Mittwoch, 30. April 2014

Kommentar 38 - Interlude 2 / Der andere Xenakis und der Traum von der kalten Fusion / Fetzen einer Poetik 9

Es ist ja wohl so, dass es, je älter man wird, immer selter und eigentlich kaum noch diese Momente gibt, wo man von den Socken gehauen wird, wenn man ein Stück das erste Mal hört. Meistens sitzt man rum und denkt die ganze Zeit: Kenn ich schon, weiss ich schon, laaaangweilig, Schrott. Und erinnert sich wehmütig an die Zeit, als man Stille und Umkehr das erste Mal gehört hat, oder das Requiem von Ligeti oder den Sacre oder oder. Aber dann gibt es manchmal doch wieder solche Augenblicke, wo man plötzlich wieder aus seiner Lethargie gerissen wird und denkt: Boah, ist das gut.
So mir vor einiger Zeit geschehen bei The Strychnine Lady von Jani Christou. Seltsamerweise bricht dieses Video, bei dem die Klangqualität ziemlich bescheiden ist, nach etwas mehr als neun Minuten ab. Es gibt zwar noch eine vollständige Audioversion (offensichtlich von der UA), bei der fehlt aber ein entscheidender Teil, nämlich der visuelle. So oder so gibt es also zur Zeit keine (jedenfalls im Internet zugängliche) vollständige (Audio- und Video-) Aufnahme von Strychnine Lady, was es zwar einerseits erschwert, sich ein Gesamtbild von dem Stück zu machen, andererseits jedoch der elementaren Wucht, die es schon in seiner teilweise amputierten Form erzeugt, keinen Abbruch tut.

Christou nennt das Stück, das irgendwie eine Art Violaperformancekonzert ist, einen "rituellen Traum". Der Begriff des Rituellen spielt eine zentrale Rolle in seinem Versuch, das klassische griechische Drama in seiner dionysischen Form wiederzubeleben, wobei es sich in Christous Fall keineswegs bloß um eine Beatmung mit Herzmassage handelt. Er holt den ganz großen Defibrillator raus und jagt ein paar wohl- oder auch unwohldosierte Stromstöße in die zweieinhalbtausendjährige Geschichte dieser Kunstform.
"I am concerned with the transformation of acoustical energies into music." schreibt er in seinem Text "A Credo for Music". Und beklagt den Einfluss von "aesthetics" und "decoration" auf einen Großteil nicht nur der zeitgenössischen Musik. Folgerichtig sind die Mittel, die er in Strychnine Lady und anderen Stücken seiner letzten Lebensjahre verwendet, nicht eben von der, sagen wir mal, subtilen Sorte. Was nicht heißen soll, dass er ein drorfeilerscher Hackebeilkomponist wäre. Im Gegenteil, formal und klanglich ist das alles sehr austariert, szenische Aktion, Musik und Sprache stehen in einem klaren und deshalb wirkungsvollen Verhältnis zueinander.
Los geht es mit einer Ansage, die behauptet, das Stück könne aus technischen Gründen nicht aufgeführt werden. Aus dem Publikum protestiert jemand laut. Zwei Männer treten auf, entfalten ein rotes Tuch, halten es hoch, falten es wieder zusammen und legen es auf ein Tischchen, gehen dann wieder ab. Die Musik setzt ein, der Ansager sagt noch was (wirklich schade, dass das alles auf griechisch ist, dessen ich leider unmächtig bin), dann tritt die Bratschistin auf. Auf einen Schlag verstummt das Orchester und die Bratschistin spielt lautlos irgendwelche mechanisch-virtuosen Figuren. Im folgenden "konzertanten" Teil wechseln Bratschistin und Orchester nach Ritornell-Art einander ab, schaukeln einander hoch bis zu einem ersten Höhepunkt bei 5'20'', an dem dieser Teil durch einen Tamtam-Schlag der Pianistin beendet wird. Über einem Liegeton der Streicher samt Solobratsche treten vier Männer auf, die irgendetwas murmeln (wieder griechisch). Sie gehen zum Klavier in der Mitte der Bühne, das Murmeln steigert sich zum Schreien, bis sie schließlich ins Klavier brüllen.
