Dienstag, 25. März 2014

Kommentar 35 - Bilanz einer Odyssee zu den Quellen der Weisheit


Es ist an der Zeit, Bilanz zu ziehen. Immerhin ist Ausgewuchtet nun schon beinahe ein halbes Jahr online. Und der Skandal um meinen gelöschten Post hat nochmal eindrücklich die Vergänglichkeit des Mediums Weblog ins Gedächtnis gerufen. Ohnehin macht es den Eindruck, als würde in diesen Tagen überall irgendwie Bilanz gezogen, was vielleicht am Frühlingswetter liegt, möglicherweise aber auch nur daran, dass ich das bloß behaupte.


Die Bundesregierung zieht ihre 100-Tage-Bilanz. Überraschendes Ergebnis: "Deutschland kommt voran".

Allenthalben wird Bilanz zum Verhalten „des Westens“ in der Russland- / bzw. Krimfrage gezogen. Die Palette reicht von „alles richtig gemacht und Putin ist schuld“ bis hin zu „alles falsch gemacht und Putin kann überhaupt gar nix dafür“. Natürlich gibt es auch ausgewogenere Meinungen, aber die sind langweilig.

Bei RationallySpeaking wird ebenfalls Bilanz gezogen, weil Massimo Pigliucci den Blog dichtmacht, um einen neuen Blog aufzumachen, der sich nun Scientia Salon nennt. Abgesehen davon, dass das Design des alten Blogs gruselig ans Web 1.0 erinnert hat, und ich den neuen Titel irgendwie uncool finde, verstehe ich diesen Schritt auch deshalb nicht so ganz, weil es in dem alten Blog immer so schön hoch her ging.

Johannes Kreidler zieht auf seinem Blog Kulturtechno Bilanz zum Neuen Konzeptualismus. Die Aufzählung von Materialbeschaffungsalgorithmen läßt meinen Verdacht wieder aufleben, dass der Neue Konzeptualismus eigentlich nur ein Materialfortschritts-Ismus auf höherer Ebene ist. Jedenfalls bleibt die Frage offen, wie aus dem Wust von Tönen denn nun ein Stück Musik werden soll.

Parallel dazu will Frank Hilberg in den MusikTexten ebenfalls Bilanz zum Neuen Konzeptualismus ziehen. Aber irgendwie meine ich aus seinem Text herauslesen zu dürfen, dass er das nicht besonders objektiv oder gar wohlwollend machen wird.

Im Bad Blog of Musick wird auch Bilanz gezogen, in schönstem "equal goes it loose"-Englisch geht es um die Frage, ob Gergiev aufgrund seiner politischen Einstellungen denn nun Chef der Münchner Philharmoniker werden kann. Dabei sollte es doch eigentlich um die Frage gehen, ob Gergiev überhaupt ein guter Dirigent ist.

Und zu guter Letzt ziehe ich Bilanz: Es war ein aufregendes halbes Jahr hier im „Internet“. Es gab Höhen und Tiefen und auch Mitten. Unvergessen bleiben die vielen Stunden anregenden Youtube-Schauens von Verkehrsunfällen auf russischen Straßen von aktuellen Werken der Neuen Musik, die mich immer wieder inspiriert haben zu der Erkenntnis, dass es so auf gar keinen Fall weitergehen kann.

Dienstag, 18. Februar 2014

Kommentar 34b - Datenhölle (Ein halbes Hähnchen ist auch ein Hähnchen, irgendwie / Philosophie für Masochisten 3)

Wo zur Hölle ist dieser Text hin???
Aus vollkommen unerfindlichen Gründen ist er plötzlich nicht mehr da. Es ist nicht das erste Mal, dass das passiert, bisher aber waren nur während des Bearbeitungsstadiums neuere Versionen plötzlich verschwunden. Jetzt ist ein veröffentlichter Text einfach weg.
Um es kurz zu machen, die Besprechung von Gunnar Hindrichs: Die Autonomie des Klangs ist in den Tiefen der Datencloud verschwunden. Für immer. Möglicherweise aufgrund einer Verschwörung, in die das Philosophische Seminar der Uni Basel, Google und die NSA verwickelt sind. Möglicherweise aber auch einfach nur, weil ich naiv genug war zu glauben, ich müßte keine Sicherheitskopien machen. Wie auch immer.
Wer den Post vor seinem Verschwinden noch nicht gelesen hat, muss mir jetzt einfach glauben, wenn ich schreibe, dass das Buch nicht weiter hilfreich in welcher Beziehung auch immer ist.

Mittwoch, 5. Februar 2014

Kommentar 32 - Das doppelte Lottchen / Vielosohfih füe Dumma 2 / Fetzen einer Poetik 6

Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst. Suhrkamp, 1991.

