Weil es so ein wahnsinnig langes Stück ist, zu dem es ausserdem einiges zu sagen gibt (ein Zusammenhang, der sich übrigens für viele andere lange Stücke nicht herstellen läßt), stelle ich die Besprechung von Trond Reinholdtsens "Inferno" in zwei Teilen rein.
Naja, wie auch immer, Trond Reinholdtsen auf jeden Fall ist ein lustiger Typ. Und er macht lustige Stücke. In Darmstadt 2010 gab's die "Unsichtbare Musik", da wurde viel gelacht und in Donaueschingen 2012 gab's nur noch "Musik", da wurde noch mehr gelacht. Und es war jedesmal sehr erfrischend, nachdem man sich stunden- und tagelang all diesen staubtrockenen Neue-Musik-Kram
Hinter Reinholdtsens Stücken steckt aber immerhin ein ganzer, naja, vielleicht nicht Theorie-, aber doch Gedankenapparat. Und auch eine Art Lebensperformance, mit seinem Projekt einer "Norwegian Opra", die, wenn ich das Sammelsurium von Informationsfetzen auf seiner Homepage richtig deute, nicht nur eine "Neubelebung" der Gattung, sondern ein tatsächliches Opernhaus werden soll oder schon ist, irgendwie. Er hat also eine Agenda, der Trond Reinholdtsen, einen Suchauftrag, wenn man so will, und den verfolgt er ziemlich konsequent.
Zum Beispiel mit "Inferno - Percussion Sonata I, based on the novel by August Strindberg", einem der aktuellesten Stücke, die in irgendeiner Form mit diesem Projekt zusammenhängen. Über vierzig Minuten lang ist das Stück für einen Perkussionisten, der allerdings, wie ich finde, doch besser ein Schauspieler hätte sein sollen als ein Schlagzeuger. Oder vielleicht auch nicht. Denn das ist die grundsätzliche Frage, die sich mir bei diesem Stück stellt: Ist die Absicht, die Absichtslosigkeit zu inszenieren, selbst absichtsvoll zum Scheitern gebracht worden? Oder einfach nur danebengegangen? Auf den Schlagzeuger übertragen: Ist sein bemüht-hilfloses Schauspielern (ernste Miene, leicht genervte Körpersprache) gewollt oder ging es halt nicht besser, oder ging es nicht besser und das ist gewollt? Aber ich greife vor.
Das Stück fängt mit dem Schlagzeuger (hier: Hakon Stene) an, der auf eine offensichtlich MIDI-fizierte kleine Trommel schlägt. Dieser Schlag löst ein Schlagzeug-Zuspiel aus. Der Schlagzeuger steht eine Weile rum, dann merkt er, dass es für ihn nichts zu tun gibt, er trollt sich auf das Sofa, das hinter ihm steht. Das Zuspiel hört auf, der Schlagzeuger steht auf, geht zur Trommel, haut drauf. Zuspiel beginnt wieder. Rhythmisch variiert. Schlagzeuger setzt sich wieder, Zuspiel hört auf, Schlagzeuger geht wieder hin etc. So weit, so konzeptuell. Die Dynamik zwischen Zuspiel und Schlagzeuger, der das Zuspiel auslösen muss (warum eigentlich muss er das?), wird zugespitzt, indem das Zuspiel manchmal so kurz ist, dass es genau dann aufhört, wenn der Schlagzeuger beim Sofa anlangt, so dass er direkt wieder zur Trommel muss. Nach zwei Minuten haben wir das Konzept verstanden und Reinholdtsen bringt folgerichtig ein drittes Element rein: Der Schlagzeuger geht zu einer identischen Trommel auf der linken Bühnenseite und löst mit seinen Schlägen ein Sprachsample in Norwegisch aus. Laut Untertiteln (und anhand der Partitur) kreischt die Stimme: "I have decided to forsake Art in order to reach the Summits of Knowledge". Na gut, ich halte ja von solchen aphoristischen Pseudoaussagen nicht viel, aber vielleicht ist das Ganze ja auch ironisch gemeint. Allerdings passt die Absichtserklärung der Kunstlosigkeit (in jeder Bedeutung dieses Wortes) zu gut zu Reinholdtsens sonstigen Bekundungen, um die Aussage als Kritik an solchen Aussagen verstehen zu können. Jedenfalls bedeutet so ein Satz erstmal nicht viel. Bisher hat noch jeder, der behauptet hat, er mache jetzt aber definitiv keine Kunst mehr, weiterhin Kunst gemacht. So einfach kommt man aus der Nummer nicht raus.
