Montag, 20. Januar 2014

Kommentar 31 - Mensch Heidegger, was hast'n da wieder fabriziert / Filosovi füa Dume 1

Aus aktuellem Anlass beginne ich heute eine neue Reihe, in der ich zentrale Sätze verschiedener Philosophen zum Thema Kunst vorstelle und in Normalsprech zu übersetzen versuche.

Heute: Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes. Reclam, 1960. S. 56 f. (Ziffern in Klammern habe ich zur besseren Übersicht eingefügt)

(1) Der Ursprung des Kunstwerkes und des Künstlers ist die Kunst. (2) Der Ursprung ist die Herkunft des Wesens, worin das Sein eines Seienden west. (3) Was ist die Kunst? (4) Wir suchen ihr Wesen im wirklichen Werk. (5) Die Wirklichkeit des Werkes bestimmte sich aus dem, was im Werk am Werke ist, aus dem Geschehen der Wahrheit. (6) Dieses Geschehnis denken wir als die Bestreitung des Streites zwischen Welt und Erde. (7) In der gesammelten Bewegnis dieses Bestreitens west die Ruhe. (8) Hier gründet das Insichruhen des Werkes. (9) Im Werk ist das Geschehnis der Wahrheit am Werk. (10) Aber was so am Werk ist, ist es doch im Werk. (11) Demnach wird hier schon das wirkliche Werk als der Träger jenes Geschehens vorausgesetzt. (12) Sogleich steht wieder die Frage nach jenem Dinghaften des vorhandenen Werkes vor uns. (13) So wird denn endlich dies eine klar: Wir mögen dem Insichstehen des Werkes noch so eifrig nachfragen, wir verfehlen gleichwohl seine Wirklichkeit, solange wir uns nicht dazu verstehen, das Werk als ein Gewirktes zu nehmen. (14) Es so zu nehmen, liegt am nächsten; denn im Wort Werk hören wir das Gewirkte. (15) Das Werkhafte des Werkes besteht in seinem Geschaffensein durch den Künstler. (16) Es mag verwunderlich erscheinen, daß diese nächstliegende und alles klärende Bestimmung des Werkes erst jetzt genannt wird. [...]

Es ist so einfach, sich über Heideggers Philosophie lustig zu machen, fast zu einfach ... ach nee, das hatten wir schon mal. Also, wir gehen mal davon aus, dass wir beim Lesen dieser Sätze gelacht und uns ausgelacht haben und versuchen jetzt trotzdem mal zu ergründen, was der Martin uns da eigentlich sagen will, wenn er denn was sagen will, wovon ich mal probehalber ausgehe.