Der Titel klingt schonmal nicht besonders vielversprechend. Verklärung hört sich stark nach dieser Karikatur an, in der ein Mathelehrer an einer Tafel links und rechts zwei gigantische Terme hingeschrieben hat und als Verbindungsglied dazwischen die Feststellung: "And here a miracle occurs." Liegt aber auch an der Übersetzung, denn im Original heißt das Ganze Transfiguration of the Commonplace. Für meinen Geschmack klingt transfiguration weniger mystisch als Verklärung und ich verstehe nicht ganz, warum man nicht einfach am Begriff Transfiguration festgehalten hat.
Wie auch immer.
Danto beschäftigt sich in seinem Buch hauptsächlich mit einer einzigen Frage, die er immer wieder neu dreht und wendet und ihr so immer neue Antworten abgewinnt, nämlich: Wenn wir zwei äußerlich absolut ununterscheidbare Objekte haben, von denen aber eines ein Kunstwerk und das andere eben nicht ist, wo oder wie oder wodurch ist dieser Unterschied feststellbar. Diese Fragestellung hat viel mit Dantos Biographie zu tun, der selbst seine Begegnung mit Warhols Kunst als "Erweckungserlebnis" beschreibt. Und so ist denn auch viel von der Brillo-Box die Rede usw. Wenig hingegen ist die Rede von Musik und Literatur, was daran liegen mag, dass diese Fragestellung nur sehr schwer oder scheinbar nur schwer auf diese beiden Kunstgattungen übertragbar erscheint. Ist überhaupt ein Fall vorstellbar, derart, dass von zwei absolut identischen Musikstücken eines ein Kunstwerk und das andere keines ist?
Nehmen wir mal an (ich übertrage im Folgenden Dantos Argumentationskette auf ein Musikstück), wir hätten ein Stück Musik, das ohne weiteres als Gebrauchsmusik ohne jeden weiteren künstlerischen Wert durchgeht, also z.B. einen Werbejingle. Um uns nicht mit der Verbindung zwischen Musik und Bild herumschlagen zu müssen, nehmen wir an, es sei ein Radiojingle. Jetzt führen wir diesen Radiojingle (analog dem Ortswechsel der Fontaine von Duchamps) in einem Konzert auf. Und zwar 1:1. Es gibt zwei Möglichkeiten, wie ein Konzertbesucher auf dieses Stück reagieren kann:
1. Es ist für ihn nach wie vor kein Kunstwerk.
2. Es ist für ihn nun ein Kunstwerk, allerdings ist fraglich, ob er tatsächlich dem nackten Radiojingle das Kunstwerk-Sein zuspricht oder einem anderen, nicht-identischen Objekt, das zufällig äußerlich (= auditiv) identisch mit dem Radiojingle ist. Denn der Radiojingle als solcher hat eine klare Funktion, wenn er im Werbeblock gesendet wird, nämlich auf gewisse Eigenschaften des beworbenen Produktes hinzuweisen oder dem beworbenen Produkt ein bestimmtes Flair zu verleihen. Diese Funktionalität ist dabei nicht irgendeine Äußerlichkeit, sie ist die eigentliche Ursache und Grundbestandteil des Seins des Radiojingles. In der Konzertsituation hat der Radiojingle diese Funktion natürlich nicht, denn dann wäre er eben bloss ein Radiojingle, den man im Konzert abgespielt hätte (vielleicht eine bahnbrechende neue Möglichkeit zur Finanzierung von Neue-Musik-Konzerten). Wenn man ihn überhaupt als Kunstwerk wahrnehmen soll, dann muss er seine ursprüngliche Funktion ablegen und eine ganz andere annehmen, vielleicht die, den ganzen Werberummel zu persiflieren oder zu hinterfragen oder, oder, oder. Aber wenn der Radiojingle einen so essentiellen Teil seines Seins verliert, ist er dann nachher im Konzert noch derselbe? Im Fall des musikalischen Kunstwerkes ist diese Frage noch verwickelter als ohnehin schon, denn zusätzlich ist da der ontologische Status der Aufführung vollkommen unklar: Ist sie die Instantiierung einer Idee? Das token eines types? Das Element einer Klasse ähnlicher Elemente? Die Exemplifizierung einer Regelstruktur? Das sind philosophische Hardcore-Fragen, die ich gar nicht beantworten kann, zu denen ich aber demnächst nochmal zurückkehren werde, wenn ich mich mit Richard Wollheim und seinen Objekten der Kunst beschäftige.
Drehen wir doch den Spiess mal rum: Es gibt ja jede Menge Musik aus dem klassisch-romantischen E-Musik-Repertoire, das zur Untermalung von Werbung verwendet wird, man denke nur an die Rigoletto-Arie, die Gymnopedie oder die Jahreszeiten. Stellen wir uns also vor, ich komponierte ein Stück für ein Konzert, das neben der Musik auch einen gesprochenen oder gesungenen Text enthielte, der die Vorzüge eines Autos einer bestimmten Marke anpriese, so dass dieses Stück rein äußerlich in etwa die Form eines Radio-Werbespots hätte. Zugegeben, es wäre wahrscheinlich nicht ein Werk, das die Jahrhunderte überdauern würde, aber sagen wir, es wäre kunstwerkig genug, so dass es allgemein als Kunstwerk akzeptiert würde. Jetzt nehmen wir an, nach der Uraufführung entdeckt der Autohersteller des angepriesenen Autos das Stück und lässt es zukünftig in den Werbeblocks des regionalen Privatradios als ganz normalen Werbespot laufen. Es fährt also ein Konzertbesucher nach dem Konzert, in dem mein subversives Werbespot-Stück lief, nach Hause und hört im Radio dasselbe Stück als tatsächlichen Werbespot. Der Konzertbesucher weiss genau, dass ich dieses Stück als ernsthaftes Konzertstück und nicht als Gebrauchsmusik komponiert habe. Wie wird er sich zu dem Stück jetzt verhalten? Ich vermute (mit Danto), er kann gar nicht anders, als das Stück nach wie vor als Kunstwerk zu betrachten (= anzuhören). Vielleicht wird er denken, dass die Subversivität des Stückes im Werbeblock im Privatradio überhaupt erst so richtig zum Tragen kommt. Dass das Stück im Werbeblock überhaupt erst richtig bei sich ist. In jedem Fall, so vermute ich mal ganz stark, wird er das Stück nicht mehr als Nur-Werbejingle hören können, er wird versuchen, irgendeine Beziehung zwischen dem Stück und seinem Umfeld herzustellen, er wird versuchen dem Stück einen anderen Sinn zu geben als den, ein Auto einer bestimmten Marke anzupreisen. Kurz: Er wird das Stück trotz der Umstände weiterhin unter ästhetischen Gesichtspunkten hören. 
Das heißt also, dass der Übergang vom Nicht-Kunstwerk-Sein zum Kunstwerk-Sein relativ einfacher herbeizuführen ist als der Übergang vom Kunstwerk-Sein zum Nicht-Kunstwerk-Sein. Das wiederum bedeutet, dass das Kunstwerk eine besondere Identität als Kunstwerk hat, die nicht so einfach abzustreifen ist. Wohingegen das blosse Objekt als Nicht-Kunstwerk in diesem Sinne keine Identität hat. Sonst wäre es gegen eine Verschiebung in einen vollkommen anderen Wahrnehmungsmodus (nämlich den ästhetischen) resistenter, als es dies augenscheinlich ist.