Das Erstaunliche an diesen ersten sechs Minuten ist, mit welcher Zwanglosigkeit Performance, Musik und rituelles Spiel einander ablösen und ineinandergreifen. Es gibt keine langen Überleitungen, "Erklärungen", Vorbehalte oder ähnliches. Im Grunde sind es alles Setzungen. Gibt kein Rumgetaste und Rumgefummele "am Klang" und "im Ton", das wäre in Christous Verständnis wohl sowieso "Dekoration". Es geht einfach los. Und dann weiter. Und weiter. Und endet nach 25 Minuten, die einem wesentlich kürzer vorkommen, was, wenn ich Claus-Steffen Mahnkopf mal paraphrasieren darf, immer ein gutes Zeichen ist.
Nicht unschuldig an der oder vielmehr entscheidend für die Möglichkeit, diese ganzen Elemente so nebeneinanderstellen zu können, ist nach meinem Dafürhalten die erste Ansage. Man könnte es ja als bloßen Gag abtun, jaja, Stück findet nicht statt, lustig, lustig, diese modernen Künstler. Aber es ist weit mehr als das. Es hebt das Stück von Anfang an auf eine sozusagen irreale Ebene. Denn eigentlich dürfte es ja gar nicht erklingen. Es erklingt aber doch. Natürlich, möchte man meinen, der ganze Aufbau steht ja schon auf der Bühne und welche Art "technischer" Probleme sollte ein stinknormales Orchester und ein paar Schauspieler davon abhalten, ein stinknormales Konzertstück aufzuführen. Indem aber seine Nichtaufführung angesagt wird, ist dem Stück schon von vorneherein in gewisser Weise ein Freiraum eröffnet, der nicht zuletzt auch mit dem Traumszenario, das diesem Stück zugrunde liegt (die Strychnine Lady entstammt einem von Christous Träumen, in dem er eine Frau sucht, die irgendwelchen Leuten Strychnin verabreicht), zusammenhängt. Ausserdem ist mit dieser Ansage schon klargestellt, dass dieses Stück performative Elemente einbezieht. Dass Musik erklingen wird, ist ja unübersehbar, schließlich sitzt da ein Haufen Musiker herum, aber mit der Ansage als erster Aktion und dem inszenierten Zwischenruf ist gleich klargestellt, dass es neben der Musik noch etwas anderes geben wird. Oder zumindest geben könnte. Diese Vorgehensweise ist einfacher, "natürlicher" und effektiver als zum Beispiel diejenige Schuberts in Point Ones, der ja mit dem anfängt, was man ohnehin erwartet (= der Musik) und erst nach und nach das Besondere (= die Gestensteuerung) einführt, was man machen kann (man kann ja grundsätzlich alles machen), was aber schwerwiegende formale Probleme aufwirft (siehe auch als unumgängliches Beispiel aus der Historie den Schlusssatz aus Beethovens Neunter; wer das formal elegant findet, der isst wahrscheinlich auch gern Fischstäbchen mit Nutella, beides für sich sehr lecker, aber zusammengenommen: naja, sagen wir mal gewöhnungsbedürftig). Wenn man sich als Zuhörer erstmal im Erwarteten eingerichtet hat, dann sorgt die natürliche Trägheit dafür, dass das Besondere immer als "Störung" und damit als erläuterungsbedürftig empfunden wird. Und etwas hinterher erklären zu müssen ist immer unelegant. Wer schonmal einen schlechten Witz erzählt hat, weiß, wovon ich spreche. (NB: Das gilt nur für aussergewöhnliche "Störungen", will sagen: einem Medienwechsel [unerwarteter Gesang in einer Symphonie, unerwartete szenische Aktionen in einem Ensemblestück usw.] und nicht so sehr für innermusikalische Brüche, bei denen es sich eigentlich genau umgekehrt verhält).
