artikel, vielen Dank :-) Die Analogie "Härte / Opazität" gefällt mir sehr gut! Schon vor längerer Zeit habe ich mir zum Thema "Metal-Kultur" auch mal meine Gedanken gemacht (weniger detailliert in der musikalischen Analyse als du, dafür etwas soziokultureller): http://stefanhetzel.wordpress.com/2011/10/13/metal-trost-und-revolte/

    Beste Grüße von

    Stefan, Langwellen-Minimalist (vermutlich)

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    1. @ Stefan: Ich finde deinen Artikel ziemlich treffend. Im Grunde sind die Metaller ja doch ziemlich spießige Leutchen, deren Vorgartenzwerg halt ihre Kutte ist. Aber als jemand, der auch mit dieser Art von Musik (naja, eigentlich eher mit Punk, aber ich hatte auch meine Metal-Erfahrungen...) großgeworden ist, habe ich vielleicht einen, sagen wir mal, wärmeren Blick auf die akustische Seite. Das mag zu einem guten Teil sowas wie Nostalgie sein, allerdings glaube ich schon, dass man vielen (bestimmt nicht allen) Erzeugnissen der Popkultur mit mehr, wenn nicht Wohlwollen, so doch ehrlichem Interesse begegnen sollte, als dies gemeinhin in der Kunstmusikszene getan wird.

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