Danto spricht von der "ästhetischen Reaktion" oder der "ästhetischen Einstellung", die man einnehme, sobald man von einem Objekt wüßte, dass es sich um ein Kunstwerk handelt. Und die in diesem Augenblick der transfiguration ein ganz neues Set von Eigenschaften des Kunstwerkes enthülle, die das blosse Nur-Objekt (sein materiales Gegenstück) vorher nicht gehabt habe. Das hört sich nun doch irgendwie ziemlich mystisch an: Nur weil ich mit einer veränderten Wahrnehmung auf ein Ding schaue (ein Ding anhöre), hat es plötzlich alle möglichen Eigenschaften, die vorher aber nicht etwa bloß verdeckt waren, sondern schlichtweg nicht vorhanden. Danto sagt aber nicht mehr und nicht weniger, als dass Kunstwerke durch den ästhetischen Blick konstituiert werden.
Der Begriff des Kunstwerks ist in dem Sinne analytisch, daß es für das Kunstwerk eine Interpretation geben muß. Ein Kunstwerk zu sehen, ohne zu wissen, daß es ein Kunstwerk ist, läßt sich in gewisser Weise mit der Erfahrung vergleichen, die man mit dem Buchdruck macht, bevor man zu lesen gelernt hat. Es als Kunstwerk zu sehen ist also wie der Übergang vom Bereich bloßer Dinge zu einem Bereich der Bedeutung. [S.192]
Mit anderen Worten: Sobald ich weiß, dass irgendein Objekt, das ich bisher nur für irgendein Objekt gehalten habe, ein Kunstwerk ist, sehe ich es sofort unter der Maßgabe dieses Kunstwerk-Seins und fange an, Bedeutung zu erschließen. Das heißt also, dass der Unterschied zwischen zwei äußerlich identischen Objekten, von denen eines ein Kunstwerk und das andere keines ist, darin besteht, dass ich das Objekt, das ein Kunstwerk ist, als ein Objekt wahrnehme, das über etwas ist, während das Objekt, das kein Kunstwerk ist, möglicherweise auch etwas darstellt, aber lediglich von etwas ist und nicht auch gleichzeitig über etwas. Hä?
Die These [nämlich darüber, wie wir überhaupt dazu kommen, Kunstwerke als solche wahrzunehmen] ist die, daß Kunstwerke im kategorischen Gegensatz zu bloßen Darstellungen die Mittel der Darstellung in einer Weise gebrauchen, die nicht erschöpfend spezifiziert ist, wenn man das Dargestellte erschöpfend spezifiziert hat. [S.226]
Nehmen wir den Werbejingle, der aus seinem Werbeblock rausgerissen und im Konzert gespielt wird. Rein äußerlich betrachtet (= gehört) ist er derselbe Werbejingle wie ein paar Stunden zuvor im Radio. Und doch eröffnet die ästhetische Sicht, sobald ich weiß, dass er jetzt als Kunstwerk gehört werden muss, plötzlich eine komplett neue Schicht von Bedeutungsmöglichkeiten. Während der Werbejingle als Nur-Werbejingle von seinem Inhalt handelt (also von dem beworbenen Produkt und dessen Eigenschaften), ist der Werbejingle-als-Kunstwerk jetzt plötzlich über seinen Inhalt und auch über die Weise, wie er seinen Inhalt darstellt. Anders gesagt: Der Werbejingle-als-Kunstwerk reflektiert seinen Inhalt (= sein Dargestelltes) in einer Weise, die es dem ästhetischen Betrachter ermöglicht, Interpretationen über die Weise, wie der Werbejingle-als-Kunstwerk über seinen Inhalt reflektiert, anzustellen.
Jede Darstellung, die kein Kunstwerk ist [also z.B. der Werbejingle], kann ein Pendant finden, das eines ist, wobei der Unterschied darin liegt, daß das Kunstwerk die Präsentationsweise benutzt, in der das Nichtkunstwerk seinen Inhalt präsentiert, um etwas im Hinblick darauf zu erreichen, wie [Hervorhebung im Original] jener Inhalt präsentiert wird. [...] Man wird inzwischen bemerken, daß dies vielleicht zu verdeutlichen hilft, in welcher Weise die Kopie eines Kunstwerkes kein eigenständiges Kunstwerk sein kann: die Kopie zeigt lediglich die Weise, wie das Kunstwerk seinen Inhalt präsentiert, ohne dies selbst in einer Weise zu zeigen, die etwas erreichen will: sie zielt auf einen Zustand reiner Transparenz, wie ein idealisierter Darsteller. Die Photographie eines Werkes kann hingegen sehr wohl ein eigenständiges Kunstwerk sein, wenn sie den Inhalt in einer Weise präsentiert, die etwas über den präsentierten Inhalt zeigt. [S. 224 f.]
Ähnlich einer Metapher ("Wenn die Struktur der Kunstwerke die Struktur der Metapher ist oder ihr sehr nahe kommt [...]", S. 264) ist das Kunstwerk seinem Inhalt gegenüber "uneigentlich". Will sagen: So wie die (sprachliche) Metapher ihren "Inhalt", also die Signifikate der einzelnen Wörter, behandelt, indem sie nämlich die Signifikate auf sich selbst zurückverweist und dadurch einen innersprachlichen Raum öffnet, der neue Konnotationen ermöglicht, genauso oder zumindest sehr ähnlich behandelt ein Kunstwerk sein Dargestelltes, indem nämlich die Weise, in der das Dargestellte gezeigt wird, auf sich selbst verweist, und in dieser Selbstbezüglichkeit ein Konnotationsraum sich auftut. Also ein Raum für Bedeutung und damit Interpretation. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Begriff des Enthymems, den Danto hier einführt.
Ein Enthymem ist ein verkürzter Syllogismus, bei dem eine Prämisse oder eine Konklusion fehlt und der einen gültigen Syllogismus ergibt, wenn, außer der Gültigkeit, die fehlende Zeile eine offenkundige Wahrheit ist oder für eine solche gehalten wird, für etwas, das voraussichtlich von jedem ohne eine besondere zusätzliche Anstrengung akzeptiert wird: eine Banalität. [S. 259]
Das tolle an diesem Begriff ist, dass er den geistigen Impuls erklärt, den eine Metapher oder allgemein "uneigentliches" Sprechen oder eben auch ein Kunstwerk beim Leser / Betrachter / Hörer auslöst. Durch das Weglassen eines zwar einfach zu ergänzenden ("banalen"), aber unbedingt notwendigen Zwischengliedes zwinge ich den Leser / Betrachter / Hörer dazu, die Lücke eigenständig zu schließen. Er muss das Mittelglied auffinden, will er am Interpretationsprozess teilhaben. Dazu ist Wissen notwendig, denn ohne ein Wissen darüber, worin denn überhaupt die Beziehung zwischen Anfangs- und Endglied bestehen könnte, also ohne einen Wissensraum, innerhalb dessen das Mittelglied auffindbar sein könnte, ist die Denkbewegung (die diesmal wirklich eine ist) nicht möglich beziehungsweise "wirkungslos" [Danto, S. 261].
Um noch einmal mein hypothetisches Werbespot-Stück zu bemühen: Es ist, selbst als Werbspot im Werbeblock gespielt, nicht von dem Auto, das im Text angepriesen wird, es ist über die Art, wie in Werbespots normalerweise Autos angepriesen werden. Es zeigt die Weise, in der normalerweise Produkte in Werbespots präsentiert werden, in einer Weise, die etwas darüber ausdrückt, wie normalerweise Produkte in Werbespots präsentiert werden. Diese Weise des Zeigens ist in oben erwähntem Sinn uneigentlich, weil sie eben nicht einfach den Inhalt, also das angepriesene Auto, zeigt, sondern vielmehr die Art, in der der Inhalt gezeigt wird. Um diesen enthymemischen Sprung nachvollziehen zu können, brauche ich als Hörer des Werbespot-Stücks ein gewisses Maß an Wissen, z.B. hier darüber, wie normalerweise Produkte in Werbung angepriesen werden.
Nach über 300 Seiten bleibt eigentlich nur eine Frage offen: Woher zum Teufel weiss ich denn nun, wann ich ein Kunstwerk vor mir habe und wann nicht?