Als Element innerhalb des Stückes jedenfalls dient diese neue Textur der formalen Dynamik. Nach diesem ersten Einwurf geht es nochmal zwei Minuten lang um das Spiel zwischen MIDI-Schlagzeug und Schlagzeuger. Die Zuspiele sind nun deutlich länger als zuvor, nicht im eigentlichen Sinne "zu" lang, sondern rein formal, so dass sie eine Erwartungshaltung erzeugen. Und so kommt dann auch bei Minute viereinhalb nochmal das Sprachsample. Dann erneut kurz MIDI-Schlagzeug. Dann geht der Schlagzeuger nach rechts zu einer dritten MIDI-Trommel und löst dort ein Videozuspiel aus. Viertes Element. Und Hauptelement, wie sich im Laufe des Stückes herausstellt.
Protagonist der Videozuspiele ist (vermute ich mal stark) Trond Reinholdtsen im Gorillakostüm. Er sitzt oder steht vor selbstgemalten Kulissen, die zwei lavaspeiende Vulkane zeigen. "50 000 years ago" lautet der Titel des ersten Zuspiels, danach kommt "20 000 years later (than last video)" und schließlich "10 000 years later (than last video) - The Beginning of Western Music". Kubrick-Assoziationen werden wach, ich höre vor meinem inneren Ohr das Ligeti-Requiem surren, während die Urmenschen um den schwarzen Monolithen herumhocken. Wie in "2001" entdeckt auch der Reinholdtsen-Urmensch ein Werkzeug (den Knüppel), allerdings nicht als Tötungs- sondern als Musikinstrument. Nett. Ich bin versucht zu sagen: süß. Diese Umkehrung der pathetisch umwehten Zertrümmerung des ersten Menschenschädels mit einem Knüppel bei Kubrick zur Erzeugung des ersten Tones auf dem eigenen Schädel mit einem Knüppel bei Reinholdtsen. Der Klang des Knüppel-Schädel-Instrumentes ist ein zeichentrickhaftes "Boiiiing", was wohl als Unterstreichung des Slapstickhaften der Entdeckungsszene gelten soll, aber irgendwie bloß albern wirkt.
Jetzt muss der Schlagzeuger wieder ran und Schlagzeugsamples auslösen, dann kommt der nächste Video-Block "Materialstudien". Zehn Minuten sind bisher um.
In den "Materialstudien" werden erstmal drei Grundelemente vorgestellt: Sauerstoff, Wasser und Erde. Der Gorilla / Urmensch haut mit dem Stock auf das jeweilige Element und zeigt dann eines dieser Molekülmodelle aus Plastik, die man aus der Schule kennt. Die Reihe der dargestellten Elemente wird allmählich immer absurder, es folgen "plant", "drum" und "extended technique". Das sind so typisch neu-konzeptualistische Gags, die immer irgendwie unterhaltsam, aber nie besonders aufschlußreich sind. Zumal das Ganze auf den ziemlich plumpen Gag mit der zerstörten Trommel bei den "extended techniques" hinausläuft. Höhö.