(1) Wir fangen mit einer Definition an. Sehr gut. Nicht, dass wir nachher im Luftleeren herumstochern. Wir müssen ja wissen, worüber wir reden. Wir sprechen also vom Ursprung des Kunstwerkes und des Künstlers. Und erfahren überraschenderweise, dass deren Ursprünge in der Kunst liegen. Ich hätte das nicht gedacht. Nicht im Maschinenbau oder in einer Bäckerei, nein, in der Kunst! Donnerlittchen. Gut, dass wir das schonmal wissen.
(2) Zweite Definition. Was ist eigentlich so ein Ursprung? Offensichtlich hat es etwas damit zu tun, wo etwas herkommt. Daher auch Herkunft. Irgendeines Wesens. Dann wird's kompliziert. Im Ursprung "west das Sein eines Seienden". Nun ist das mit dem "Sein" und dem "Seienden" bei Heidegger so eine Sache. Es würde den Rahmen hier sprengen, auch nur ansatzweise zu klären, was er damit eigentlich meint. Ich versuch's mal ganz grob: Heidegger ist ja der Meinung, dass sämtliche Philosophen vor ihm den Unterschied zwischen "Sein" und "Seiendem" nicht gesehen, verstanden oder überhaupt gemacht haben. Er behauptet, es gäbe eine ontologische Differenz zwischen diesen beiden Begriffen. Also eine "Seins"-Differenz. Er erklärt also die Differenz zwischen zwei Begriffen mit den Begriffen selbst, was es natürlich irgendwie schwer macht, einen verläßlichen Grund unter die Begriffsfüße zu kriegen. (Im Übrigen geht er mit sämtlichen Begriffen so um, siehe auch schon Satz (1)). Das heißt also in diesem Fall: Es gibt einen Unterschied zwischen dem, wie sich ein "Seiendes", also irgendein Ding, uns präsentiert und seinem eigentlichen "Sein", also dem, was es eigentlich ist. Hört sich irgendwie stark nach Kant und seinem "Ding an sich" an. Nur unverständlicher formuliert (natürlich wird diese, sagen wir mal, Parallele von Heidegger-Exegeten auf das Schärfste abgelehnt). Wie auch immer, Heidegger sagt nun also, dass im Ursprung (von was auch immer) dieses eigentliche "Sein", also das "Wesen" eines Dings, mit seiner Erscheinung, also dem "Seienden", in Eins fällt. Puuuh. Erstmal 'nen Kaffee.
(3) Ja, was ist eigentlich Kunst. Ich dachte ja, darum geht es die ganze Zeit schon, aber anscheinend habe ich mal wieder nicht richtig gedacht. Also, nun mal los. Was ist die Kunst?
(4) Aha, das habe ich auf Anhieb verstanden. Das mache ich auch immer so. Ich schaue mir konkrete Werke an. Irgendwelche total abgehobenen metaphysischen Erklärungsversuche interessieren mich überhaupt gar nicht. Heidegger offensichtlich auch nicht ...
(5) Ein wunderbarer Satz. Und ein vollendetes Beispiel für meine Feststellung von oben, wonach Heidegger Begriffe grundsätzlich mit sich selbst definiert. Jaja, ich weiß, er glaubt, mit dieser sprachlichen "Bewegung" könne er sich dem Sein des Seienden nähern, aber das wäre ja nur der Fall, wenn tatsächlich mal eine Bewegung da wäre. Aber diese Sätze sind von einer derart trägen Statik, dass man das Gefühl hat, ewig auf der Stelle zu treten, während im Hintergrund seeeehr langsam schlecht gemalte Landschaftskulissen vorbeigetragen werden. Nun gut, wir lernen: das, was im Werk am Werke ist, ist das Geschehen der Wahrheit. Oder, anders gesagt: Ein Kunstwerk läßt die Wahrheit aufscheinen ("zum Leuchten kommen" [S. 62]). Die Wahrheit worüber? Keine Ahnung. Ich blättere das Heftchen durch und lese alle Stellen zur "Wahrheit". Aha, hier [S. 62]: "[...] zu einer Wahrheit und d. h. zu einer wesentlichen Enthüllung des Seienden als solches [...]". Okay, ich hatte mir etwas Konkreteres erhofft, aber sei's drum: Wahrheit = dass wir erkennen, dass wir nicht das Wesen der Dinge sondern nur ihre Erscheinung erkennen können. Zu diesem Behufe allerdings macht sich die Wahrheit im Seienden selbst zum Seienden und erhält dadurch den ihr eigenen "Zug zum Werk" [alles S. 62]. Woher wir (oder vielmehr Heidegger) dann wissen wollen, dass wir das Sein der Wahrheit am Zipfel hätten und nicht sie selbst als Seiendes, bleibt mir, wie so vieles andere, schleierhaft.
(6) Mannmannmann, schon wieder neue Begriffe. Und schon wieder nichts Greifbares. Dass ein Streit bestritten wird ist keine besonders originelle sprachliche Erkenntnis und darüberhinaus von keinerlei Erkenntniswert. Wer aber streitet, das sind "Welt" und "Erde". Diese Begriffe hat der Heidegger doch bestimmt irgendwo genau definiert. Ja klar [S. 45]: "Die Welt ist die sich öffnende Offenheit der weiten Bahnen der einfachen und wesentlichen Entscheidungen im Geschick eines geschichtlichen Volkes. Die Erde ist das zu nichts gedrängte Hervorkommen des ständig Sichverschließenden und dergestalt Bergenden. [...]". Wo nun plötzlich die Sache mit dem "Volk" herkommt, weiß ich nicht, ich dachte, wir reden hier ausschließlich metaphysisch. Setzt man diese "Definitionen" in unseren Satz (6) ein, kommt Folgendes dabei raus: "Dieses Geschehnis denken wir als die Bestreitung des Streites zwischen der sich öffnenden Offenheit der weiten Bahnen der einfachen und wesentlichen Entscheidungen im Geschick eines geschichtlichen Volkes und dem zu nichts gedrängten Hervorkommen des ständig Sichverschließenden und dergestalt Bergenden." Na bitte. Also ich hab's verstanden.Kann aber verstehen, wenn der eine oder andere gerne eine etwas nähere Bestimmung hätte. Also zurück auf S. 40, wo es heißt: "Welt ist nicht die bloße Ansammlung der [...] Dinge. Welt ist aber auch nicht ein nur eingebildeter [...] Rahmen. Welt weltet [Hervorhebung im Original] und ist seiender als das Greifbare und Vernehmbare, worin wir uns heimisch glauben." Wenn's jetzt nicht geschnackelt hat, dann weiß ich auch nicht weiter. Welt weltet. Tisch tischt. Stuhl stuhlt. Tasse tasst. Heidegger heideggert.
(7) Was zur Hölle ist eine "Bewegnis"? Meint er eine "Bewegung"? Eine "Be-Weg-Nis", also die Zurücklegung eines Weges? Was ja nichts anderes als eine "Bewegung" wäre. Oder das Herstellen eines "Weges"? Wie kann sowas "gesammelt" sein? Und warum west darin, also in was auch immer, "die Ruhe". Und warum soll das wichtig sein? Blätter, blätter. S. 45: "Wenn Ruhe die Bewegung einschließt [was Heidegger vorher "bewiesen" hat], so kann es eine Ruhe geben, die eine innige Sammlung der Bewegung, also höchste Bewegtheit ist, gesetzt, daß die Art der Bewegung eine solche Ruhe fordert." Warum schreibt er dann später nicht "Bewegtheit" anstatt "Bewegnis"? Mal davon abgesehen, dass hier auf S. 45 so ziemlich alles durcheinander geht, was durcheinandergehen kann: Ruhe ist "freilich [!!] nur der Grenzfall der Bewegung". Also ist auch Ruhe nur eine Form von Bewegung. Also gibt es keine eigentliche Ruhe. Also operiert Heidegger mit einem uneigentlichen Begriff, also einem "verstellten Seienden". Also ist das alles bloß Wortgeklingel.