Das alles soll nun nicht heißen, dass man es so machen muss oder soll, oder dass ich wüßte, dass es so und so besser zu machen sei, nein, es geht eigentlich nur darum, ein Bewußtsein für solche Abläufe und die damit verbundenen Probleme zu entwickeln. Es ist ja bekannt, dass Beethoven sich der Schwierigkeiten mit dem Gesang in der Neunten in höchstem Maße bewußt war, dass er sich ewig lang mit dem Schlußsatz rumgequält hat. Und irgendwie gibt ihm der Erfolg ja letztendlich doch recht. Aber vielleicht ist das grundsätzliche Problem dabei gar kein rein musikalisches (obwohl es das sicherlich auch ist), sondern eher ein performatives. Ich meine, es ist ja so: Da spielt eine Dreiviertelstunde lang ein Orchester eine Symphonie und im Hintergrund steht der Chor rum und die Solisten sitzen neben dem Dirigenten und man fragt sich, was die da eigentlich machen. Natürlich ahnt man schon, dass sie irgendwann singen, aber die meiste Zeit sitzen sie eben doof in der Gegend rum. Gleiches Problem auch bei den später so beliebten Streichquartetten mit Gesang im letzten Satz. Es gibt irgendwie keine befriedigende szenische Lösung für das Problem, dass die meiste Zeit vier Leute spielen und irgendwann noch jemand dazu kommt und plötzlich singt. Eine solche "Störung" ist, jedenfalls glaube ich das, nicht überzeugend innermusikalisch zu motivieren. Es wirkt immer angepappt, draufgepfropft, willkürlich, unelegant. Natürlich muss man sehen, dass die Möglichkeit eines sozusagen szenischen Eingreifens zu diesen Zeiten einfach nicht gegeben war. Insofern sind diese Stücke fremd in ihrer Zeit. Im eigentlichen Sinne also unzeitgemäß. Während es heute ohne performative Elemente gar nicht mehr geht. Das Problem hat sich dabei aber nicht einfach eine Ebene nach oben verlagert, so als müßte man nun eben das Performative motivieren. Irgendwo ist eine Grenze für das, was noch motivationsbedürftig ist und was nicht. Dass Leute auf einer Bühne irgendetwas machen, kann gar nicht mehr motivationsbedürftig sein, sonst würde man nicht mehr anfangen können. Natürlich kann man thematisieren, warum denn nun überhaupt auf einer Bühne etwas passieren soll, warum es überhaupt eine Bühne, ein Konzert, ein Theater geben soll (irgendwann landet man dann bei Flash-Mob-Aktionen, was aber auch irgendwie nur ein Wechsel des Mediums ist und nicht zwangsläufig die Lösung formaler Probleme fördert). Nein, das Problem des Performativen ist ein anderes: Es führt, wenn man ihm denn freien Lauf läßt, zur Verdrängung des Musikalischen. Das kann man an vielen, vielen, vielen Stücken der letzten Jahre beobachten. Allzuoft wird einer szenischen Idee (= einem "Konzept") die musikalische Struktur geopfert. Ja noch mehr, die musikalische Faktur wird geradezu systematisch vernachlässigt. Diese ganzen Zufallsalgorithmen, die freie Verfügbarkeit von undenkbaren Sample-Massen, die Ersetzbarkeit von realen durch virtuelle Instrumente fördern letztlich eine zunehmende Verrohung dem Musikalischen gegenüber. Grobe instrumentatorische Fehler wie eine voll aufgedrehte verzerrte E-Gitarre im Zusammenspiel mit Flöte oder Klarinette oder Cello sind einfach nicht durch irgendwelche Konzepte wegzuerklären. Es sind und bleiben Fehler. Willkürliche musikalische Verläufe, die durch keinerlei innermusikalische Logik mehr zusammengehalten werden, sind nicht cool. Jaja, das hört sich jetzt schon so reaktionär an, als würde hier der Hindrichs ohne philophischen Schutzschild rumfuhrwerken. Meinetwegen. Dabei bin ich unbedingt für Konzepte. Ich bin für Performatives. Ich bin aber gegen den Logozentrismus des Neuen Konzeptualismus. Gegen die Erdrückung des Musikalischen zugunsten eines Automatismus der Bilder, Worte und Bewegungen. Isch möschte das nischt.