Montag, 20. Januar 2014

Kommentar 31 - Mensch Heidegger, was hast'n da wieder fabriziert / Filosovi füa Dume 1

Aus aktuellem Anlass beginne ich heute eine neue Reihe, in der ich zentrale Sätze verschiedener Philosophen zum Thema Kunst vorstelle und in Normalsprech zu übersetzen versuche.

Heute: Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes. Reclam, 1960. S. 56 f. (Ziffern in Klammern habe ich zur besseren Übersicht eingefügt)

(1) Der Ursprung des Kunstwerkes und des Künstlers ist die Kunst. (2) Der Ursprung ist die Herkunft des Wesens, worin das Sein eines Seienden west. (3) Was ist die Kunst? (4) Wir suchen ihr Wesen im wirklichen Werk. (5) Die Wirklichkeit des Werkes bestimmte sich aus dem, was im Werk am Werke ist, aus dem Geschehen der Wahrheit. (6) Dieses Geschehnis denken wir als die Bestreitung des Streites zwischen Welt und Erde. (7) In der gesammelten Bewegnis dieses Bestreitens west die Ruhe. (8) Hier gründet das Insichruhen des Werkes. (9) Im Werk ist das Geschehnis der Wahrheit am Werk. (10) Aber was so am Werk ist, ist es doch im Werk. (11) Demnach wird hier schon das wirkliche Werk als der Träger jenes Geschehens vorausgesetzt. (12) Sogleich steht wieder die Frage nach jenem Dinghaften des vorhandenen Werkes vor uns. (13) So wird denn endlich dies eine klar: Wir mögen dem Insichstehen des Werkes noch so eifrig nachfragen, wir verfehlen gleichwohl seine Wirklichkeit, solange wir uns nicht dazu verstehen, das Werk als ein Gewirktes zu nehmen. (14) Es so zu nehmen, liegt am nächsten; denn im Wort Werk hören wir das Gewirkte. (15) Das Werkhafte des Werkes besteht in seinem Geschaffensein durch den Künstler. (16) Es mag verwunderlich erscheinen, daß diese nächstliegende und alles klärende Bestimmung des Werkes erst jetzt genannt wird. [...]

Es ist so einfach, sich über Heideggers Philosophie lustig zu machen, fast zu einfach ... ach nee, das hatten wir schon mal. Also, wir gehen mal davon aus, dass wir beim Lesen dieser Sätze gelacht und uns ausgelacht haben und versuchen jetzt trotzdem mal zu ergründen, was der Martin uns da eigentlich sagen will, wenn er denn was sagen will, wovon ich mal probehalber ausgehe.