(8) Ich hab mich schon die ganze Zeit gefragt, wo das "Insichruhen des Werkes" gründet. Jetzt weiß ich es: in der Ruhe. Freilich.
(9) Wir fassen das bisher Gelernte zusammen: Ein Kunstwerk macht das Seiende als Seiendes sichtbar.
(10) Und lernen weiter, dass wir noch nicht genug gelernt haben. Denn das "Geschehnis der Wahrheit" ist nicht nur "am Werk", sondern auch "im Werk". Neben der etwas blassen und allmählich ermüdenden, weil oft wiederholten sprachspielerischen Verwendung der aktiven und passiven Bedeutungen des Wortes "Werk" wird also das bisher Gesagte nochmal verunklart, damit wir nicht auf die Idee kommen, es sei schon irgendetwas erklärt worden. Und weil die Gedanken von sich aus keinen weiteren Impuls hergeben, wird einfach an der Sprache rumgebastelt, bis eine vermeintliche Lücke, und sei sie noch so winzig, irgendwo öffnend sich öffnet.
(11) Wie, "demnach"? Aus dem ganzen undurchschaubaren Wust von doppel-, dreifach- und vierfachbödigen Pseudodefinitionen soll jetzt also eine Schlussfolgerung gezogen werden? Na gut, dann mal los. Ach nee, keine Schlussfolgerung. Das "demnach" ist hier bloss als grammatikalisches Füllsel eingesetzt und soll keine inhaltliche Folgerung anzeigen. Wir erfahren nur nochmal, dass wir von konkreten Kunstwerken reden, die schon da sein müssen, damit all der Kram, den wir über konkrete Kunstwerke gedacht haben, auch tatsächlich stimmt. Wir reden also nicht metaphysisch, sondern ganz konkret. Daher (inhaltlich / kausales "daher") auch:
(12) Die Frage nach dem "Dinghaften des vorhandenen Werkes". Die "sogleich" wieder "vor uns" steht. Ja natürlich. "Sogleich". Dass im Werk ein "Dinghaftes" ist, sei ja nun unbestreitbar [S. 55: "[...] kommt auch jenes Dinghafte ins Werk. Das ist unbestreitbar."], was aber dieses "Dinghafte" sein soll außer der fast schon beleidigend offensichtlichen Tatsache, dass ein Werk immer auch ein Ding ist (ein Buch, eine Partitur, ein Bild, ein Objekt), das bleibt unklar. Später [S. 70] behauptet Heidegger dann sogar noch, dass das Dinghafte, was wir am Werk wahrnehmen, gar kein Dinghaftes sei, sondern ein "Erdhaftes". Ah ja. Also ein "zu nichts gedrängtes Hervorkommen des ständig Sichverschließenden und dergestalt Bergenden"-haftes. Also war die Rede vom Dinghaften die ganze Zeit über bloß ein "Holzweg". Um uns vorzuführen, wie doof wir sind, weil wir nicht zwischen "Dinghaftem" und "Erdhaftem" unterscheiden. Im täglichen Leben.
(13) Es wird was klar. Endlich. Aber nur "dies eine" (nicht zu viel auf einmal, dabei dachte ich immer, es geht die ganze Zeit um irgendeine Klärung). Aber immerhin. Ich lese also, was nun klar wird. Werden soll. Eigentlich. Quintessenz: Das "Werk" ist ein "Gewirktes". Wenn wir das nicht beachten, dann erkennen wir nicht die Wirklichkeit des Werkes. Also das Sein des Seienden. Um Gottes Willen, das wollen wir natürlich vermeiden. Also merke: Das Werk ist ein Gewirktes. Was bedeutet das? Na ganz einfach, dass
(14) beide Begriffe dieselbe Wurzel haben. Toll. Im ersten Halbsatz entschuldigt sich Heidegger dafür, dass er uns mit so einem leicht verständlichen Kram belästigt. Dann aber kommt der entlarvendste Satz im ganzen Kapitel, ja im ganzen Buch: "[...] denn im Wort Werk hören wir das Gewirkte."
(15) Und wir setzen noch einen drauf auf die fortgesetzten Feststellungen des Offensichtlichen. Ein Kunstwerk heißt deshalb Kunstwerk, weil ein Künstler es gemacht hat (meinetwegen auch: weil es durch das Wirken eines Künstlers entstanden ist). So könnte man es hinschreiben, aber dann würde ja jeder sofort merken, dass das irgendwie total offensichtlich und überhaupt keine besonders tiefsinnige Einsicht ist. Deshalb denkt Heidegger sich flugs einen Begriff aus und nennt das Ganze dann das "Geschaffensein" des Werkes. Das verunklart nicht nur den Sinn dieses Satzes einigermassen, sondern verschafft Heidegger wieder einmal diese Lücke, die ich oben erwähnt habe, in die hinein er wieder eine Pseudobewegung vollführen kann. Weiter unten auf S. 57 heißt es nämlich: "Das Geschaffensein des Werkes läßt sich aber offenbar nur aus dem Vorgang des Schaffens begreifen." Ich denke, das Strickmuster ist klar: Erfinde einen Begriff, der eine bekannte Wortwurzel irgendwie fremdartig aussehen läßt. Erkläre diese Wortschöpfung dann mit einem bekannten Wort derselben Wortwurzel und füge in die Erklärung gleichzeitig noch einen weiteren Neologismus ein, der wiederum auf einer anderen Wortwurzel beruht und diese irgendwie fremdartig aussehen läßt und erkläre im nächsten Satz diesen neuen Neologismus mit einem bekannten Begriff derselben Wortwurzel und füge ... usw. usw. Das kann man natürlich eine Denkbewegung nennen, ich würde es eher als einen Denkbrummkreisel bezeichnen. Denn die Begriffe decken sich gegenseitig, wie die Verdächtigen in einem schlechten Krimi. Und folgerichtig kommen wir nach 80 Seiten genau da an, wo wir angefangen haben [S. 80]: "Die Kunst läßt die Wahrheit entspringen. Die Kunst erspringt als stiftende Bewahrung die Wahrheit des Seienden im Werk. Etwas erspringen, im stiftenden Sprung aus der Wesensherkunft ins Sein bringen, das meint das Wort Ursprung." Während wir die ganze Zeit dachten es geht um den "Ursprung des Kunstwerkes", hat Heidegger sich offensichtlich die ganze Zeit damit beschäftigt, den "Ursprung des Kunstwerkes" zu suchen. Oder so zu tun, als suchte er ihn. Denn irgendwie klingt dieses "Fazit" verdächtig nach dem Anfang [S.7]: "Ursprung bedeutet hier jenes, von woher und wodurch eine Sache ist, was sie ist und wie sie ist." Alles klar! Die restlichen 80 Seiten hätte es ja gar nicht gebraucht.
(16) Immerhin, Heidegger hat ja wohl Humor. Ich jedenfalls habe herzlich gelacht.