Zwischendurch war auch mal wieder der Schlagzeuger an der Reihe. Er hat gemacht, was er immer macht, nämlich Schlagzeugsamples auslösen und dann wieder Sprachsamples. Diesmal hat er ziemlich lange auf dem "forsake Art"-Satz herumgedroschen, so als wolle er noch den letzten Rest Bedeutung aus ihm herausprügeln. Dann aber geht er an einen der weißgedeckten Tische im Vordergrund der Bühne, wirft Kohlepulver drauf, verschmiert es, sprüht irgendwas in die Luft und hebt ein Bild vom Planeten Mars hoch. "Alchemy Study 1" sagt der Untertitel im Video. In der Aufnahme nur schlecht zu erkennen, aber in der Partitur nachlesbar, sind diese Aktionen rhythmisch und "dynamisch" sehr exakt ausnotiert. Das ist natürlich noch kein Wert an sich, im Gegenteil, ich habe zuerst mal vermutet, dass es nur eine Art Quatschnotation ist, nur auf's Optische ausgerichtet. Also auch wieder nur ein konzeptueller Witz. Nur habe ich merkwürdigerweise beim Ansehen der Aktion so eine seltsam altmodische Poesie gespürt, eine Art nostalgisch-melancholische Wehmut. Ausgerechnet bei dem Herumgewerfe mit Dreck auf dem schönen weißen Tisch. Irgendwie bezeichnend für den ganzen Kunstwust heutzutage. Woanders wird mit wahnsinnigem Aufwand versucht, den letzten Blutstropfen Expressivität aus längst totgetrockneten Tönen rauszuquetschen, und hier stellt sich einer an einen Tisch und schauspielert mal so richtig hölzern, wie er den Tisch einsaut, und bei mir geht sofort der Poesiealarm los. Zufall ist das aber nicht (oder verkorkster Geschmack von meiner Seite). Zum ersten Mal ist der Schlagzeuger nicht bloß der humanoide Auslöser für technische Apparaturen, sondern selbst echter Akteur. Er gewinnt also durch den Umgang mit den handfesten "Materialien" eine gewisse Freiheit. Das klingt erstmal paradox, weil er ja an eine Partitur mit rhythmisch komplexen Notationen gebunden ist. Allerdings erlöst ihn diese Bindung an eine Handlungsanweisung von der Bindung an eine mechanische / elektronische Auslösevorrichtung. Er ist jetzt Interpret. Er kann den Dreck sanft werfen oder wütend schmeißen, er kann ihn hektisch verschmieren oder bloß unaufmerksam usw. Mit anderen Worten: Die Möglichkeit zur Interpretation kehrt erst sein Inneres hervor. Selbst sein ausbaufähiges Schauspielern ist in diesem Falle kein Manko, sondern geradezu eine Voraussetzung. Die Unkontrollierbarkeit der verkomponierten Materialien spiegelt sich in der Unkontrollierbarkeit seiner eigenen Gesten / Gesichtsausdrücke usw. wider. Rückblickend betrachtet leuchtet dann natürlich ein, dass ein solcher Moment der plötzlichen "Menschwerdung" (ja, drunter mach ich es heute nicht) erstmal einen Hintergrund der "Entmenschlichung" braucht, vor dem er sich dann umso stärker abheben kann. Bei den beiden späteren "Alchemy Studies" bei Minute 21'30'', bei 26' und bei 27'30'' ist dieser Effekt schon etwas schwächer, erstens, weil man ihn schon erwartet und zweitens, weil es dann gleich wieder unnötigerweise absurd wird (ich sage nur Plastikkröte mit aufgeklebtem Ventilator). Es ist immer das Gleiche mit den Konzepten im Konzeptualismus: Sie werden totdekliniert. Richtig schwierig wird es eben in solchen Fällen, wo nach einer Art Überbietungslogik immer größere Unwahrscheinlichkeiten aufeinandergehäuft werden, bis eigentlich jeder Quatsch möglich ist. Die Folge ist nicht nur, dass der Witz raus ist, weil man ja schon alles oder gar nichts mehr erwartet, sondern letztendlich auch, dass das Konzept als solches entwertet wird. Jetzt könnte mir ja jemand mit Meta-Logik kommen und behaupten, Reinholdtsen führt eben, indem er sein eigenes Konzept ad absurdum führt, das Konzept des Konzeptes an sich ad absurdum. Genau das macht er aber nicht. Er führt nicht sein eigenes Konzept mehr oder weniger planvoll ab absurdum, er versucht es ja mit immer neuen Mitteln weiterzuführen. Er versucht also, allen Absichtsbekundungen zum Trotz, Kunst zu machen. Variation, Fortspinnung, Transposition, Spannung - Entspannung, das sind alles Kategorien, auf die er sich weiterhin verläßt, wie die Nachverfolgung des formalen Aufbaus gezeigt hat. Einfach nur irgendwelche Unsinnsaktionen einzubauen bedeutet noch lange nicht, dass man sich aus dem Korsett der Kunstmittel (sowohl was die kompositorische als auch die analytische Seite betrifft) hat befreien können.
Etwa bei Minute 24 beginnt mit der letzten "Materialstudie" das große Finale von "Inferno". Dieses Video, das mit kurzen Unterbrechungen die zweite Hälfte des Stückes ausmacht, bespreche ich demnächst ausführlich. Als Cliffhanger sei nur folgendes erwähnt: Es geht hauptsächlich um ein nicht zuende gegartes Eieromelette. Wow.
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