Was hat das alles nun mit Christou und was hat Christou eigentlich mit Slayer und was haben Slayer, Christou und die Neunte von Beethoven mit der "Transformation von Energien" und was zum Teufel hat die "Transformation von Energien" mit dem Neuen Konzeptualismus zu tun?
Nix, könnte man denken, das war alles nur ein Vorwand, um mal eine der neuerdings so beliebten Tiraden gegen die aktuelle Entwicklung in der Neuen Musik loszulassen. Zumal ich ja letzthin noch getönt hatte, mir gehe die Diskussion darum am Allerwertesten vorbei. Vielleicht habe ich mich ungenau ausgedrückt. Ich würde gerne die Sache an sich (als würde es so etwas geben) von der Diskussion darum trennen. Es ist ja wohl ziemlich offensichtlich, dass die Diskussion eigentlich ein schlecht getarnter Verteilungskampf ist und es Hindrichs, Drees, Hillberg und Konsorten gar nicht um eine Auseinandersetzung in der Sache geht. Deshalb ist der Austausch von Häßlichkeiten auch so fruchtlos.
Dabei täte eine wirkliche Beschäftigung mit der Sache wirklich not. Die Tatsache bleibt bestehen, dass der sogenannte Materialfortschritt an ein Ende gelangt ist. Die Tatsache bleibt bestehen, dass die Einbeziehung von performativen Aspekten eine wirkliche Chance bietet, aus der Kratzgeräuschüberbietungsorgie rauszukommen. Die Tatsache bleibt bestehen, dass es kein einfaches Zurück zu irgendetwas geben kann.
Und genau hier kommen Christou und Slayer ins Spiel. Wenn man den Fokus auf das richten würde, was Christou "akustische Energien" nennt und was (natürlich nicht nur, aber exemplarisch) bei Slayer als Umwandlung von akustischer Energie in körperliche Wirkung ins Werk gesetzt ist, dann wäre dieses ganze blödsinnige Hickhack um Material und Konzepte mit einem Mal überflüssig. Es ist inzwischen nunmal alles möglich. Aber dass alles möglich ist, heißt ja noch lange nicht, dass alles gleich gut ist. Oder dass alles gleich wünschenswert ist. Nimmt man die Richtgröße der "akustischen Energie", die in und durch Musik übertragen werden soll, dann hat man, denke ich, eine gute Ahnung davon, in welchem Verhältnis zueinander die verschiedenen Elemente eines Stückes stehen sollten. Der Begriff beinhaltet schon, dass das Akustische nicht sozusagen ein dünnes Mäntelchen für ein Konzept oder eine Mono-Idee abgeben kann. Denn genau seine Energie ist es ja, um die es geht. Zumindest, wenn man an einem einigermassen strengen Begriff von "Musik" festhalten will. Darüber kann man natürlich reden, wie eng man den Begriff fassen will. Darüber muss man sicherlich reden. Bei Christou und seiner Strychnine Lady jedenfalls kann man sehen, wie eine Musik, die sich nicht auf sich selbst zurückzieht, sich aber auch nicht völlig ins Szenische veräußert, aussehen kann. Wenn jetzt noch die Zuhörer von der Bühne ins Publikum hüpfen, dann haben wir die Musik der Zukunft.


1 Kommentar:

  1. @Erich: Danke, sehr interessant. Es ist *äußerst* spannend und erhellend, dir bei der öffentlichen Entwicklung und Reflexion deiner ästhetischen Position zuzusehen. So stelle ich mir "Komponieren heute" vor! Und zwar gerade *nicht*, weil ich einen ähnlichen Musikgeschmack habe wie du oder wir zu ähnlichen musikalischen Ergebnissen kommen würde (ich kenne deine Musik ja gar nicht), sondern, weil du in verantwortungsbewusster und doch kompromisslos subjektiver Weise deine kompositorischen Desiderate (die auch nicht die meinen sind) *formulierst*. Der Komponist muss *Ansprüche* an die Musik anmelden - auch und sowieso erst recht an die eigene. Vor allem aber an die (eigene) Musik, die *noch nicht existiert*. Genau das tust du in diesem Artikel und das finde ich gut. Like.

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