(1) Wir fangen mit einer Definition an. Sehr gut. Nicht, dass wir nachher im Luftleeren herumstochern. Wir müssen ja wissen, worüber wir reden. Wir sprechen also vom Ursprung des Kunstwerkes und des Künstlers. Und erfahren überraschenderweise, dass deren Ursprünge in der Kunst liegen. Ich hätte das nicht gedacht. Nicht im Maschinenbau oder in einer Bäckerei, nein, in der Kunst! Donnerlittchen. Gut, dass wir das schonmal wissen.
(2) Zweite Definition. Was ist eigentlich so ein Ursprung? Offensichtlich hat es etwas damit zu tun, wo etwas herkommt. Daher auch Herkunft. Irgendeines Wesens. Dann wird's kompliziert. Im Ursprung "west das Sein eines Seienden". Nun ist das mit dem "Sein" und dem "Seienden" bei Heidegger so eine Sache. Es würde den Rahmen hier sprengen, auch nur ansatzweise zu klären, was er damit eigentlich meint. Ich versuch's mal ganz grob: Heidegger ist ja der Meinung, dass sämtliche Philosophen vor ihm den Unterschied zwischen "Sein" und "Seiendem" nicht gesehen, verstanden oder überhaupt gemacht haben. Er behauptet, es gäbe eine ontologische Differenz zwischen diesen beiden Begriffen. Also eine "Seins"-Differenz. Er erklärt also die Differenz zwischen zwei Begriffen mit den Begriffen selbst, was es natürlich irgendwie schwer macht, einen verläßlichen Grund unter die Begriffsfüße zu kriegen. (Im Übrigen geht er mit sämtlichen Begriffen so um, siehe auch schon Satz (1)). Das heißt also in diesem Fall: Es gibt einen Unterschied zwischen dem, wie sich ein "Seiendes", also irgendein Ding, uns präsentiert und seinem eigentlichen "Sein", also dem, was es eigentlich ist. Hört sich irgendwie stark nach Kant und seinem "Ding an sich" an. Nur unverständlicher formuliert (natürlich wird diese, sagen wir mal, Parallele von Heidegger-Exegeten auf das Schärfste abgelehnt). Wie auch immer, Heidegger sagt nun also, dass im Ursprung (von was auch immer) dieses eigentliche "Sein", also das "Wesen" eines Dings, mit seiner Erscheinung, also dem "Seienden", in Eins fällt. Puuuh. Erstmal 'nen Kaffee.
(3) Ja, was ist eigentlich Kunst. Ich dachte ja, darum geht es die ganze Zeit schon, aber anscheinend habe ich mal wieder nicht richtig gedacht. Also, nun mal los. Was ist die Kunst?
(4) Aha, das habe ich auf Anhieb verstanden. Das mache ich auch immer so. Ich schaue mir konkrete Werke an. Irgendwelche total abgehobenen metaphysischen Erklärungsversuche interessieren mich überhaupt gar nicht. Heidegger offensichtlich auch nicht ...
(5) Ein wunderbarer Satz. Und ein vollendetes Beispiel für meine Feststellung von oben, wonach Heidegger Begriffe grundsätzlich mit sich selbst definiert. Jaja, ich weiß, er glaubt, mit dieser sprachlichen "Bewegung" könne er sich dem Sein des Seienden nähern, aber das wäre ja nur der Fall, wenn tatsächlich mal eine Bewegung da wäre. Aber diese Sätze sind von einer derart trägen Statik, dass man das Gefühl hat, ewig auf der Stelle zu treten, während im Hintergrund seeeehr langsam schlecht gemalte Landschaftskulissen vorbeigetragen werden. Nun gut, wir lernen: das, was im Werk am Werke ist, ist das Geschehen der Wahrheit. Oder, anders gesagt: Ein Kunstwerk läßt die Wahrheit aufscheinen ("zum Leuchten kommen" [S. 62]). Die Wahrheit worüber? Keine Ahnung. Ich blättere das Heftchen durch und lese alle Stellen zur "Wahrheit". Aha, hier [S. 62]: "[...] zu einer Wahrheit und d. h. zu einer wesentlichen Enthüllung des Seienden als solches [...]". Okay, ich hatte mir etwas Konkreteres erhofft, aber sei's drum: Wahrheit = dass wir erkennen, dass wir nicht das Wesen der Dinge sondern nur ihre Erscheinung erkennen können. Zu diesem Behufe allerdings macht sich die Wahrheit im Seienden selbst zum Seienden und erhält dadurch den ihr eigenen "Zug zum Werk" [alles S. 62]. Woher wir (oder vielmehr Heidegger) dann wissen wollen, dass wir das Sein der Wahrheit am Zipfel hätten und nicht sie selbst als Seiendes, bleibt mir, wie so vieles andere, schleierhaft.
(6) Mannmannmann, schon wieder neue Begriffe. Und schon wieder nichts Greifbares. Dass ein Streit bestritten wird ist keine besonders originelle sprachliche Erkenntnis und darüberhinaus von keinerlei Erkenntniswert. Wer aber streitet, das sind "Welt" und "Erde". Diese Begriffe hat der Heidegger doch bestimmt irgendwo genau definiert. Ja klar [S. 45]: "Die Welt ist die sich öffnende Offenheit der weiten Bahnen der einfachen und wesentlichen Entscheidungen im Geschick eines geschichtlichen Volkes. Die Erde ist das zu nichts gedrängte Hervorkommen des ständig Sichverschließenden und dergestalt Bergenden. [...]". Wo nun plötzlich die Sache mit dem "Volk" herkommt, weiß ich nicht, ich dachte, wir reden hier ausschließlich metaphysisch. Setzt man diese "Definitionen" in unseren Satz (6) ein, kommt Folgendes dabei raus: "Dieses Geschehnis denken wir als die Bestreitung des Streites zwischen der sich öffnenden Offenheit der weiten Bahnen der einfachen und wesentlichen Entscheidungen im Geschick eines geschichtlichen Volkes und dem zu nichts gedrängten Hervorkommen des ständig Sichverschließenden und dergestalt Bergenden." Na bitte. Also ich hab's verstanden.Kann aber verstehen, wenn der eine oder andere gerne eine etwas nähere Bestimmung hätte. Also zurück auf S. 40, wo es heißt: "Welt ist nicht die bloße Ansammlung der [...] Dinge. Welt ist aber auch nicht ein nur eingebildeter [...] Rahmen. Welt weltet [Hervorhebung im Original] und ist seiender als das Greifbare und Vernehmbare, worin wir uns heimisch glauben." Wenn's jetzt nicht geschnackelt hat, dann weiß ich auch nicht weiter. Welt weltet. Tisch tischt. Stuhl stuhlt. Tasse tasst. Heidegger heideggert.
(7) Was zur Hölle ist eine "Bewegnis"? Meint er eine "Bewegung"? Eine "Be-Weg-Nis", also die Zurücklegung eines Weges? Was ja nichts anderes als eine "Bewegung" wäre. Oder das Herstellen eines "Weges"? Wie kann sowas "gesammelt" sein? Und warum west darin, also in was auch immer, "die Ruhe". Und warum soll das wichtig sein? Blätter, blätter. S. 45: "Wenn Ruhe die Bewegung einschließt [was Heidegger vorher "bewiesen" hat], so kann es eine Ruhe geben, die eine innige Sammlung der Bewegung, also höchste Bewegtheit ist, gesetzt, daß die Art der Bewegung eine solche Ruhe fordert." Warum schreibt er dann später nicht "Bewegtheit" anstatt "Bewegnis"? Mal davon abgesehen, dass hier auf S. 45 so ziemlich alles durcheinander geht, was durcheinandergehen kann: Ruhe ist "freilich [!!] nur der Grenzfall der Bewegung". Also ist auch Ruhe nur eine Form von Bewegung. Also gibt es keine eigentliche Ruhe. Also operiert Heidegger mit einem uneigentlichen Begriff, also einem "verstellten Seienden". Also ist das alles bloß Wortgeklingel.
(8) Ich hab mich schon die ganze Zeit gefragt, wo das "Insichruhen des Werkes" gründet. Jetzt weiß ich es: in der Ruhe. Freilich.
(9) Wir fassen das bisher Gelernte zusammen: Ein Kunstwerk macht das Seiende als Seiendes sichtbar.
(10) Und lernen weiter, dass wir noch nicht genug gelernt haben. Denn das "Geschehnis der Wahrheit" ist nicht nur "am Werk", sondern auch "im Werk". Neben der etwas blassen und allmählich ermüdenden, weil oft wiederholten sprachspielerischen Verwendung der aktiven und passiven Bedeutungen des Wortes "Werk" wird also das bisher Gesagte nochmal verunklart, damit wir nicht auf die Idee kommen, es sei schon irgendetwas erklärt worden. Und weil die Gedanken von sich aus keinen weiteren Impuls hergeben, wird einfach an der Sprache rumgebastelt, bis eine vermeintliche Lücke, und sei sie noch so winzig, irgendwo öffnend sich öffnet.
(11) Wie, "demnach"? Aus dem ganzen undurchschaubaren Wust von doppel-, dreifach- und vierfachbödigen Pseudodefinitionen soll jetzt also eine Schlussfolgerung gezogen werden? Na gut, dann mal los. Ach nee, keine Schlussfolgerung. Das "demnach" ist hier bloss als grammatikalisches Füllsel eingesetzt und soll keine inhaltliche Folgerung anzeigen. Wir erfahren nur nochmal, dass wir von konkreten Kunstwerken reden, die schon da sein müssen, damit all der Kram, den wir über konkrete Kunstwerke gedacht haben, auch tatsächlich stimmt. Wir reden also nicht metaphysisch, sondern ganz konkret. Daher (inhaltlich / kausales "daher") auch:
(12) Die Frage nach dem "Dinghaften des vorhandenen Werkes". Die "sogleich" wieder "vor uns" steht. Ja natürlich. "Sogleich". Dass im Werk ein "Dinghaftes" ist, sei ja nun unbestreitbar [S. 55: "[...] kommt auch jenes Dinghafte ins Werk. Das ist unbestreitbar."], was aber dieses "Dinghafte" sein soll außer der fast schon beleidigend offensichtlichen Tatsache, dass ein Werk immer auch ein Ding ist (ein Buch, eine Partitur, ein Bild, ein Objekt), das bleibt unklar. Später [S. 70] behauptet Heidegger dann sogar noch, dass das Dinghafte, was wir am Werk wahrnehmen, gar kein Dinghaftes sei, sondern ein "Erdhaftes". Ah ja. Also ein "zu nichts gedrängtes Hervorkommen des ständig Sichverschließenden und dergestalt Bergenden"-haftes. Also war die Rede vom Dinghaften die ganze Zeit über bloß ein "Holzweg". Um uns vorzuführen, wie doof wir sind, weil wir nicht zwischen "Dinghaftem" und "Erdhaftem" unterscheiden. Im täglichen Leben.
(13) Es wird was klar. Endlich. Aber nur "dies eine" (nicht zu viel auf einmal, dabei dachte ich immer, es geht die ganze Zeit um irgendeine Klärung). Aber immerhin. Ich lese also, was nun klar wird. Werden soll. Eigentlich. Quintessenz: Das "Werk" ist ein "Gewirktes". Wenn wir das nicht beachten, dann erkennen wir nicht die Wirklichkeit des Werkes. Also das Sein des Seienden. Um Gottes Willen, das wollen wir natürlich vermeiden. Also merke: Das Werk ist ein Gewirktes. Was bedeutet das? Na ganz einfach, dass
(14) beide Begriffe dieselbe Wurzel haben. Toll. Im ersten Halbsatz entschuldigt sich Heidegger dafür, dass er uns mit so einem leicht verständlichen Kram belästigt. Dann aber kommt der entlarvendste Satz im ganzen Kapitel, ja im ganzen Buch: "[...] denn im Wort Werk hören wir das Gewirkte."
(15) Und wir setzen noch einen drauf auf die fortgesetzten Feststellungen des Offensichtlichen. Ein Kunstwerk heißt deshalb Kunstwerk, weil ein Künstler es gemacht hat (meinetwegen auch: weil es durch das Wirken eines Künstlers entstanden ist). So könnte man es hinschreiben, aber dann würde ja jeder sofort merken, dass das irgendwie total offensichtlich und überhaupt keine besonders tiefsinnige Einsicht ist. Deshalb denkt Heidegger sich flugs einen Begriff aus und nennt das Ganze dann das "Geschaffensein" des Werkes. Das verunklart nicht nur den Sinn dieses Satzes einigermassen, sondern verschafft Heidegger wieder einmal diese Lücke, die ich oben erwähnt habe, in die hinein er wieder eine Pseudobewegung vollführen kann. Weiter unten auf S. 57 heißt es nämlich: "Das Geschaffensein des Werkes läßt sich aber offenbar nur aus dem Vorgang des Schaffens begreifen." Ich denke, das Strickmuster ist klar: Erfinde einen Begriff, der eine bekannte Wortwurzel irgendwie fremdartig aussehen läßt. Erkläre diese Wortschöpfung dann mit einem bekannten Wort derselben Wortwurzel und füge in die Erklärung gleichzeitig noch einen weiteren Neologismus ein, der wiederum auf einer anderen Wortwurzel beruht und diese irgendwie fremdartig aussehen läßt und erkläre im nächsten Satz diesen neuen Neologismus mit einem bekannten Begriff derselben Wortwurzel und füge ... usw. usw. Das kann man natürlich eine Denkbewegung nennen, ich würde es eher als einen Denkbrummkreisel bezeichnen. Denn die Begriffe decken sich gegenseitig, wie die Verdächtigen in einem schlechten Krimi. Und folgerichtig kommen wir nach 80 Seiten genau da an, wo wir angefangen haben [S. 80]: "Die Kunst läßt die Wahrheit entspringen. Die Kunst erspringt als stiftende Bewahrung die Wahrheit des Seienden im Werk. Etwas erspringen, im stiftenden Sprung aus der Wesensherkunft ins Sein bringen, das meint das Wort Ursprung." Während wir die ganze Zeit dachten es geht um den "Ursprung des Kunstwerkes", hat Heidegger sich offensichtlich die ganze Zeit damit beschäftigt, den "Ursprung des Kunstwerkes" zu suchen. Oder so zu tun, als suchte er ihn. Denn irgendwie klingt dieses "Fazit" verdächtig nach dem Anfang [S.7]: "Ursprung bedeutet hier jenes, von woher und wodurch eine Sache ist, was sie ist und wie sie ist." Alles klar! Die restlichen 80 Seiten hätte es ja gar nicht gebraucht.
(16) Immerhin, Heidegger hat ja wohl Humor. Ich jedenfalls habe herzlich gelacht.

