Dienstag, 18. Februar 2014

Kommentar 34b - Datenhölle (Ein halbes Hähnchen ist auch ein Hähnchen, irgendwie / Philosophie für Masochisten 3)

Wo zur Hölle ist dieser Text hin???
Aus vollkommen unerfindlichen Gründen ist er plötzlich nicht mehr da. Es ist nicht das erste Mal, dass das passiert, bisher aber waren nur während des Bearbeitungsstadiums neuere Versionen plötzlich verschwunden. Jetzt ist ein veröffentlichter Text einfach weg.
Um es kurz zu machen, die Besprechung von Gunnar Hindrichs: Die Autonomie des Klangs ist in den Tiefen der Datencloud verschwunden. Für immer. Möglicherweise aufgrund einer Verschwörung, in die das Philosophische Seminar der Uni Basel, Google und die NSA verwickelt sind. Möglicherweise aber auch einfach nur, weil ich naiv genug war zu glauben, ich müßte keine Sicherheitskopien machen. Wie auch immer.
Wer den Post vor seinem Verschwinden noch nicht gelesen hat, muss mir jetzt einfach glauben, wenn ich schreibe, dass das Buch nicht weiter hilfreich in welcher Beziehung auch immer ist.

Mittwoch, 5. Februar 2014

Kommentar 32 - Das doppelte Lottchen / Vielosohfih füe Dumma 2 / Fetzen einer Poetik 6

Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst. Suhrkamp, 1991.

Der Titel klingt schonmal nicht besonders vielversprechend. Verklärung hört sich stark nach dieser Karikatur an, in der ein Mathelehrer an einer Tafel links und rechts zwei gigantische Terme hingeschrieben hat und als Verbindungsglied dazwischen die Feststellung: "And here a miracle occurs." Liegt aber auch an der Übersetzung, denn im Original heißt das Ganze Transfiguration of the Commonplace. Für meinen Geschmack klingt transfiguration weniger mystisch als Verklärung und ich verstehe nicht ganz, warum man nicht einfach am Begriff Transfiguration festgehalten hat.
Wie auch immer.
Danto beschäftigt sich in seinem Buch hauptsächlich mit einer einzigen Frage, die er immer wieder neu dreht und wendet und ihr so immer neue Antworten abgewinnt, nämlich: Wenn wir zwei äußerlich absolut ununterscheidbare Objekte haben, von denen aber eines ein Kunstwerk und das andere eben nicht ist, wo oder wie oder wodurch ist dieser Unterschied feststellbar. Diese Fragestellung hat viel mit Dantos Biographie zu tun, der selbst seine Begegnung mit Warhols Kunst als "Erweckungserlebnis" beschreibt. Und so ist denn auch viel von der Brillo-Box die Rede usw. Wenig hingegen ist die Rede von Musik und Literatur, was daran liegen mag, dass diese Fragestellung nur sehr schwer oder scheinbar nur schwer auf diese beiden Kunstgattungen übertragbar erscheint. Ist überhaupt ein Fall vorstellbar, derart, dass von zwei absolut identischen Musikstücken eines ein Kunstwerk und das andere keines ist?
Nehmen wir mal an (ich übertrage im Folgenden Dantos Argumentationskette auf ein Musikstück), wir hätten ein Stück Musik, das ohne weiteres als Gebrauchsmusik ohne jeden weiteren künstlerischen Wert durchgeht, also z.B. einen Werbejingle. Um uns nicht mit der Verbindung zwischen Musik und Bild herumschlagen zu müssen, nehmen wir an, es sei ein Radiojingle. Jetzt führen wir diesen Radiojingle (analog dem Ortswechsel der Fontaine von Duchamps) in einem Konzert auf. Und zwar 1:1. Es gibt zwei Möglichkeiten, wie ein Konzertbesucher auf dieses Stück reagieren kann:
1. Es ist für ihn nach wie vor kein Kunstwerk.
2. Es ist für ihn nun ein Kunstwerk, allerdings ist fraglich, ob er tatsächlich dem nackten Radiojingle das Kunstwerk-Sein zuspricht oder einem anderen, nicht-identischen Objekt, das zufällig äußerlich (= auditiv) identisch mit dem Radiojingle ist. Denn der Radiojingle als solcher hat eine klare Funktion, wenn er im Werbeblock gesendet wird, nämlich auf gewisse Eigenschaften des beworbenen Produktes hinzuweisen oder dem beworbenen Produkt ein bestimmtes Flair zu verleihen. Diese Funktionalität ist dabei nicht irgendeine Äußerlichkeit, sie ist die eigentliche Ursache und Grundbestandteil des Seins des Radiojingles. In der Konzertsituation hat der Radiojingle diese Funktion natürlich nicht, denn dann wäre er eben bloss ein Radiojingle, den man im Konzert abgespielt hätte (vielleicht eine bahnbrechende neue Möglichkeit zur Finanzierung von Neue-Musik-Konzerten). Wenn man ihn überhaupt als Kunstwerk wahrnehmen soll, dann muss er seine ursprüngliche Funktion ablegen und eine ganz andere annehmen, vielleicht die, den ganzen Werberummel zu persiflieren oder zu hinterfragen oder, oder, oder. Aber wenn der Radiojingle einen so essentiellen Teil seines Seins verliert, ist er dann nachher im Konzert noch derselbe? Im Fall des musikalischen Kunstwerkes ist diese Frage noch verwickelter als ohnehin schon, denn zusätzlich ist da der ontologische Status der Aufführung vollkommen unklar: Ist sie die Instantiierung einer Idee? Das token eines types? Das Element einer Klasse ähnlicher Elemente? Die Exemplifizierung einer Regelstruktur? Das sind philosophische Hardcore-Fragen, die ich gar nicht beantworten kann, zu denen ich aber demnächst nochmal zurückkehren werde, wenn ich mich mit Richard Wollheim und seinen Objekten der Kunst beschäftige.
Drehen wir doch den Spiess mal rum: Es gibt ja jede Menge Musik aus dem klassisch-romantischen E-Musik-Repertoire, das zur Untermalung von Werbung verwendet wird, man denke nur an die Rigoletto-Arie, die Gymnopedie oder die Jahreszeiten. Stellen wir uns also vor, ich komponierte ein Stück für ein Konzert, das neben der Musik auch einen gesprochenen oder gesungenen Text enthielte, der die Vorzüge eines Autos einer bestimmten Marke anpriese, so dass dieses Stück rein äußerlich in etwa die Form eines Radio-Werbespots hätte. Zugegeben, es wäre wahrscheinlich nicht ein Werk, das die Jahrhunderte überdauern würde, aber sagen wir, es wäre kunstwerkig genug, so dass es allgemein als Kunstwerk akzeptiert würde. Jetzt nehmen wir an, nach der Uraufführung entdeckt der Autohersteller des angepriesenen Autos das Stück und lässt es zukünftig in den Werbeblocks des regionalen Privatradios als ganz normalen Werbespot laufen. Es fährt also ein Konzertbesucher nach dem Konzert, in dem mein subversives Werbespot-Stück lief, nach Hause und hört im Radio dasselbe Stück als tatsächlichen Werbespot. Der Konzertbesucher weiss genau, dass ich dieses Stück als ernsthaftes Konzertstück und nicht als Gebrauchsmusik komponiert habe. Wie wird er sich zu dem Stück jetzt verhalten? Ich vermute (mit Danto), er kann gar nicht anders, als das Stück nach wie vor als Kunstwerk zu betrachten (= anzuhören). Vielleicht wird er denken, dass die Subversivität des Stückes im Werbeblock im Privatradio überhaupt erst so richtig zum Tragen kommt. Dass das Stück im Werbeblock überhaupt erst richtig bei sich ist. In jedem Fall, so vermute ich mal ganz stark, wird er das Stück nicht mehr als Nur-Werbejingle hören können, er wird versuchen, irgendeine Beziehung zwischen dem Stück und seinem Umfeld herzustellen, er wird versuchen dem Stück einen anderen Sinn zu geben als den, ein Auto einer bestimmten Marke anzupreisen. Kurz: Er wird das Stück trotz der Umstände weiterhin unter ästhetischen Gesichtspunkten hören. 
Das heißt also, dass der Übergang vom Nicht-Kunstwerk-Sein zum Kunstwerk-Sein relativ einfacher herbeizuführen ist als der Übergang vom Kunstwerk-Sein zum Nicht-Kunstwerk-Sein. Das wiederum bedeutet, dass das Kunstwerk eine besondere Identität als Kunstwerk hat, die nicht so einfach abzustreifen ist. Wohingegen das blosse Objekt als Nicht-Kunstwerk in diesem Sinne keine Identität hat. Sonst wäre es gegen eine Verschiebung in einen vollkommen anderen Wahrnehmungsmodus (nämlich den ästhetischen) resistenter, als es dies augenscheinlich ist.