Dienstag, 31. Dezember 2013

Kommentar 26 - Für die Helenisierung der Neuen Musik oder Was wir vom Schlager lernen können

Es ist so einfach, sich über Schlager lustig zu machen. Viel zu einfach. Noch viel einfacher, als Herrn Müller von nebenan Neue-Markt-Aktien anzudrehen (für die Jüngeren: der Neue Markt war Anfang des Jahrtausends 'ne super Möglichkeit, Geld loszuwerden, wenn man zu faul war, die Scheine in einem Mülleimer selbst anzuzünden). Auf jeden Fall sind Schlagertexte saudoof, die Musik ist, naja, noch dööfer, die Arrangements klingen immer wie jahrelang fermentierter Fisch aus der Dose, die Sängerinnen sehen immer aus wie Eigenheimbesitzerinnen, die abends 40 Kilometer zur nächsten Disko mit Schaumparty fahren und sich dafür extra neuen Kajal vom Kik geholt haben, und überhaupt sind Leute, die sowas hören, entweder auch saudoof oder noch dööfer. Damit hätte ich also schonmal ganz klar gemacht, dass dieser ganze Schrott total unter meiner Würde ist und dass also meine Würde viel größer ist als die der ganzen Idioten netten Menschen, die einen Haufen Geld für Konzertkarten und CDs von Andrea Berg, Helene Fischer und Andreas Gabalier rauswerfen.
Aber warum, warum nur hören so viele Leute Schlager. Was geben ihnen die ewiggleichen Klischeetexte von Herzschmerz und Sehnsucht, warum kennen sie jede Liedzeile auswendig, warum fängt bei ihnen die Hüfte an zu wackeln, wenn das MIDI-Schlagzeug loslegt? Schlager ist insofern nochmal was anderes als "normaler" Pop (im Übrigen eine Unterscheidung, auf die die Hörer von Popmusik sehr großen Wert legen, die aber weder textlich noch musikalisch ausreichend begründet oder auch begründbar ist), als dass Schlagerhörer unheimlich treue Fans sind. Jahre-, ja jahrzehntelang folgen sie ihrem Star, reisen ihm nach, johlen, klatschen und schunkeln bei jedem Konzert, kaufen jede neue CD, lesen jedes Fitzelchen Homestory in der Echo der Frau, verteidigen ihn mit erbitterter Entschlossenheit gegen gehässige Youtube-Kommentare. Das Pop-Business ist da wesentlich kurzlebiger, schnellwechsliger. Was natürlich auch daran liegt, dass eine wie auch immer geartete Entwicklung des "Künstlers" im Schlager ausgeschlossen ist. Von vorneherein. Sie ist ganz einfach nicht vorgesehen. Ein Lied der Flippers von vor zwanzig Jahren klingt mehr oder weniger genauso wie eines von letztem Jahr. Ein Lied von Andrea Berg wird auch in zwanzig Jahren noch genauso klingen wie heute. Würde es das nicht, wäre es ganz einfach kein Schlager mehr. Die Genregrenzen sind sehr eng gesteckt. Und die Subgenres sind ganz klar aufgeteilt und zugeordnet. Es gibt den Schmachter für die Älteren (Semino Rossi), den "Rockigen" für die etwas Jüngeren (Andreas Gabalier), die "Verruchte" für ich weiß nicht wen (Andrea Berg) und die Alleswunderbarmacherin-und-IchhättesiegernealsmeineSchwiegertochter für einfach Alle (Helene Fischer). Übergänge, Abweichungen, Entwicklungen finden höchstens in sehr genau ausgemessenen, kontrollierten Bereichen statt und sind immer gleich Anlass für eine komplette, begleitende Berichterstattung in der Regenbogenpresse ("Helene Fischer außer Rand und Band - So wild rockte sie den Saal" oder so ähnlich).
Die Mechanismen dieses offensichtlich einträglichen Marktes liegen also ziemlich offen zutage. Das Interessante ist ja, dass das die Leute kein bißchen juckt. Man könnte ihnen eine gerichtsfeste Akte zusammenstellen, sie würden sich ihren Star nicht "wegnehmen" lassen wollen. Es ist also nicht nur vollkommen überflüssig, sondern auch geradezu kontraproduktiv, immerzu am Niveau des Schlagers rumzumäkeln. Es hilft nichts. Die, die es wissen, hören sowieso keinen Schlager - die, die Schlager hören, wollen es nicht wissen, oder wissen es vielleicht, verdrängen es aber.
Aufschluss darüber, wieso das alles dennoch funktioniert, habe ich mir von diesem Artikel erhofft, wurde aber bitter enttäuscht. Die Diskrepanz zwischen Titel und Text ist genausogroß wie bei der Regenbogenpresse. Erklärt wird gar nix, und das Fazit ist anscheinend, dass Helene Fischer allen Schlagersängern den Arsch gerettet hat, weil sie einfach toll ist. Naja.
Tatsache ist doch aber, dass Schlager von der Musik "lebt". Man stelle sich mal vor, die Helene wäre keine Schlagersängerin, sondern würde als Dichterin Lesungen mit ihren Songtexten veranstalten. Ein Stadion bekäme sie mit Zeilen wie: "Ich schließe meine Augen, lösche jedes Tabu, Küsse auf der Haut, so wie ein Liebes-Tattoo, oho, oho." (aus: Atemlos), hinter einem Tisch sitzend, mit einer funzeligen Leselampe und im Bachmannduktus vorgetragen sicher nicht voll. Erst die Musik macht aus der Ansammlung von zum Reimen gezwungenen Worten ein transportables Ganzes, das so viele Menschen erreicht. Die "Melodie" ist so einfach wie nur irgend möglich, bei den obigen Worten besteht sie aus nur zwei Tönen im Terzabstand (dis - h). Beim ersten Halbvers ist das Ganze mit der Tonika H-Dur unterlegt, beim zweiten mit der Tonikaparallele gis-moll. Selbstverständlich läßt die Dominante nicht auf sich warten, beim ersten "oho" kommt sie schon, beim zweiten geht's wieder zurück zur Tonika. Mit Kanonen auf Spatzen geschossen, könnte mir jetzt jemand kommen, aber irgendwo muss man ja anfangen, etwas zu verstehen. Also: Die nackten Worte bekommen ein ziemlich durchsichtiges Kleid aus Tönen. Eine einzelne Liedzeile ist so klar wie geseihte Kloßbrühe strukturiert. Auch das Arrangement macht die Soße nicht klumpig, simple Bassdrum mit "pumpendem" Bass, mehr isses nicht. Isses aber doch. Das Tempo ist 128, also relativ flott, aber nicht zu flott, gerade richtig, dass man bei jedem Schlag die Knie leicht beugen und so den Körper in Schwingung versetzen kann. Zusammen mit den leicht zu merkenden Worten (Augen-Tabu-Küsse-Liebes-Tattoo) und der Zweitonmelodie entsteht ein System, das den Zuhörer in Ganzheit in Schwingung versetzt. Der Körper bewegt sich, die Stimme singt mit, vielleicht klatscht man noch. Und das mit vielleicht tausend oder zehntausend anderen im Gleichklang. Im Grunde also eine rein körperliche Angelegenheit. Und von daher auch vollkommen verständlich, warum der an sich unsägliche Text keine große Rolle spielt. Er dient ja bloß als Aufhänger für die Melodietöne, als Eselsbrücke. Dass er von irgendeiner "Atemlosigkeit" faselt, ist nebensächlich, solange er genügend Hauptworte hat und sich jede zweite Zeile reimt. Überhaupt ist es ein Kennzeichen von Schlagertexten, dass sie hauptsächlich mit Substantiven und Adjektiven arbeiten. Verben spielen gar keine Rolle, die meisten sind "sind", "macht", "ist", oder sie werden gleich ganz weggelassen, so dass eine Zeile oft nur eine Reihung von Adjek- oder Substantiven ist. Ist ja auch klar, der Text selbst soll keine Bewegung transportieren, das würde nur unnötig mit dem Bewegungsimpuls der Musik interferieren.
Der Minimalismus der Strophen ist natürlich auch Strategie, denn erst beim Chorus soll es dann so richtig abgehen. Der Rhythmus wird durch zusätzliche Synthesizer hervorgehoben, harmonisch und melodisch ist der "Satz" jetzt ausgreifender. Die Strophe baut also die Spannung auf, die sich dann beim Chorus entlädt. Wieder körperlich. Haben vorher nur ein bißchen die Knie gewackelt, so gerät nun der ganze Körper ins Wanken, die berühmte Oberkörperhinundherdrehung setzt ein. Jetzt ist das Klatschen auch nicht mehr fakultativ sondern obligatorisch, die aufgestaute Energie muss ja irgendwohin. Nach einiger Zeit ist dieser Energieimpuls verpufft und folgerichtig gibt es einen formalen Abbruch und einen Neuaufbau mit einer zweiten Strophe. Das insgesamt höhere Energielevel als bei der ersten Strophe wird durch einen zusätzlichen Synthie, der harmonisch unterstützend eingreift, aufrecht erhalten. Es folgt das gleiche Spiel von Spannungsaufbau und -entladung. Danach gibt es aber keine dritte Strophe mehr (wahrscheinlich sind die Adjektive alle gegangen), sondern nur einen kurzen sogenannten Break und nochmal den Chorus.
Der ganze Aufbau des Liedes ist bis in die kleinsten Ritzen auf körperliche Reaktion hin berechnet. Nicht direkt auf's Tanzen hin, das wäre dann schon zu viel. Nein, man soll schon am Platz stehenbleiben (nicht umsonst finden viele Konzerte in bestuhlten Hallen statt), da aber soll die Musik möglichst körperlich wirken. Warum? Körperliche Bewegung ist ja eine angenehme Sache. Auf jeden Fall angenehmer als das Rumgekauere auf einem unbequemen Stuhl, wie in der klassischen und also auch der Neuen Musik üblich. Ständig versucht man, möglichst lautlos auf der Sitzfläche rumzurutschen und die Beine auszustrecken oder anzuwinkeln oder übereinanderzuschlagen, und immer gibt es diesen elendigen Hustenreiz, der garantiert an den ganz leisen Stellen im Konzert am allerschlimmsten ist. Von solchen zivilisatorischen Zwängen ist man beim Schlagerkonzert befreit. Niemand muss stillsitzen, keinen stört es, wenn man hustet. Im Gegenteil, man bewegt sich noch ein bißchen und verbrennt die Stückchen vom Kaffeetrinken. Und das auch noch gemeinsam mit so vielen anderen.
Während es also beim Schlager so ist, dass der Körper im Mittelpunkt steht und die, ähem, intellektuelle Erfahrung sich sehr in Grenzen hält, ist es bei der Neuen Musik genau andersrum. Der Körper ist eine total unerwünschte Begleitgabe zum hörenden Geist. Ich kenne kein einziges Stück Neue Musik, wo ich in Versuchung gewesen wäre, mitzuschunkeln. Nichtmal mitsingen kann man, das wäre ja noch ein Mindestmaß an körperlicher Aktivität. Beim klassisch-romantischen Repertoire geht das ja noch in großen Teilen. Beim Gefangenenchor oder der Ode an die Freude stellt sich durchaus so ein seltsam schlagereskes Gefühl ein, mitmachen zu müssen. Selbst bei der Großen Fuge. Bei der man vielleicht nicht grade die Hüfte kreisen lassen will, aber man doch bei den punktierten Rhythmen eine gewisse Körperlichkeit der Musik nicht absprechen kann.
Ich vermisse bei der Neuen Musik diese Einbeziehung des Körpers. Die Mitansprache meines Körpers. Denn der Körper ist ja nicht ein bloß nervendes, ewig krankes Anhängsel an den tollen Geist. Ohne Körper gäbe es gar keinen Geist. Jegliches Bewußtsein, jegliches Subjektgefühl beginnt mit der geistigen Repräsentation des eigenen Körpers (vgl. Thomas Metzinger). Auf ihre Weise ist die Neue Musik genauso einseitig und blind wie der Schlager. Nee, ich will nicht wieder Melodien, die jeder mitsingen kann. Nee, ich will keine Stampfrhythmen in der Kunstmusik etablieren. Es müßte doch aber möglich sein, eine Musik zu machen, die den Geist nicht einschläfert und dennoch auch dem Körper sein Recht läßt. Eine Art angeschlagerte Neue Musik. Dann werden wir auch wieder die Hallen füllen, wir werden Autogrammkarten haben und die Presse wird Homestories mit uns machen: "Sein süßes Geheimnis: So lebt und liebt der Neuemusikkomponist ZX".

Sonntag, 22. Dezember 2013

Kommentar 25 - Halbgare Eierpampe als Mittel der Erkenntnis [Teil 2] / Fetzen einer Poetik 5

Hier der langersehnte zweite Teil der Besprechung von Trond Reinholdtsens "Inferno - Percussion Sonata I, based on the novel by August Strindberg".