Dienstag, 31. Dezember 2013

Kommentar 26 - Für die Helenisierung der Neuen Musik oder Was wir vom Schlager lernen können

Es ist so einfach, sich über Schlager lustig zu machen. Viel zu einfach. Noch viel einfacher, als Herrn Müller von nebenan Neue-Markt-Aktien anzudrehen (für die Jüngeren: der Neue Markt war Anfang des Jahrtausends 'ne super Möglichkeit, Geld loszuwerden, wenn man zu faul war, die Scheine in einem Mülleimer selbst anzuzünden). Auf jeden Fall sind Schlagertexte saudoof, die Musik ist, naja, noch dööfer, die Arrangements klingen immer wie jahrelang fermentierter Fisch aus der Dose, die Sängerinnen sehen immer aus wie Eigenheimbesitzerinnen, die abends 40 Kilometer zur nächsten Disko mit Schaumparty fahren und sich dafür extra neuen Kajal vom Kik geholt haben, und überhaupt sind Leute, die sowas hören, entweder auch saudoof oder noch dööfer. Damit hätte ich also schonmal ganz klar gemacht, dass dieser ganze Schrott total unter meiner Würde ist und dass also meine Würde viel größer ist als die der ganzen Idioten netten Menschen, die einen Haufen Geld für Konzertkarten und CDs von Andrea Berg, Helene Fischer und Andreas Gabalier rauswerfen.
Aber warum, warum nur hören so viele Leute Schlager. Was geben ihnen die ewiggleichen Klischeetexte von Herzschmerz und Sehnsucht, warum kennen sie jede Liedzeile auswendig, warum fängt bei ihnen die Hüfte an zu wackeln, wenn das MIDI-Schlagzeug loslegt? Schlager ist insofern nochmal was anderes als "normaler" Pop (im Übrigen eine Unterscheidung, auf die die Hörer von Popmusik sehr großen Wert legen, die aber weder textlich noch musikalisch ausreichend begründet oder auch begründbar ist), als dass Schlagerhörer unheimlich treue Fans sind. Jahre-, ja jahrzehntelang folgen sie ihrem Star, reisen ihm nach, johlen, klatschen und schunkeln bei jedem Konzert, kaufen jede neue CD, lesen jedes Fitzelchen Homestory in der Echo der Frau, verteidigen ihn mit erbitterter Entschlossenheit gegen gehässige Youtube-Kommentare. Das Pop-Business ist da wesentlich kurzlebiger, schnellwechsliger. Was natürlich auch daran liegt, dass eine wie auch immer geartete Entwicklung des "Künstlers" im Schlager ausgeschlossen ist. Von vorneherein. Sie ist ganz einfach nicht vorgesehen. Ein Lied der Flippers von vor zwanzig Jahren klingt mehr oder weniger genauso wie eines von letztem Jahr. Ein Lied von Andrea Berg wird auch in zwanzig Jahren noch genauso klingen wie heute. Würde es das nicht, wäre es ganz einfach kein Schlager mehr. Die Genregrenzen sind sehr eng gesteckt. Und die Subgenres sind ganz klar aufgeteilt und zugeordnet. Es gibt den Schmachter für die Älteren (Semino Rossi), den "Rockigen" für die etwas Jüngeren (Andreas Gabalier), die "Verruchte" für ich weiß nicht wen (Andrea Berg) und die Alleswunderbarmacherin-und-IchhättesiegernealsmeineSchwiegertochter für einfach Alle (Helene Fischer). Übergänge, Abweichungen, Entwicklungen finden höchstens in sehr genau ausgemessenen, kontrollierten Bereichen statt und sind immer gleich Anlass für eine komplette, begleitende Berichterstattung in der Regenbogenpresse ("Helene Fischer außer Rand und Band - So wild rockte sie den Saal" oder so ähnlich).
Die Mechanismen dieses offensichtlich einträglichen Marktes liegen also ziemlich offen zutage. Das Interessante ist ja, dass das die Leute kein bißchen juckt. Man könnte ihnen eine gerichtsfeste Akte zusammenstellen, sie würden sich ihren Star nicht "wegnehmen" lassen wollen. Es ist also nicht nur vollkommen überflüssig, sondern auch geradezu kontraproduktiv, immerzu am Niveau des Schlagers rumzumäkeln. Es hilft nichts. Die, die es wissen, hören sowieso keinen Schlager - die, die Schlager hören, wollen es nicht wissen, oder wissen es vielleicht, verdrängen es aber.
Aufschluss darüber, wieso das alles dennoch funktioniert, habe ich mir von diesem Artikel erhofft, wurde aber bitter enttäuscht. Die Diskrepanz zwischen Titel und Text ist genausogroß wie bei der Regenbogenpresse. Erklärt wird gar nix, und das Fazit ist anscheinend, dass Helene Fischer allen Schlagersängern den Arsch gerettet hat, weil sie einfach toll ist. Naja.
Tatsache ist doch aber, dass Schlager von der Musik "lebt". Man stelle sich mal vor, die Helene wäre keine Schlagersängerin, sondern würde als Dichterin Lesungen mit ihren Songtexten veranstalten. Ein Stadion bekäme sie mit Zeilen wie: "Ich schließe meine Augen, lösche jedes Tabu, Küsse auf der Haut, so wie ein Liebes-Tattoo, oho, oho." (aus: Atemlos), hinter einem Tisch sitzend, mit einer funzeligen Leselampe und im Bachmannduktus vorgetragen sicher nicht voll. Erst die Musik macht aus der Ansammlung von zum Reimen gezwungenen Worten ein transportables Ganzes, das so viele Menschen erreicht. Die "Melodie" ist so einfach wie nur irgend möglich, bei den obigen Worten besteht sie aus nur zwei Tönen im Terzabstand (dis - h). Beim ersten Halbvers ist das Ganze mit der Tonika H-Dur unterlegt, beim zweiten mit der Tonikaparallele gis-moll. Selbstverständlich läßt die Dominante nicht auf sich warten, beim ersten "oho" kommt sie schon, beim zweiten geht's wieder zurück zur Tonika. Mit Kanonen auf Spatzen geschossen, könnte mir jetzt jemand kommen, aber irgendwo muss man ja anfangen, etwas zu verstehen. Also: Die nackten Worte bekommen ein ziemlich durchsichtiges Kleid aus Tönen. Eine einzelne Liedzeile ist so klar wie geseihte Kloßbrühe strukturiert. Auch das Arrangement macht die Soße nicht klumpig, simple Bassdrum mit "pumpendem" Bass, mehr isses nicht. Isses aber doch. Das Tempo ist 128, also relativ flott, aber nicht zu flott, gerade richtig, dass man bei jedem Schlag die Knie leicht beugen und so den Körper in Schwingung versetzen kann. Zusammen mit den leicht zu merkenden Worten (Augen-Tabu-Küsse-Liebes-Tattoo) und der Zweitonmelodie entsteht ein System, das den Zuhörer in Ganzheit in Schwingung versetzt. Der Körper bewegt sich, die Stimme singt mit, vielleicht klatscht man noch. Und das mit vielleicht tausend oder zehntausend anderen im Gleichklang. Im Grunde also eine rein körperliche Angelegenheit. Und von daher auch vollkommen verständlich, warum der an sich unsägliche Text keine große Rolle spielt. Er dient ja bloß als Aufhänger für die Melodietöne, als Eselsbrücke. Dass er von irgendeiner "Atemlosigkeit" faselt, ist nebensächlich, solange er genügend Hauptworte hat und sich jede zweite Zeile reimt. Überhaupt ist es ein Kennzeichen von Schlagertexten, dass sie hauptsächlich mit Substantiven und Adjektiven arbeiten. Verben spielen gar keine Rolle, die meisten sind "sind", "macht", "ist", oder sie werden gleich ganz weggelassen, so dass eine Zeile oft nur eine Reihung von Adjek- oder Substantiven ist. Ist ja auch klar, der Text selbst soll keine Bewegung transportieren, das würde nur unnötig mit dem Bewegungsimpuls der Musik interferieren.
Der Minimalismus der Strophen ist natürlich auch Strategie, denn erst beim Chorus soll es dann so richtig abgehen. Der Rhythmus wird durch zusätzliche Synthesizer hervorgehoben, harmonisch und melodisch ist der "Satz" jetzt ausgreifender. Die Strophe baut also die Spannung auf, die sich dann beim Chorus entlädt. Wieder körperlich. Haben vorher nur ein bißchen die Knie gewackelt, so gerät nun der ganze Körper ins Wanken, die berühmte Oberkörperhinundherdrehung setzt ein. Jetzt ist das Klatschen auch nicht mehr fakultativ sondern obligatorisch, die aufgestaute Energie muss ja irgendwohin. Nach einiger Zeit ist dieser Energieimpuls verpufft und folgerichtig gibt es einen formalen Abbruch und einen Neuaufbau mit einer zweiten Strophe. Das insgesamt höhere Energielevel als bei der ersten Strophe wird durch einen zusätzlichen Synthie, der harmonisch unterstützend eingreift, aufrecht erhalten. Es folgt das gleiche Spiel von Spannungsaufbau und -entladung. Danach gibt es aber keine dritte Strophe mehr (wahrscheinlich sind die Adjektive alle gegangen), sondern nur einen kurzen sogenannten Break und nochmal den Chorus.
Der ganze Aufbau des Liedes ist bis in die kleinsten Ritzen auf körperliche Reaktion hin berechnet. Nicht direkt auf's Tanzen hin, das wäre dann schon zu viel. Nein, man soll schon am Platz stehenbleiben (nicht umsonst finden viele Konzerte in bestuhlten Hallen statt), da aber soll die Musik möglichst körperlich wirken. Warum? Körperliche Bewegung ist ja eine angenehme Sache. Auf jeden Fall angenehmer als das Rumgekauere auf einem unbequemen Stuhl, wie in der klassischen und also auch der Neuen Musik üblich. Ständig versucht man, möglichst lautlos auf der Sitzfläche rumzurutschen und die Beine auszustrecken oder anzuwinkeln oder übereinanderzuschlagen, und immer gibt es diesen elendigen Hustenreiz, der garantiert an den ganz leisen Stellen im Konzert am allerschlimmsten ist. Von solchen zivilisatorischen Zwängen ist man beim Schlagerkonzert befreit. Niemand muss stillsitzen, keinen stört es, wenn man hustet. Im Gegenteil, man bewegt sich noch ein bißchen und verbrennt die Stückchen vom Kaffeetrinken. Und das auch noch gemeinsam mit so vielen anderen.
Während es also beim Schlager so ist, dass der Körper im Mittelpunkt steht und die, ähem, intellektuelle Erfahrung sich sehr in Grenzen hält, ist es bei der Neuen Musik genau andersrum. Der Körper ist eine total unerwünschte Begleitgabe zum hörenden Geist. Ich kenne kein einziges Stück Neue Musik, wo ich in Versuchung gewesen wäre, mitzuschunkeln. Nichtmal mitsingen kann man, das wäre ja noch ein Mindestmaß an körperlicher Aktivität. Beim klassisch-romantischen Repertoire geht das ja noch in großen Teilen. Beim Gefangenenchor oder der Ode an die Freude stellt sich durchaus so ein seltsam schlagereskes Gefühl ein, mitmachen zu müssen. Selbst bei der Großen Fuge. Bei der man vielleicht nicht grade die Hüfte kreisen lassen will, aber man doch bei den punktierten Rhythmen eine gewisse Körperlichkeit der Musik nicht absprechen kann.
Ich vermisse bei der Neuen Musik diese Einbeziehung des Körpers. Die Mitansprache meines Körpers. Denn der Körper ist ja nicht ein bloß nervendes, ewig krankes Anhängsel an den tollen Geist. Ohne Körper gäbe es gar keinen Geist. Jegliches Bewußtsein, jegliches Subjektgefühl beginnt mit der geistigen Repräsentation des eigenen Körpers (vgl. Thomas Metzinger). Auf ihre Weise ist die Neue Musik genauso einseitig und blind wie der Schlager. Nee, ich will nicht wieder Melodien, die jeder mitsingen kann. Nee, ich will keine Stampfrhythmen in der Kunstmusik etablieren. Es müßte doch aber möglich sein, eine Musik zu machen, die den Geist nicht einschläfert und dennoch auch dem Körper sein Recht läßt. Eine Art angeschlagerte Neue Musik. Dann werden wir auch wieder die Hallen füllen, wir werden Autogrammkarten haben und die Presse wird Homestories mit uns machen: "Sein süßes Geheimnis: So lebt und liebt der Neuemusikkomponist ZX".