Danto spricht von der "ästhetischen Reaktion" oder der "ästhetischen Einstellung", die man einnehme, sobald man von einem Objekt wüßte, dass es sich um ein Kunstwerk handelt. Und die in diesem Augenblick der transfiguration ein ganz neues Set von Eigenschaften des Kunstwerkes enthülle, die das blosse Nur-Objekt (sein materiales Gegenstück) vorher nicht gehabt habe. Das hört sich nun doch irgendwie ziemlich mystisch an: Nur weil ich mit einer veränderten Wahrnehmung auf ein Ding schaue (ein Ding anhöre), hat es plötzlich alle möglichen Eigenschaften, die vorher aber nicht etwa bloß verdeckt waren, sondern schlichtweg nicht vorhanden. Danto sagt aber nicht mehr und nicht weniger, als dass Kunstwerke durch den ästhetischen Blick konstituiert werden.
Der Begriff des Kunstwerks ist in dem Sinne analytisch, daß es für das Kunstwerk eine Interpretation geben muß. Ein Kunstwerk zu sehen, ohne zu wissen, daß es ein Kunstwerk ist, läßt sich in gewisser Weise mit der Erfahrung vergleichen, die man mit dem Buchdruck macht, bevor man zu lesen gelernt hat. Es als Kunstwerk zu sehen ist also wie der Übergang vom Bereich bloßer Dinge zu einem Bereich der Bedeutung. [S.192]
Mit anderen Worten: Sobald ich weiß, dass irgendein Objekt, das ich bisher nur für irgendein Objekt gehalten habe, ein Kunstwerk ist, sehe ich es sofort unter der Maßgabe dieses Kunstwerk-Seins und fange an, Bedeutung zu erschließen. Das heißt also, dass der Unterschied zwischen zwei äußerlich identischen Objekten, von denen eines ein Kunstwerk und das andere keines ist, darin besteht, dass ich das Objekt, das ein Kunstwerk ist, als ein Objekt wahrnehme, das über etwas ist, während das Objekt, das kein Kunstwerk ist, möglicherweise auch etwas darstellt, aber lediglich von etwas ist und nicht auch gleichzeitig über etwas. Hä?
Die These [nämlich darüber, wie wir überhaupt dazu kommen, Kunstwerke als solche wahrzunehmen] ist die, daß Kunstwerke im kategorischen Gegensatz zu bloßen Darstellungen die Mittel der Darstellung in einer Weise gebrauchen, die nicht erschöpfend spezifiziert ist, wenn man das Dargestellte erschöpfend spezifiziert hat. [S.226]
Nehmen wir den Werbejingle, der aus seinem Werbeblock rausgerissen und im Konzert gespielt wird. Rein äußerlich betrachtet (= gehört) ist er derselbe Werbejingle wie ein paar Stunden zuvor im Radio. Und doch eröffnet die ästhetische Sicht, sobald ich weiß, dass er jetzt als Kunstwerk gehört werden muss, plötzlich eine komplett neue Schicht von Bedeutungsmöglichkeiten. Während der Werbejingle als Nur-Werbejingle von seinem Inhalt handelt (also von dem beworbenen Produkt und dessen Eigenschaften), ist der Werbejingle-als-Kunstwerk jetzt plötzlich über seinen Inhalt und auch über die Weise, wie er seinen Inhalt darstellt. Anders gesagt: Der Werbejingle-als-Kunstwerk reflektiert seinen Inhalt (= sein Dargestelltes) in einer Weise, die es dem ästhetischen Betrachter ermöglicht, Interpretationen über die Weise, wie der Werbejingle-als-Kunstwerk über seinen Inhalt reflektiert, anzustellen.