Die letzte Materialstudie (7), immerhin an die 20 Minuten lang, geht so: Der Gorilla liest ein Chemiebuch, entdeckt ein neues Material, dann kreischt sein Baby-Gorilla, daraufhin geht der Affenpapa in die Küche und macht dem Baby und sich selbst eine große Pfanne Rührei. Zwischendurch gibt er dem Baby etwas Schnaps zu trinken und nimmt auch selber ein paar Schluck aus der Pulle. Musikalisch begleitet wird die Szene vom Meistersinger-Vorspiel. Neues Material, Baby, Eier: Symbole des neuen Lebens. In Verbindung mit dem Meistersinger-Vorspiel: Neugeburt für die Oper. Das war ja einfach. Und eigentlich könnte man es damit bewenden lassen. Wenn, ja wenn da nur nicht die Sache mit dem halbgaren (oder halbrohen, je nachdem, ob man ein Opti- oder Pessimist ist) Eieromelett wäre.
Diese Eierpampe, die Gorilla-Reinholdtsen sich und seinem Baby auf den Teller schaufelt, entlarvt das ganze Stück als zutiefst pubertäre Show, nicht unähnlich der Selbstinszenierung einiger Rockbands. Natürlich ist das Geschirr in der Spüle nicht abgewaschen, natürlich nimmt der Gorilla nicht abgewaschenes Besteck und Teller, natürlich säuft er Schnaps aus der Flasche, natürlich tunkt er die Ärmel seines Kostüms in die Eiermasse. Das alles soll natürlich eine Form von Unspießigkeit suggerieren ("Wow, ich bin so locker, dass mir das alles egal ist."). Gleichzeitig hält die Kamera aber dermaßen spießig auf alle diese angeblichen Unspießigkeiten drauf, dass sie als das rüberkommen, was sie eigentlich sind: spießige Klischees von Unspießigkeit. So stellt sich wahrscheinlich meine Oma einen Künstler vor. Gibt sogar seinem Kind Schnaps zu trinken. Verrückt, diese Künstler. Besonders evident wird diese Perpetuierung von uralten Klischees, als der Gorilla beim Eieraufschlagen sogar kurz innehält, damit die Kamera das vom Kostüm herabtropfende Eiweiß filmen kann (30'03''). Toll. Sieht aus wie Sperma. Das vom Ärmel tropft. Er hätte ja auch einfach drauf achten können, den Ärmel nicht in die Pampe zu tauchen. Stattdessen legt er es geradezu drauf an. Und zeigt es nachher auch noch stolz her. Das hinterläßt einen ziemlich schalen Nachgeschmack. Weil es die Widersprüchlichkeit des Reinholdtsen'schen Ansatzes offenlegt: Alles soll sehr uninszeniert wirken, wie im Augenblick erdacht, unfertig, roh, sloppy. Diese gewollte Schludrigkeit wird aber dann mit groben, unreflektiert schludrigen Mitteln ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt und dadurch ihres einzigen Reizes beraubt: ihrer Unabsichtlichkeit. Es gibt nichts Peinlicheres als gewollte Unabsichtlichkeit. Wie bei schlechten Clowns, die ganz ordentlich über ihre zu großen Schuhe stolpern.
Noch deutlicher, bis zu dem Punkt hin, an dem ich richtig genervt war, kommt diese Pseudo-Unabsichtlichkeit eben bei der schon angesprochenen Eierpampe heraus. Es gibt überhaupt keinen einleuchtenden Grund, warum der Gorilla die Eier im halbrohen Zustand servieren sollte. Gut, das Meistersinger-Vorspiel dauert etwa zehn Minuten und bis zu dessen Ende sollte das Omelett serviert und gegessen werden. Reinholdtsen hätte ja aber auch weniger Eier nehmen können. Die wären bis dahin gar geworden. Sind sowieso viel zu viele Eier für zwei Personen. Warum dann also so einen Haufen Eier aufschlagen? Zumal er inkonsequenterweise auch nur so tut, als würde er den Brabsch essen. Wenn er das Zeug ja wenigstens in sich reinstopfen würde. Noch nichtmal das. Als-Ob, wo man auch nur hinsieht. Entweder traut Reinholdtsen seinem eigenen Konzept nicht, oder er wollte sich schlicht nicht die gedankliche Arbeit machen, es sorgfältig umzusetzen. Wobei sorgfältig in diesem Zusammenhang nicht als handwerklich sauber zu verstehen ist, sondern als konsequent. Reinholdtsen will ja nicht handwerklich sauber arbeiten, das habe ich schon verstanden, und das mag ich eigentlich an seinem Ansatz. Aber bei ihm verkommt die handwerkliche Unsauberkeit zu einer bloßen Behauptung ohne Folgen, zu reinem Selbstzweck. Damit führt sie dann jedoch auch keinen Schritt weiter als dasjenige, was sie zu überwinden vorgibt: die bloße Behauptung von Handwerklichkeit. Hätte Reinholdtsen doch bloß das Omelett fertig gekocht.

P.S.: Über den weiteren Verlauf des Videos (Baby wird mit Stock gehauen und erzeugt Töne, Gorilla liest die Instrumentationslehre von Berlioz und dann "Inferno" von Strindberg, immer schön ordentlich gefilmt, so dass man auch ja die Titel lesen kann, und weint dann) decke ich den gnädigen Mantel des Schweigens.

Samstag, 21. Dezember 2013

Kommentar 24 - Richtigstellung

Versehentlich wurden in diesem Artikel http://www.spiegel.de/gesundheit/ernaehrung/schneekuenstler-simon-beck-mathematische-formeln-im-schnee-a-939973.html die Worte Kunst und Künstler verwendet. Es muss stattdessen heißen: Ornament und Dekorateur.

NB: Die Einordnung in der Rubrik Gesundheit / Ernährung ist korrekt.

Kommentar 23 - ABC . . . Die Katze liegt im Schnee / John Baldessari vs. Erik Carlson