Sonntag, 22. Dezember 2013

Kommentar 25 - Halbgare Eierpampe als Mittel der Erkenntnis [Teil 2] / Fetzen einer Poetik 5

Hier der langersehnte zweite Teil der Besprechung von Trond Reinholdtsens "Inferno - Percussion Sonata I, based on the novel by August Strindberg".

Die letzte Materialstudie (7), immerhin an die 20 Minuten lang, geht so: Der Gorilla liest ein Chemiebuch, entdeckt ein neues Material, dann kreischt sein Baby-Gorilla, daraufhin geht der Affenpapa in die Küche und macht dem Baby und sich selbst eine große Pfanne Rührei. Zwischendurch gibt er dem Baby etwas Schnaps zu trinken und nimmt auch selber ein paar Schluck aus der Pulle. Musikalisch begleitet wird die Szene vom Meistersinger-Vorspiel. Neues Material, Baby, Eier: Symbole des neuen Lebens. In Verbindung mit dem Meistersinger-Vorspiel: Neugeburt für die Oper. Das war ja einfach. Und eigentlich könnte man es damit bewenden lassen. Wenn, ja wenn da nur nicht die Sache mit dem halbgaren (oder halbrohen, je nachdem, ob man ein Opti- oder Pessimist ist) Eieromelett wäre.
Diese Eierpampe, die Gorilla-Reinholdtsen sich und seinem Baby auf den Teller schaufelt, entlarvt das ganze Stück als zutiefst pubertäre Show, nicht unähnlich der Selbstinszenierung einiger Rockbands. Natürlich ist das Geschirr in der Spüle nicht abgewaschen, natürlich nimmt der Gorilla nicht abgewaschenes Besteck und Teller, natürlich säuft er Schnaps aus der Flasche, natürlich tunkt er die Ärmel seines Kostüms in die Eiermasse. Das alles soll natürlich eine Form von Unspießigkeit suggerieren ("Wow, ich bin so locker, dass mir das alles egal ist."). Gleichzeitig hält die Kamera aber dermaßen spießig auf alle diese angeblichen Unspießigkeiten drauf, dass sie als das rüberkommen, was sie eigentlich sind: spießige Klischees von Unspießigkeit. So stellt sich wahrscheinlich meine Oma einen Künstler vor. Gibt sogar seinem Kind Schnaps zu trinken. Verrückt, diese Künstler. Besonders evident wird diese Perpetuierung von uralten Klischees, als der Gorilla beim Eieraufschlagen sogar kurz innehält, damit die Kamera das vom Kostüm herabtropfende Eiweiß filmen kann (30'03''). Toll. Sieht aus wie Sperma. Das vom Ärmel tropft. Er hätte ja auch einfach drauf achten können, den Ärmel nicht in die Pampe zu tauchen. Stattdessen legt er es geradezu drauf an. Und zeigt es nachher auch noch stolz her. Das hinterläßt einen ziemlich schalen Nachgeschmack. Weil es die Widersprüchlichkeit des Reinholdtsen'schen Ansatzes offenlegt: Alles soll sehr uninszeniert wirken, wie im Augenblick erdacht, unfertig, roh, sloppy. Diese gewollte Schludrigkeit wird aber dann mit groben, unreflektiert schludrigen Mitteln ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt und dadurch ihres einzigen Reizes beraubt: ihrer Unabsichtlichkeit. Es gibt nichts Peinlicheres als gewollte Unabsichtlichkeit. Wie bei schlechten Clowns, die ganz ordentlich über ihre zu großen Schuhe stolpern.
Noch deutlicher, bis zu dem Punkt hin, an dem ich richtig genervt war, kommt diese Pseudo-Unabsichtlichkeit eben bei der schon angesprochenen Eierpampe heraus. Es gibt überhaupt keinen einleuchtenden Grund, warum der Gorilla die Eier im halbrohen Zustand servieren sollte. Gut, das Meistersinger-Vorspiel dauert etwa zehn Minuten und bis zu dessen Ende sollte das Omelett serviert und gegessen werden. Reinholdtsen hätte ja aber auch weniger Eier nehmen können. Die wären bis dahin gar geworden. Sind sowieso viel zu viele Eier für zwei Personen. Warum dann also so einen Haufen Eier aufschlagen? Zumal er inkonsequenterweise auch nur so tut, als würde er den Brabsch essen. Wenn er das Zeug ja wenigstens in sich reinstopfen würde. Noch nichtmal das. Als-Ob, wo man auch nur hinsieht. Entweder traut Reinholdtsen seinem eigenen Konzept nicht, oder er wollte sich schlicht nicht die gedankliche Arbeit machen, es sorgfältig umzusetzen. Wobei sorgfältig in diesem Zusammenhang nicht als handwerklich sauber zu verstehen ist, sondern als konsequent. Reinholdtsen will ja nicht handwerklich sauber arbeiten, das habe ich schon verstanden, und das mag ich eigentlich an seinem Ansatz. Aber bei ihm verkommt die handwerkliche Unsauberkeit zu einer bloßen Behauptung ohne Folgen, zu reinem Selbstzweck. Damit führt sie dann jedoch auch keinen Schritt weiter als dasjenige, was sie zu überwinden vorgibt: die bloße Behauptung von Handwerklichkeit. Hätte Reinholdtsen doch bloß das Omelett fertig gekocht.

