Dienstag, 12. November 2013

Kommentar 2 - Neue Musik und die Ritter der Tonalität

Es gibt wichtigere Dinge auf der Welt als Neue Musik. Andererseits bietet das Theorem der Komplexitätsreduktion die Chance, alle Dinge als gleich wichtig zu betrachten, bringen doch Gewichtungen nur wieder Unruhe in ein ansonsten stabiles (= einfaches) System des absoluten Relativismus.

Ich bin ein Fan der Neuen Musik. Das hört sich von einem Komponisten nach einer überflüssigen Aussage an, ist jedoch nicht selbstverständlich. Ich kenne eine Reihe Komponisten, die das gesamte 20. Jahrhundert gerne zurücknehmen und wieder bei Quartvorhalten anfangen würden. Ich nicht. Ich begrüße ausdrücklich sämtliche (jawoll: sämtliche) Entwicklungen des letzten Jahrhunderts. Auch solche, mit denen ich so gar nichts anfangen kann wie zum Beispiel den Serialismus oder den Spektralismus. Es gibt so großartige Musik in den 1900ern und 2000ern, angefangen bei den Orchesterstücken der zweiten Wiener (fünfe von Schönberg und dreie von Berg, erst sechs und dann nochmal fünf von Webern) bis hin zu den Klavieretüden und dem Hornkonzert von Ligeti und dem Theater der Wiederholungen von Bernhard Lang. Wer dahinter zurückwill, ist entweder nicht ganz dicht oder bösartig. Schon klar, es wurde und wird viel Quatsch gemacht, aber gehört das nicht dazu? War das früher anders? Wer das wirklich bejahen zu können glaubt, den verpflichte ich hiermit, sich sämtliche Streichquar- und -quintette von Boccherini anzuhören, dann alles von Draeseke und danach jedes kleine Fitzelchen von Pfitzner. Dann soll er mir in die Augen sehen und sagen, früher sei alles besser gewesen.
Die Sache ist ja die, dass bedeutende Auslöser für Neues in der Kunst schon immer irgendwelche zurück zu - Bewegungen waren, meist zurück zur Antike. Die früheren Zeiten waren allerdings insofern gesegnet, als sie von der Antike eigentlich kaum etwas wußten. Also haben sie sich ihre eigene Antike zurechtgezimmert, und diese Form des produktiven Missverständnisses hat die Sache dann ins Rollen gebracht.
Wir hingegen wissen zu viel. Von allen Zeiten. Die gesamte Vergangenheit ist uns jederzeit ständig in vollem Umfang präsent (jedenfalls die letzten dreihundert Jahre, auf die es hier ankommt). Es gibt kein Schlupfloch für die Phantasie. Es gibt nichts misszuverstehen. Wir kennen nicht nur die zweitrangigen Autoren der letzten dreihundert Jahre, sondern auch noch die dritt- bis siebtrangigen. Auf jedem Quadratmillimeter der Vergangenheit stehen ein Literatur-, ein Musik-, ein Kunst-, ein Geschichts-, ein Gesellschafts- und vielleicht noch ein paar Wirtschaftsgeschichts-, Wissenschaftsgeschichts- und Geschichtsgeschichtswissenschaftler.
"Zurück zur Tonalität" hört man immer mal wieder, in letzter Zeit vielleicht mal wieder etwas lauter, schreien. "Zu welcher" müßte man erstmal zurückschreien. Wenn dann noch irgendeine Antwort käme, zum Beispiel "Zur Brahms'schen", dann müßte man zurückfragen "Warum zu der". Genau das ist das Problem. Würden wir aus den letzten dreihundert Jahren nur die Brahms'sche Musik, und auch diese nur ganz fragmentarisch kennen, dann wäre ein solches Unterfangen vielleicht sogar ganz interessant. Es bliebe Raum drumherum. Man könnte Brahms total missverstehen. Und es würde (möglicherweise) etwas Neues entstehen. Es gibt aber in der wirklichen Welt keinen Raum um Brahms herum, den man irgendwie mit Leben füllen könnte. Auch nicht um irgendeinen der anderen tonalen Notanker in der Vergangenheit. Der Rückweg ist uns verbaut. Mit einem riesigen Haufen Wissen.
Das alles ficht die zurück-zur-Tonalität-Leute aber gar nicht an. Sie wollen zurück. Um jeden Preis. Dabei ist es wohl gar nicht so sehr die Einsicht, dass in der Neuen Musik etwas falsch läuft (was es tatsächlich tuten tut), die sie so überzeugt sein läßt, sondern eher das psychologische Phänomen, dass man sich umso vehementer verteidigt, je dünner die Grundlage ist, auf der man argumentiert. Hinzu kommt, dass ich bei vielen den Eindruck habe, dass sie schlicht zu faul oder sich selbst zu schade sind, sich mit der wirklichen aktuellen Produktion zu beschäftigen. Dass sie sich nicht die Mühe machen (wollen), sich ausserhalb der zugegebenermassen größtenteils öden Leuchtturmveranstaltungen Donaueschingen, Darmstadt, Wergo-Portrait-CDs und Verlagsprogramme umzusehen. Ausserhalb der brav sich selbst etikettierenden Neue-Musik-Szene. Dass sie sich eben nicht einen eigenen Gedanken machen wollen. Weil das natürlich anstrengend ist. Weil man sich natürlich mit einem ganzen Wust von unausgegorener, peinlicher, hypertropher, unterwältigender Musik auseinandersetzen muss. Manchmal sogar mit - Gott behüte - Popmusik.
Aber weil Tonalitäts-Kreationisten vor diesen Dingen einen Ekel haben, schütten sie das ganze schmutzige Kind mit dem vielleicht noch für eine zweite Wäsche zu gebrauchenden Badewasser aus und wollen die Wanne mit Kirschlikör neu füllen.
Mir keine Illusionen darüber machend, dass dieses leidige Thema ein für alle mal erschöpfend behandelt und damit aus der Welt wäre, habe ich dennoch keine Lust mehr, mich damit zu befassen.
Es führt einfach zu nichts.

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