Von John Baldessari gibt es die wunderbare Photoserie "trying to photograph a ball, so that it is in the center of the picture". Der Titel sagt schon alles. John Baldessari wirft einen roten Ball in die Luft und versucht ihn so zu photographieren, dass er genau in der Mitte des Bildes ist. Das klappt mal mehr, mal weniger gut, und abgesehen von den wechselnden Wolkenformationen im Hintergrund taucht hier und da auch mal ein Baum am Bildrand auf. Eine einfache Grundanordnung also, seriell abgewickelt, ohne Variation. Und doch ist das Ergebnis ziemlich poetisch. Die Handlungsanweisung befreit Baldessari zwar von den üblichen Kompositionsprinzipien ("Halt mal den Kopf leicht zur Seite geneigt und schau von unten zu mir hoch, und dann lächeln!"), stellt aber gleichzeitig neue, nicht weniger rigide Prinzipien auf. Denn es ist von vorneherein klar, dass die Aufgabe an sich unerfüllbar und das Scheitern an ihr zwangsläufig ist (der Ball wird niemals hundertprozentig genau im Bildzentrum sein). Im Grunde also ein hochromantisches Unterfangen: Die Darstellung der Kluft zwischen Ideali- und Realität mit den Mitteln der Ironie.
Schauen wir mal, wie so ein Konzept heute aussieht. Erik Carlson hat beschlossen, dass es eine gute Idee wäre, die Winterreise von Schubert in alphabetischer Reihenfolge aufzuschreiben. Das sieht dann so aus. Jedes Wort wird mitsamt seinen Verton-Tönen in alphabetischer Reihenfolge hingeschrieben. Das war's auch schon. Der ontologische Status dieses "Werks" ist einigermassen unklar. Zur Aufführung wird es nicht kommen, bzw. ist es gar nicht gedacht. Als rein optische Partitur sieht man sich die ersten paar Seiten an und weiß dann Bescheid ("sortiere sämtliche Worte der Winterreise alphabetisch"), wüßte aber eigentlich auch ohne die Partitur Bescheid, weil die Partitur ja bloß abbildet, was gemacht wurde ("sortiere sämtliche Worte der Winterreise alphabetisch"). Als bloße Handlungsanweisung ("sortiere sämtliche Worte der Winterreise alphabetisch") erinnert es irgendwie stark an einen Verwaltungsakt. Als Vorführobjekt für einen Algorithmus ("sortiere sämtliche Worte der Winterreise alphabetisch") ist es ein wenig unspektakulär. Was also soll das Ganze? Wo ist der Mehrwert? Na klar, die Konzeptualisten kommen mir wieder gleich mit ihrem "das soll ja gar keine Kunst sein, und überhaupt muss man sich ein Stück Konzeptkunst gar nicht komplett ansehen / anhören / durchlesen" usw. Na gut, meinetwegen. Wenn es keine Kunst sein soll, ist es eine Wüste merkwürdig angeordneter schwarzer Pixel und von überhaupt keinem weiteren Interesse. Wenn ich es mir nicht komplett ansehen soll, dann brauche ich auch die Partitur gar nicht. Dann aber müßte wenigstens das Konzept ("sortiere sämtliche Worte der Winterreise alphabetisch") irgendwie über sich selbst hinausweisen und nicht einfach mit seiner Beschreibung in Eins fallen. Siehe John Baldessari. Die Handlungsanweisung ist vollkommen klar und prosaisch. Das Werk erschöpft sich aber nicht in dieser Handlungsanweisung, sondern die Handlungsanweisung öffnet erst den Raum der Möglichkeiten, innerhalb dessen dann Kunst geschieht. Man muss nicht alle Photos gesehen haben, man versteht gleich, was das Ganze soll. Trotzdem schadet es nicht, wenn man das eine oder andere Photo zusätzlich betrachtet, weil immer und auf jedem Bild die Differenz zwischen Anweisung und Ausführung neu bestimmt wird. Bei Carlson wird gar nichts bestimmt und schon gar nicht neu. Die einzige Verwendungsmöglichkeit, die ich mir vorstellen könnte, ist die, dass ein Musikwissenschaftler, der noch kein Thema für seine Abschlussarbeit hat, die Anzahl der verwendeten gleichen Worte zählt und nachsieht, ob gleiche Worte jedesmal auch eine gleiche oder ähnliche musikalische Struktur hervorbringen (wobei Carlson ihm die Hauptarbeit der Sortierung ja schon abgenommen hätte (andererseits würde ich einem Musikwissenschaftler, der sich mit einer dermassen öden und sinnlosen Aufgabe beschäftigt, erst gar keinen Abschluss geben)). Im Grunde ist die "Alphabetized Winterreise" also ein einziges Missverständnis, wie so viele andere Konzepte des Neuen oder neuen oder Neo-Konzeptualismus. Wenn die Idee das Werk ist, dann kann sich das Werk keine schlechte Idee leisten. Aus reinem Selbsterhaltungstrieb.

Dienstag, 17. Dezember 2013

Kommentar 20 (5.1.4) - I'm dreaming of a white time and motion study / Was ich neulich mal dachte 5

Neulich mal dachte ich, dass es an der Zeit wäre, dass Neue Musik die Weihnachtscharts erobert. Nachdem es vor einiger Zeit mal den Versuch gab, 4'33'' von John Cage in den Downloadcharts ganz nach oben zu hieven, einem an sich ja harmlosen Stück, weil gar keine Musik erklingt, sollte man das Gleiche mal mit 'nem Stück von z.B. Ferneyhough machen. Allein an Heiligabend mehr als 1 Million mal heruntergeladen: time and motion study III von Brian Ferneyhough. "Bei uns is an Heiligabend die taim end moschn staddi von Fönihau in Schleife gelauf'n. So weihnachtlich hatt'n wir's schon lang nich mehr." Eng aneinandergekuschelt sitzen Vater, Mutter, Kind auf dem Sofa, 'ne flauschige Decke über sich gebreitet, die Studienpartitur vor sich. Und summen versonnen Teile der Melodie mit. Später setzt sich der Vater an's Casio-Keyboard und begleitet partiturspielend Mutter und Kind beim prima-vista-Singen der ersten paar Takte. Draußen regnet es herrlich weihnachtlich und die Welt ist an diesem einen Abend wirklich ein besserer Ort. Merry Compleximas to us all!

Kommentar 19 - Halbgare Eierpampe als Mittel der Erkenntnis [Teil 1] / Fetzen einer Poetik 4

Weil es so ein wahnsinnig langes Stück ist, zu dem es ausserdem einiges zu sagen gibt (ein Zusammenhang, der sich übrigens für viele andere lange Stücke nicht herstellen läßt), stelle ich die Besprechung von Trond Reinholdtsens "Inferno" in zwei Teilen rein.