P.S.: Über den weiteren Verlauf des Videos (Baby wird mit Stock gehauen und erzeugt Töne, Gorilla liest die Instrumentationslehre von Berlioz und dann "Inferno" von Strindberg, immer schön ordentlich gefilmt, so dass man auch ja die Titel lesen kann, und weint dann) decke ich den gnädigen Mantel des Schweigens.

Samstag, 21. Dezember 2013

Kommentar 24 - Richtigstellung

Versehentlich wurden in diesem Artikel http://www.spiegel.de/gesundheit/ernaehrung/schneekuenstler-simon-beck-mathematische-formeln-im-schnee-a-939973.html die Worte Kunst und Künstler verwendet. Es muss stattdessen heißen: Ornament und Dekorateur.

NB: Die Einordnung in der Rubrik Gesundheit / Ernährung ist korrekt.

Kommentar 23 - ABC . . . Die Katze liegt im Schnee / John Baldessari vs. Erik Carlson


Von John Baldessari gibt es die wunderbare Photoserie "trying to photograph a ball, so that it is in the center of the picture". Der Titel sagt schon alles. John Baldessari wirft einen roten Ball in die Luft und versucht ihn so zu photographieren, dass er genau in der Mitte des Bildes ist. Das klappt mal mehr, mal weniger gut, und abgesehen von den wechselnden Wolkenformationen im Hintergrund taucht hier und da auch mal ein Baum am Bildrand auf. Eine einfache Grundanordnung also, seriell abgewickelt, ohne Variation. Und doch ist das Ergebnis ziemlich poetisch. Die Handlungsanweisung befreit Baldessari zwar von den üblichen Kompositionsprinzipien ("Halt mal den Kopf leicht zur Seite geneigt und schau von unten zu mir hoch, und dann lächeln!"), stellt aber gleichzeitig neue, nicht weniger rigide Prinzipien auf. Denn es ist von vorneherein klar, dass die Aufgabe an sich unerfüllbar und das Scheitern an ihr zwangsläufig ist (der Ball wird niemals hundertprozentig genau im Bildzentrum sein). Im Grunde also ein hochromantisches Unterfangen: Die Darstellung der Kluft zwischen Ideali- und Realität mit den Mitteln der Ironie.
Schauen wir mal, wie so ein Konzept heute aussieht. Erik Carlson hat beschlossen, dass es eine gute Idee wäre, die Winterreise von Schubert in alphabetischer Reihenfolge aufzuschreiben. Das sieht dann so aus. Jedes Wort wird mitsamt seinen Verton-Tönen in alphabetischer Reihenfolge hingeschrieben. Das war's auch schon. Der ontologische Status dieses "Werks" ist einigermassen unklar. Zur Aufführung wird es nicht kommen, bzw. ist es gar nicht gedacht. Als rein optische Partitur sieht man sich die ersten paar Seiten an und weiß dann Bescheid ("sortiere sämtliche Worte der Winterreise alphabetisch"), wüßte aber eigentlich auch ohne die Partitur Bescheid, weil die Partitur ja bloß abbildet, was gemacht wurde ("sortiere sämtliche Worte der Winterreise alphabetisch"). Als bloße Handlungsanweisung ("sortiere sämtliche Worte der Winterreise alphabetisch") erinnert es irgendwie stark an einen Verwaltungsakt. Als Vorführobjekt für einen Algorithmus ("sortiere sämtliche Worte der Winterreise alphabetisch") ist es ein wenig unspektakulär. Was also soll das Ganze? Wo ist der Mehrwert? Na klar, die Konzeptualisten kommen mir wieder gleich mit ihrem "das soll ja gar keine Kunst sein, und überhaupt muss man sich ein Stück Konzeptkunst gar nicht komplett ansehen / anhören / durchlesen" usw. Na gut, meinetwegen. Wenn es keine Kunst sein soll, ist es eine Wüste merkwürdig angeordneter schwarzer Pixel und von überhaupt keinem weiteren Interesse. Wenn ich es mir nicht komplett ansehen soll, dann brauche ich auch die Partitur gar nicht. Dann aber müßte wenigstens das Konzept ("sortiere sämtliche Worte der Winterreise alphabetisch") irgendwie über sich selbst hinausweisen und nicht einfach mit seiner Beschreibung in Eins fallen. Siehe John Baldessari. Die Handlungsanweisung ist vollkommen klar und prosaisch. Das Werk erschöpft sich aber nicht in dieser Handlungsanweisung, sondern die Handlungsanweisung öffnet erst den Raum der Möglichkeiten, innerhalb dessen dann Kunst geschieht. Man muss nicht alle Photos gesehen haben, man versteht gleich, was das Ganze soll. Trotzdem schadet es nicht, wenn man das eine oder andere Photo zusätzlich betrachtet, weil immer und auf jedem Bild die Differenz zwischen Anweisung und Ausführung neu bestimmt wird. Bei Carlson wird gar nichts bestimmt und schon gar nicht neu. Die einzige Verwendungsmöglichkeit, die ich mir vorstellen könnte, ist die, dass ein Musikwissenschaftler, der noch kein Thema für seine Abschlussarbeit hat, die Anzahl der verwendeten gleichen Worte zählt und nachsieht, ob gleiche Worte jedesmal auch eine gleiche oder ähnliche musikalische Struktur hervorbringen (wobei Carlson ihm die Hauptarbeit der Sortierung ja schon abgenommen hätte (andererseits würde ich einem Musikwissenschaftler, der sich mit einer dermassen öden und sinnlosen Aufgabe beschäftigt, erst gar keinen Abschluss geben)). Im Grunde ist die "Alphabetized Winterreise" also ein einziges Missverständnis, wie so viele andere Konzepte des Neuen oder neuen oder Neo-Konzeptualismus. Wenn die Idee das Werk ist, dann kann sich das Werk keine schlechte Idee leisten. Aus reinem Selbsterhaltungstrieb.