Jede Darstellung, die kein Kunstwerk ist [also z.B. der Werbejingle], kann ein Pendant finden, das eines ist, wobei der Unterschied darin liegt, daß das Kunstwerk die Präsentationsweise benutzt, in der das Nichtkunstwerk seinen Inhalt präsentiert, um etwas im Hinblick darauf zu erreichen, wie [Hervorhebung im Original] jener Inhalt präsentiert wird. [...] Man wird inzwischen bemerken, daß dies vielleicht zu verdeutlichen hilft, in welcher Weise die Kopie eines Kunstwerkes kein eigenständiges Kunstwerk sein kann: die Kopie zeigt lediglich die Weise, wie das Kunstwerk seinen Inhalt präsentiert, ohne dies selbst in einer Weise zu zeigen, die etwas erreichen will: sie zielt auf einen Zustand reiner Transparenz, wie ein idealisierter Darsteller. Die Photographie eines Werkes kann hingegen sehr wohl ein eigenständiges Kunstwerk sein, wenn sie den Inhalt in einer Weise präsentiert, die etwas über den präsentierten Inhalt zeigt. [S. 224 f.]
Ähnlich einer Metapher ("Wenn die Struktur der Kunstwerke die Struktur der Metapher ist oder ihr sehr nahe kommt [...]", S. 264) ist das Kunstwerk seinem Inhalt gegenüber "uneigentlich". Will sagen: So wie die (sprachliche) Metapher ihren "Inhalt", also die Signifikate der einzelnen Wörter, behandelt, indem sie nämlich die Signifikate auf sich selbst zurückverweist und dadurch einen innersprachlichen Raum öffnet, der neue Konnotationen ermöglicht, genauso oder zumindest sehr ähnlich behandelt ein Kunstwerk sein Dargestelltes, indem nämlich die Weise, in der das Dargestellte gezeigt wird, auf sich selbst verweist, und in dieser Selbstbezüglichkeit ein Konnotationsraum sich auftut. Also ein Raum für Bedeutung und damit Interpretation. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Begriff des Enthymems, den Danto hier einführt.
Ein Enthymem ist ein verkürzter Syllogismus, bei dem eine Prämisse oder eine Konklusion fehlt und der einen gültigen Syllogismus ergibt, wenn, außer der Gültigkeit, die fehlende Zeile eine offenkundige Wahrheit ist oder für eine solche gehalten wird, für etwas, das voraussichtlich von jedem ohne eine besondere zusätzliche Anstrengung akzeptiert wird: eine Banalität. [S. 259]
Das tolle an diesem Begriff ist, dass er den geistigen Impuls erklärt, den eine Metapher oder allgemein "uneigentliches" Sprechen oder eben auch ein Kunstwerk beim Leser / Betrachter / Hörer auslöst. Durch das Weglassen eines zwar einfach zu ergänzenden ("banalen"), aber unbedingt notwendigen Zwischengliedes zwinge ich den Leser / Betrachter / Hörer dazu, die Lücke eigenständig zu schließen. Er muss das Mittelglied auffinden, will er am Interpretationsprozess teilhaben. Dazu ist Wissen notwendig, denn ohne ein Wissen darüber, worin denn überhaupt die Beziehung zwischen Anfangs- und Endglied bestehen könnte, also ohne einen Wissensraum, innerhalb dessen das Mittelglied auffindbar sein könnte, ist die Denkbewegung (die diesmal wirklich eine ist) nicht möglich beziehungsweise "wirkungslos" [Danto, S. 261].
Um noch einmal mein hypothetisches Werbespot-Stück zu bemühen: Es ist, selbst als Werbspot im Werbeblock gespielt, nicht von dem Auto, das im Text angepriesen wird, es ist über die Art, wie in Werbespots normalerweise Autos angepriesen werden. Es zeigt die Weise, in der normalerweise Produkte in Werbespots präsentiert werden, in einer Weise, die etwas darüber ausdrückt, wie normalerweise Produkte in Werbespots präsentiert werden. Diese Weise des Zeigens ist in oben erwähntem Sinn uneigentlich, weil sie eben nicht einfach den Inhalt, also das angepriesene Auto, zeigt, sondern vielmehr die Art, in der der Inhalt gezeigt wird. Um diesen enthymemischen Sprung nachvollziehen zu können, brauche ich als Hörer des Werbespot-Stücks ein gewisses Maß an Wissen, z.B. hier darüber, wie normalerweise Produkte in Werbung angepriesen werden.
Nach über 300 Seiten bleibt eigentlich nur eine Frage offen: Woher zum Teufel weiss ich denn nun, wann ich ein Kunstwerk vor mir habe und wann nicht?