Wenn ein Stück von Trond Reinholdtsen auf dem Programm steht, dann weiß man, dass es was zu lachen gibt. Endlich mal wieder. Gibt ja sonst nichts zu lachen in der Neuen Musik. Ich weiß gar nicht, wer irgendwann mal beschlossen hat, dass es in der Neuen Musik nicht lustig zugehen dürfe. Wahrscheinlich Schönberg, den ich ja nun, obwohl ich ihn gar nicht persönlich kenne, für nicht besonders humorbegabt halte. Ich finde ja, man hört bei Komponisten ziemlich schnell raus, wer Humor hatte und wer nicht. Schönberg: nein, Berg: ja, Webern: komischerweise ja, Strawinsky: hm, ja, Stockhausen: noch komischererweise auch ja, Boulez: nein, Kagel, der ja gemeinhin als der Humorist unter den Komponisten gilt: geht so, Ligeti: ja (auf jeden Fall mehr als Kagel), sämtliche Spektralisten und IRCAM-Frickler: nein, Ferneyhough: irgendwie schon, Mahnkopf: nein, Rihm: geht so, Dutilleux: ja. Ist natürlich diskutabel, meine Liste. Kommt natürlich auch auf die Humorverfassung des Hörers an.
Naja, wie auch immer, Trond Reinholdtsen auf jeden Fall ist ein lustiger Typ. Und er macht lustige Stücke. In Darmstadt 2010 gab's die "Unsichtbare Musik", da wurde viel gelacht und in Donaueschingen 2012 gab's nur noch "Musik", da wurde noch mehr gelacht. Und es war jedesmal sehr erfrischend, nachdem man sich stunden- und tagelang all diesen staubtrockenen Neue-Musik-Kram angetan angehört hat. Natürlich gab's auch jedesmal irgendwelche Nörgler, die unbedingt reinrufen zu müssen glaubten, dass das doch auch nur Dada sei (ach wirklich, dreihundert Komponisten im Saal, und keiner außer dir schlauem Kerlchen hat's gemerkt). Und natürlich macht es die Lustigkeit auch leicht, die Stücke unter der Rubrik "harmlose Unterhaltung" abzuhaken, selbst wenn sie manchmal provokativ wirken (sollen).
Hinter Reinholdtsens Stücken steckt aber immerhin ein ganzer, naja, vielleicht nicht Theorie-, aber doch Gedankenapparat. Und auch eine Art Lebensperformance, mit seinem Projekt einer "Norwegian Opra", die, wenn ich das Sammelsurium von Informationsfetzen auf seiner Homepage richtig deute, nicht nur eine "Neubelebung" der Gattung, sondern ein tatsächliches Opernhaus werden soll oder schon ist, irgendwie. Er hat also eine Agenda, der Trond Reinholdtsen, einen Suchauftrag, wenn man so will, und den verfolgt er ziemlich konsequent.
Zum Beispiel mit "Inferno - Percussion Sonata I, based on the novel by August Strindberg", einem der aktuellesten Stücke, die in irgendeiner Form mit diesem Projekt zusammenhängen. Über vierzig Minuten lang ist das Stück für einen Perkussionisten, der allerdings, wie ich finde, doch besser ein Schauspieler hätte sein sollen als ein Schlagzeuger. Oder vielleicht auch nicht. Denn das ist die grundsätzliche Frage, die sich mir bei diesem Stück stellt: Ist die Absicht, die Absichtslosigkeit zu inszenieren, selbst absichtsvoll zum Scheitern gebracht worden? Oder einfach nur danebengegangen? Auf den Schlagzeuger übertragen: Ist sein bemüht-hilfloses Schauspielern (ernste Miene, leicht genervte Körpersprache) gewollt oder ging es halt nicht besser, oder ging es nicht besser und das ist gewollt? Aber ich greife vor.
Das Stück fängt mit dem Schlagzeuger (hier: Hakon Stene) an, der auf eine offensichtlich MIDI-fizierte kleine Trommel schlägt. Dieser Schlag löst ein Schlagzeug-Zuspiel aus. Der Schlagzeuger steht eine Weile rum, dann merkt er, dass es für ihn nichts zu tun gibt, er trollt sich auf das Sofa, das hinter ihm steht. Das Zuspiel hört auf, der Schlagzeuger steht auf, geht zur Trommel, haut drauf. Zuspiel beginnt wieder. Rhythmisch variiert. Schlagzeuger setzt sich wieder, Zuspiel hört auf, Schlagzeuger geht wieder hin etc. So weit, so konzeptuell. Die Dynamik zwischen Zuspiel und Schlagzeuger, der das Zuspiel auslösen muss (warum eigentlich muss er das?), wird zugespitzt, indem das Zuspiel manchmal so kurz ist, dass es genau dann aufhört, wenn der Schlagzeuger beim Sofa anlangt, so dass er direkt wieder zur Trommel muss. Nach zwei Minuten haben wir das Konzept verstanden und Reinholdtsen bringt folgerichtig ein drittes Element rein: Der Schlagzeuger geht zu einer identischen Trommel auf der linken Bühnenseite und löst mit seinen Schlägen ein Sprachsample in Norwegisch aus. Laut Untertiteln (und anhand der Partitur) kreischt die Stimme: "I have decided to forsake Art in order to reach the Summits of Knowledge". Na gut, ich halte ja von solchen aphoristischen Pseudoaussagen nicht viel, aber vielleicht ist das Ganze ja auch ironisch gemeint. Allerdings passt die Absichtserklärung der Kunstlosigkeit (in jeder Bedeutung dieses Wortes) zu gut zu Reinholdtsens sonstigen Bekundungen, um die Aussage als Kritik an solchen Aussagen verstehen zu können. Jedenfalls bedeutet so ein Satz erstmal nicht viel. Bisher hat noch jeder, der behauptet hat, er mache jetzt aber definitiv keine Kunst mehr, weiterhin Kunst gemacht. So einfach kommt man aus der Nummer nicht raus.
Als Element innerhalb des Stückes jedenfalls dient diese neue Textur der formalen Dynamik. Nach diesem ersten Einwurf geht es nochmal zwei Minuten lang um das Spiel zwischen MIDI-Schlagzeug und Schlagzeuger. Die Zuspiele sind nun deutlich länger als zuvor, nicht im eigentlichen Sinne "zu" lang, sondern rein formal, so dass sie eine Erwartungshaltung erzeugen. Und so kommt dann auch bei Minute viereinhalb nochmal das Sprachsample. Dann erneut kurz MIDI-Schlagzeug. Dann geht der Schlagzeuger nach rechts zu einer dritten MIDI-Trommel und löst dort ein Videozuspiel aus. Viertes Element. Und Hauptelement, wie sich im Laufe des Stückes herausstellt.
Protagonist der Videozuspiele ist (vermute ich mal stark) Trond Reinholdtsen im Gorillakostüm. Er sitzt oder steht vor selbstgemalten Kulissen, die zwei lavaspeiende Vulkane zeigen. "50 000 years ago" lautet der Titel des ersten Zuspiels, danach kommt "20 000 years later (than last video)" und schließlich "10 000 years later (than last video) - The Beginning of Western Music". Kubrick-Assoziationen werden wach, ich höre vor meinem inneren Ohr das Ligeti-Requiem surren, während die Urmenschen um den schwarzen Monolithen herumhocken. Wie in "2001" entdeckt auch der Reinholdtsen-Urmensch ein Werkzeug (den Knüppel), allerdings nicht als Tötungs- sondern als Musikinstrument. Nett. Ich bin versucht zu sagen: süß. Diese Umkehrung der pathetisch umwehten Zertrümmerung des ersten Menschenschädels mit einem Knüppel bei Kubrick zur Erzeugung des ersten Tones auf dem eigenen Schädel mit einem Knüppel bei Reinholdtsen. Der Klang des Knüppel-Schädel-Instrumentes ist ein zeichentrickhaftes "Boiiiing", was wohl als Unterstreichung des Slapstickhaften der Entdeckungsszene gelten soll, aber irgendwie bloß albern wirkt.
Jetzt muss der Schlagzeuger wieder ran und Schlagzeugsamples auslösen, dann kommt der nächste Video-Block "Materialstudien". Zehn Minuten sind bisher um.
In den "Materialstudien" werden erstmal drei Grundelemente vorgestellt: Sauerstoff, Wasser und Erde. Der Gorilla / Urmensch haut mit dem Stock auf das jeweilige Element und zeigt dann eines dieser Molekülmodelle aus Plastik, die man aus der Schule kennt. Die Reihe der dargestellten Elemente wird allmählich immer absurder, es folgen "plant", "drum" und "extended technique". Das sind so typisch neu-konzeptualistische Gags, die immer irgendwie unterhaltsam, aber nie besonders aufschlußreich sind. Zumal das Ganze auf den ziemlich plumpen Gag mit der zerstörten Trommel bei den "extended techniques" hinausläuft. Höhö.
Zwischendurch war auch mal wieder der Schlagzeuger an der Reihe. Er hat gemacht, was er immer macht, nämlich Schlagzeugsamples auslösen und dann wieder Sprachsamples. Diesmal hat er ziemlich lange auf dem "forsake Art"-Satz herumgedroschen, so als wolle er noch den letzten Rest Bedeutung aus ihm herausprügeln. Dann aber geht er an einen der weißgedeckten Tische im Vordergrund der Bühne, wirft Kohlepulver drauf, verschmiert es, sprüht irgendwas in die Luft und hebt ein Bild vom Planeten Mars hoch. "Alchemy Study 1" sagt der Untertitel im Video. In der Aufnahme nur schlecht zu erkennen, aber in der Partitur nachlesbar, sind diese Aktionen rhythmisch und "dynamisch" sehr exakt ausnotiert. Das ist natürlich noch kein Wert an sich, im Gegenteil, ich habe zuerst mal vermutet, dass es nur eine Art Quatschnotation ist, nur auf's Optische ausgerichtet. Also auch wieder nur ein konzeptueller Witz. Nur habe ich merkwürdigerweise beim Ansehen der Aktion so eine seltsam altmodische Poesie gespürt, eine Art nostalgisch-melancholische Wehmut. Ausgerechnet bei dem Herumgewerfe mit Dreck auf dem schönen weißen Tisch. Irgendwie bezeichnend für den ganzen Kunstwust heutzutage. Woanders wird mit wahnsinnigem Aufwand versucht, den letzten Blutstropfen Expressivität aus längst totgetrockneten Tönen rauszuquetschen, und hier stellt sich einer an einen Tisch und schauspielert mal so richtig hölzern, wie er den Tisch einsaut, und bei mir geht sofort der Poesiealarm los. Zufall ist das aber nicht (oder verkorkster Geschmack von meiner Seite). Zum ersten Mal ist der Schlagzeuger nicht bloß der humanoide Auslöser für technische Apparaturen, sondern selbst echter Akteur. Er gewinnt also durch den Umgang mit den handfesten "Materialien" eine gewisse Freiheit. Das klingt erstmal paradox, weil er ja an eine Partitur mit rhythmisch komplexen Notationen gebunden ist. Allerdings erlöst ihn diese Bindung an eine Handlungsanweisung von der Bindung an eine mechanische / elektronische Auslösevorrichtung. Er ist jetzt Interpret. Er kann den Dreck sanft werfen oder wütend schmeißen, er kann ihn hektisch verschmieren oder bloß unaufmerksam usw. Mit anderen Worten: Die Möglichkeit zur Interpretation kehrt erst sein Inneres hervor. Selbst sein ausbaufähiges Schauspielern ist in diesem Falle kein Manko, sondern geradezu eine Voraussetzung. Die Unkontrollierbarkeit der verkomponierten Materialien spiegelt sich in der Unkontrollierbarkeit seiner eigenen Gesten / Gesichtsausdrücke usw. wider. Rückblickend betrachtet leuchtet dann natürlich ein, dass ein solcher Moment der plötzlichen "Menschwerdung" (ja, drunter mach ich es heute nicht) erstmal einen Hintergrund der "Entmenschlichung" braucht, vor dem er sich dann umso stärker abheben kann. Bei den beiden späteren "Alchemy Studies" bei Minute 21'30'', bei 26' und bei 27'30'' ist dieser Effekt schon etwas schwächer, erstens, weil man ihn schon erwartet und zweitens, weil es dann gleich wieder unnötigerweise absurd wird (ich sage nur Plastikkröte mit aufgeklebtem Ventilator). Es ist immer das Gleiche mit den Konzepten im Konzeptualismus: Sie werden totdekliniert. Richtig schwierig wird es eben in solchen Fällen, wo nach einer Art Überbietungslogik immer größere Unwahrscheinlichkeiten aufeinandergehäuft werden, bis eigentlich jeder Quatsch möglich ist. Die Folge ist nicht nur, dass der Witz raus ist, weil man ja schon alles oder gar nichts mehr erwartet, sondern letztendlich auch, dass das Konzept als solches entwertet wird. Jetzt könnte mir ja jemand mit Meta-Logik kommen und behaupten, Reinholdtsen führt eben, indem er sein eigenes Konzept ad absurdum führt, das Konzept des Konzeptes an sich ad absurdum. Genau das macht er aber nicht. Er führt nicht sein eigenes Konzept mehr oder weniger planvoll ab absurdum, er versucht es ja mit immer neuen Mitteln weiterzuführen. Er versucht also, allen Absichtsbekundungen zum Trotz, Kunst zu machen. Variation, Fortspinnung, Transposition, Spannung - Entspannung, das sind alles Kategorien, auf die er sich weiterhin verläßt, wie die Nachverfolgung des formalen Aufbaus gezeigt hat. Einfach nur irgendwelche Unsinnsaktionen einzubauen bedeutet noch lange nicht, dass man sich aus dem Korsett der Kunstmittel (sowohl was die kompositorische als auch die analytische Seite betrifft) hat befreien können.
Etwa bei Minute 24 beginnt mit der letzten "Materialstudie" das große Finale von "Inferno". Dieses Video, das mit kurzen Unterbrechungen die zweite Hälfte des Stückes ausmacht, bespreche ich demnächst ausführlich. Als Cliffhanger sei nur folgendes erwähnt: Es geht hauptsächlich um ein nicht zuende gegartes Eieromelette. Wow.

Sonntag, 8. Dezember 2013

Kommentar 17 (5.1.3) - Ich dachte, ich hätte gedacht / Was ich neulich mal dachte 4

Neulich mal dachte ich einen Gedanken und dachte dann gleich, dass diesen Gedanken bestimmt schon mal jemand gedacht hat. Ist ja normalerweise kein Problem, weil jeder immerzu solche Gedanken denkt, die schon mal von jemandem gedacht wurden. Kann ja nicht jeder in einem fort brandneue Gedanken denken. War in diesem Fall aber schon ein Problem, weil ich gerne wollte, dass noch niemand diesen Gedanken gedacht hat. Also dachte ich weiter und dachte darüber nach, wie ich herausfinden konnte, ob diesen Gedanken tatsächlich schon mal jemand gedacht hat. Google, dachte ich gleich und googelte meinen Gedanken. Aber entweder hatte ich meinen Gedanken nicht gut formuliert oder der Suchalgorithmus von Google war von meinem Gedanken überfordert, auf jeden Fall fand ich keinen vergleichbaren Gedanken in Google. Dabei war ich mir inzwischen beinahe schon sicher, dass diesen Gedanken schon mal jemand gedacht haben mußte, weil es ein ganz einfacher, naheliegender Gedanke war. Oder vielleicht erschien er nur mir so einfach und naheliegend und war in Wirklichkeit vollkommen absurd und dumm. Ich versuchte, den Gedankengang, der zu diesem Gedanken geführt hatte, zu rekonstruieren. Ich hatte ein Buch gelesen und hatte beim Lesen, oder vielmehr, beim Buchstabenbetrachten, etwas gedacht. An irgendeiner Stelle im Buch hatte meine Aufmerksamkeit sich von den Buchstaben und den Wörtern gelöst und hatte sich selbstständig gemacht, während meine Augen wie Idioten weiter den schwarzen Strichelchen auf dem Papier gefolgt waren. Ich nahm das Buch zur Hand und las die letzten Seiten nochmal. Aber nicht nur kam mir das Gelesene vor, als hätte ich es nie zuvor gelesen, nein, auch meine Aufmerksamkeit klebte jetzt so an den hingeschriebenen Wörtern, dass ich die Worte im Geiste mitbuchstabieren mußte und überflüssigerweise mich selbst auch noch beim Mitbuchstabieren beobachtete, so dass in meinem Geist ein Buchstabensalat sondergleichen herrschte. Nicht alles, dass ich noch mit dem Finger die Buchstaben entlangfahren mußte wie ein Vorschüler. Ich schlug das Buch zu und machte mir einen Kaffee. Auch beim Kaffeemachen beobachtete ich mich auf das Genaueste, so dass mir jetzt jede einzelne Bewegung vorkam wie eine total künstliche, unnatürliche Aktion, was es mir sehr schwer machte, eine Tasse aus dem Schrank zu holen und sie in die Maschine zu stellen. Ich versuchte, meine Aufmerksamkeit vom Kaffeemachen abzulenken und ging geistig wieder zurück zu meinem Problem des schon mal gedachten Gedankens. Mußte aber feststellen, dass der Gedanke an sich plötzlich weg war. Einfach weg. Ein Loch im Kopf. Ich bewegte mich geistig an die Ränder des Loches und versuchte anhand der Fransen den Gedanken zu rekonstruieren. Nichts. Ich erinnerte mich nicht mal mehr daran, zu welchem Thema ich diesen Gedanken gedacht hatte. Allmählich wurde ich wütend. Und mit der Wut stieg meine Überzeugung, dass diesen Gedanken noch überhaupt niemand jemals gedacht hatte. Dass dieser Gedanke ein genialer Gedanke war. Und ich hatte ihn vergessen, weil ich ihm nicht getraut hatte. Gedanken sind ja doch wie Hamster: Wenn man sie nicht ganz behutsam behandelt, werden sie ganz scheu und verkriechen sich in irgendeiner Ecke, aus der man sie nicht mehr herausbekommt. Und wenn man sie zu sehr unter Stress setzt, werden sie krank und sterben. Ich beschloss also, statt den Gedanken zu versuchen einzukreisen und aus seinem Gedächtnisloch herauszutreiben, diesen Text hier zu verfassen und begann also, ihn zu schreiben. Beim Schreiben denke ich, dass bestimmt schon mal jemand einen solchen Text über einen verlorenen Gedanken geschrieben hat. Und denke darüber nach, wie ich herausfinden kann, ob schon mal jemand einen Text über einen verlorenen Gedanken geschrieben hat. Google, denke ich und google ...